„Blanker Terror“ – und die doppelten Maßstäbe

Krawall, Beschimpfung und Bedrohung von Abgeordneten kamen in der Vergangenheit öfter vor – und zwar von links. In diesen Fällen hielt sich die Aufregung sehr in Grenzen.

picture alliance/dpa | Christoph Soeder
Ein junger Mann rennt bei einer Protestaktion für Klimagerechtigkeit von Fridays For Future im Plenarsaal des Bundestages mit dem Protest-Banner davon, um die Aktion zu stören, 4.6.2019

Als am 18. November 2020 einige von der AfD eingeladene Besucher des Bundestages Abgeordnete störten und eine von ihnen Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) beschimpfte, der aber mit dem Fahrstuhl enteilte sahen das zahlreiche Politiker und Medien als ungeheueren und präzedenzlosen Eingriff in die Arbeit des Parlaments. SPD-Chefin Saskia Esken regte an, über ein Parteiverbot der AfD nachzudenken. Der SPD-Abgeordnete Helge Lindh erklärt: „Blanker Terror! Die AfD gehört verboten!“

Ähnlich die Medienreaktionen: „Aus Sicht der parlamentarischen Demokratie hat die Bundesrepublik möglicherweise eine der schwärzesten Wochen ihrer Geschichte erlebt“, dramatisierte die FAZ. Das ZDF und andere Medien stellten die Besucherin Rebecca Sommer, die Wirtschaftsminister Peter Altmaier unfreundliche Worte zuwarf, übrigens noch vor einiger Zeit als „Menschenrechtsaktivistin“ dar, andere fälschlicherweise als Mitarbeiterin von TE, wo sie wie beim Tagesspiegel und anderen Blättern Gastbeiträge schrieb oder interviewt wurde, so auch in der FAZ. Als „rechts“ wurde Sommer erst bezeichnet, seit sie auf Lesbos auch das Wirken der NGOs bei der illegalen Migration nach Europa aus ihrer Sicht beschreibt und kritisiert.

— Argo Nerd (@argonerd) November 20, 2020

Aber war die Störung im Bundestag am 18.11. tatsächlich präzedenzlos und „eine der schwärzesten Wochen“ in der Geschichte der bundesdeutschen Demokratie? Eine Dokumentation ohne Anspruch auf Vollständigkeit einiger Störaktionen der Vergangenheit im Bundestag und im Berliner Abgeordnetenhaus: 

  • Am 3. Juli 2020 klettern Greenpeace-Aktivisten auf das Reichstagsgebäude und enthüllen vor dem Portal ein Transparent gegen Kohlekraft.
  • Am 2. Juli 2020 werfen Aktivisten der extremistischen Klimabewegung Extinction Rebellion und der Generationen Stiftung im Bundestag während der laufenden Abstimmung über den Nachtragshaushalt Angela Merkel Flugblätter hinterher. Wer sie ins Haus gelassen hatte, blieb unklar.
  • Am 29. Januar 2020 bewerfen Anhänger der linksextremistischen Liebig-34-Hausbesetzer von der Besuchertribüne Parlamentarier im Plenarsaal des Berliner Abgeordnetenhauses mit Papierschnipseln und stören die Sitzung durch lautes Schreien. Sie bedrohen auch den Abgeordneten Marcel Luthe verbal. Auf Anfragen Luthes nach rechtlichen Konsequenzen erhielt der Abgeordnete lange keine Antwort. Am 24. November schließlich teilte die Senatsverwaltung für Inneres mit, dass Verfahren eingeleitet wurden wegen „Verdacht auf Störung der Tätigkeit eines Gesetzgebungsorgans…“, „Verdacht der versuchten Nötigung zum Nachteil des MdA Christian Buchholz…“, „Verdacht der Beleidigung zum Nachteil des MdA Marcel Luthe…“ und schließlich „Verdacht der fahrlässigen Körperverletzung zum Nachteil einer Mitarbeiterin des Sicherheitsdienstes…“.
  • Am 04. Juni 2019 lassen sich Kima-Aktivisten im Plenarsaal des Bundestages während einer Rede Wolfgang Schäubles vor dem Rednerpult zu Boden fallen, stellen sich tot und stören so den Ablauf der Veranstaltung. Schäuble reagiert nachsichtig: „Bleiben Sie ruhig liegen!“ Normalerweise können nur Abgeordnete in den Plenarsaal gelangen – und Nicht-Abgeordnete nur mit deren Hilfe.
  • Am 27. April 2007 stört eine dreizehnköpfige Besuchergruppe der jungen Linken die Sitzung des Ältestenrates, lässt Papiergeld von der Besuchertribüne herabregnen und entrollt ein Transparent mit der Aufschrift „Der deutschen Wirtschaft!“ Die Aktivisten führten Haken, Profiseile und Helme bei sich, die sie – oder Helfer aus der Fraktion? – offenbar durch die Sicherheitskontrolle am Eingang bringen konnten. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) nannte die Störung damals eine „Gratwanderung zwischen Besucherinteressen und Problemen, die immer mal auftreten können“. So etwas könne eben „unter Aufrechterhaltung liberaler Umgangsformen nicht für immer ausgeschlossen werden.“
  • Am 10. November 2014 folgen zwei radikale Israel-Gegner, die mithilfe von Abgeordneten der Linkspartei ins Bundestagsgebäude gelangten, den Linke-Abgeordneten Gregor Gysi bis auf die Toilette – und filmen ihn dabei.

In keinem der Fälle forderte jemand ein Parteienverbot für die Unterstützer der Störer, kein Medium sprach von einer Bedrohung der Demokratie.

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