Es darf ein Volk geben

Köln, wir haben ein Problem: Ein dickes Ei haben die Richter am OVG Münster dem Verfassungsschutz-Präsidenten Thomas Haldenwang ins Nest gelegt. Quasi nebenbei bringen sie einen tragenden Pfeiler der Argumentation gegen die Alternative für Deutschland zum Einsturz.

picture alliance/dpa | B. von Jutrczenka, O. Berg - Collage: TE

Bräsig. Das ist wohl die passendste Umschreibung für den Auftritt, den Thomas Haldenwang da hingelegt hat. Im erkennbar unterdimensionierten (und deshalb offen getragenen) Sakko bejubelte der Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster.

„Die Sonne lacht“, teilte Deutschlands oberster Inlands-Spion etwas unterkomplex mit. Gerade hatten die Richter einen Einspruch der AfD verworfen. Der Verfassungsschutz darf die Partei jetzt also weiter als „rechtsextremistischen Verdachtsfall“ führen, und Haldenwang darf die Blauen weiterhin auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln bespitzeln.

Ein genauer Blick in die Urteilsbegründung aus Münster hätte die allgemeine Anti-AfD-Euphorie aber wohl erheblich gedämpft.

Es ist durchaus eine kleine Bombe, die das nordrhein-westfälische OVG da in seinem Text versteckt hat. Laien lesen so etwas in der Regel nicht, es ist auch schwer verständliche und noch schwerer verdauliche Kost. Fachsprache eben, Juristendeutsch. Die allermeisten Journalisten lesen so etwas heutzutage auch nicht mehr. Das Studium von Originalquellen könnte ja die eigene Haltung beschädigen.

Bisher war ein zentrales – wenn nicht das zentrale – Argument des Kölner Amtes gegen die AfD und deren Jugendorganisation „Junge Alternative“ (JA) der sogenannte Volksbegriff. In den Verfassungsschutzberichten ist bisher deshalb auch regelmäßig so etwas zu lesen:

„Die Verlautbarungen und die Programmatik der JA sind durch einen ethnisch-kulturell geprägten Volksbegriff bestimmt. Sie verstoßen gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes und stehen im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung.“ (Nachzulesen hier.)

Aussagenlogisch war das schon immer Unsinn. Wie soll die bloße Verwendung irgendeines Volksbegriffs verfassungswidrig sein? (Ist sie tatsächlich nicht und war sie auch nie, dazu kommen wir gleich.) Allein entscheidend wäre ja, welche Folgen sich daraus ergeben – ob zum Beispiel das ethnisch-kulturelle Volk andere Rechte haben sollte als das allein durch Staatsangehörigkeit gebildete Staatsvolk.

Nun ist es keine allzu steile These, wenn man vermutet, dass einige Mitglieder von JA und AfD durchaus im Sinn haben, den Angehörigen eines (wie auch immer definierten) ethnisch-kulturellen Volkes andere Rechte zuzubilligen als dem Staatsvolk. Wenn sie das tun, äußern sie sich in der Tat gegen unsere Verfassung. Aber ohne diese Verknüpfung eines Volksbegriffs mit praktischen Konsequenzen aus diesem Volksbegriff ist der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit abwegig.

Doch der Verfassungsschutz hat bisher beharrlich behauptet, schon der ethnisch-kulturelle Volksbegriff an sich richte sich gegen das Grundgesetz. Damit haben sich die Kölner einen langen Hebel zur beliebigen Verwendung zurechtgelegt. Selbst die Idee eines „kulturellen Volksbegriffs“ soll laut BfV verfassungswidrig sein. Für Haldenwang gibt es nur noch ein Staatsvolk – Punkt, Aus, Ende:

„In Verlautbarungen der AfD und ihrer Repräsentanten kommt vielfach ein ethnisch-kulturell geprägtes Volksverständnis zum Ausdruck, welches im Widerspruch zur Offenheit des Volksbegriffs des Grundgesetzes steht. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass wiederholt zwischen Staatsbürgern deutscher und nicht deutscher Abstammung unterschieden wird.“ (Nachzulesen hier.)

Doch natürlich ist die rein beschreibende Unterscheidung zwischen verschiedenen Volksbegriffen völlig unproblematisch (und wissenschaftlich sogar notwendig). Es dürfen nur keine Ab- und Aufwertungen daraus gefolgert werden: Selbstverständlich darf es keine Staatsbürger erster und zweiter Klasse geben (so wie die NPD das einmal vorgesehen hatte). Wer einen deutschen Pass hat, ist Deutscher. Punkt. Aber ebenso selbstverständlich muss es möglich sein, davon unabhängig auch noch ethnische, kulturelle oder sonstige Einteilungen vorzunehmen (nur keine rechtlichen).

Das BfV hat das bisher – aus nachvollziehbar eigennützigen Gründen – munter vermischt. Zwar gab es aus der AfD und der JA verfassungswidrige Aussagen zum Thema. Aber es gab auch jede Menge völlig verfassungskonformer Aussagen. Das BfV erweckt hingegen den Eindruck, dass die Verwendung eines ethnisch-kulturellen Volksbegriffs immer und schon an sich verfassungswidrig sei.

Bisher sind Haldenwangs Schlapphüte damit durchgekommen. Doch jetzt schreibt das OVG Münster ausgerechnet in die Begründung zu seinem AfD-Urteil dies hinein:

„Verfassungswidrig und mit der Menschenwürde unvereinbar ist nicht die deskriptive Verwendung eines ‚ethnisch-kulturellen Volksbegriffs‘, aber dessen Verknüpfung mit einer politischen Zielsetzung, mit der die rechtliche Gleichheit aller Staatsangehörigen in Frage gestellt wird.“

Das ist eine krachende Niederlage für den Verfassungsschutz. Erstmals hat ein deutsches Gericht festgestellt, dass die rein beschreibende Verwendung des ethnisch-kulturellen Volksbegriffs sehr wohl verfassungskonform ist. Erst mit der „Verknüpfung“ wird ein Problem daraus – eben zum Beispiel dann, wenn gefordert wird, dass die Angehörigen eines „ethnisch-kulturellen Volkes“ mehr Rechte haben sollten als andere deutsche Staatsangehörige.

Das wäre dann in der Tat verfassungswidrig. Aber eben auch nur das. Der SPD-Politiker Mathias Brodkorb, ehemaliger Kultus- und Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern, sagt über das Urteil von Münster deshalb nüchtern: „Politisch kann man sogar von einem Erfolg der AfD sprechen.“ Peng.

Das Ganze ist mitnichten nur ein Thema für rechtsnationale Sektierer, und es ist auch keinesfalls nur akademisch. Im Gegenteil: Es hat ganz praktische Folgen für die Rede- und Meinungsfreiheit in Deutschland – unabhängig davon, wie man konkret inhaltlich zu der Sache steht. Und es hat erhebliche Folgen für die künftige Arbeit des BfV.

Die Gedanken sind frei. Das haben die Münsteraner Richter in einem wichtigen Punkt klargestellt. Und die Sonne über Thomas Haldenwang verdunkelt sich.

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Kommentare ( 121 )

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Christoph_Koehler
7 Monate her

Im Grunde ein alter Hut. U. a. der Verfassungsrechtler Prof. D. Murswiek hat in diversen Beiträgen immer wieder darauf hingewiesen (https://jungefreiheit.de/debatte/kommentar/2023/es-gibt-ein-volk/). Wer sich mal mit dem GG und seinem historischen Kontext auseinandergesetzt hat, weiß, dass dessen Interpretation im Stile Haldenwangs dem internationalistischen linksgrünen Zeitgeist geschuldet ist, aber nicht dem ursprünglichen Geist des GG. Es wird im GG keine Definition des ethnisch-kulturellen Grundcharakters des Staatsvolkes geliefert, weil das 1948/49 so selbstverständlich war, dass dafür schlicht keine Notwendigkeit bestand. Genauso wenig Notwendigkeit hätte man wahrscheinlich dafür gesehen, extra darauf hinzuweisen, dass der ethnisch-kulturelle Grundcharakter des Staatsvolkes des besonderen Schutzes durch den Staat… Mehr

verblichene Rose
7 Monate her

„Es darf ein Volk geben“
Naja, warum gibt es aber ganz offensichtlich in diesem Volk keinen Menschen mehr?
Also abgesehen von diesen wortgewaltigen Ausdrücken, die das Individuum gänzlich davon ausschliessen, noch Individuum sein zu dürfen?
Meiner Meinung nach gilt es daher, frei von Übergriffen zu bleiben, auf dass wir unsere ungefragte Meinung einfach sagen!
DAS ist nämlich genau das, warum wir „unser“ Grundgesetz feiern sollten.


libelle
7 Monate her

Obrigkeitshörigkeit Bezugnehmend auf ein immer wieder in Kommentaren zu lesendes Unverständnis für bestimmte Eigenarten dieses Landes und seiner Bevölkerung, die dieses Land und seine Bürger von anderen Ländern unterscheidet, eingegangen werden. Diese wird oftmals dann als Obrigkeitshörigkeit als fast in die Gene eingeschrieben, gegeißelt. Wo kommt diese Obrigkeitsfrömmigkeit her? Wer sie verstehen will muss Jahrhunderte zurückgehen, Jahrhunderte der Heimsuchungen durch z.B. Frankreichs brandschatzende Ludwige – wovon heute noch 3000 linksrheinische Burgruinen zeugen. Der muss bis zum 30jährigen Krieg zurückgehen, als Deutschland 30 Jahre von fremden Heeren verwüstet und seine Bevölkerung unter unsäglichen Gräueln DEZIMIERT wurde. Das Land war so gut wie… Mehr

Malte
7 Monate her

Vielen Dank an den Autor für die Klarstellung. Das dürfte in der Tat kaum jemandem bewusst gewesen sein

maru
7 Monate her

Warum sollte die Verwendung eines ethnisch-kulturellen Volksbegriffs auch verfassungswidrig sein?
Das wäre zugleich eine Delegitimierung ganzer Wissenschaftszweige wie Kulturwissenschaften, Ethnologie etc, für die der ethnisch-kulturelle Volksbegriff die Ausgangsbasis jedweder Studien ist.
Ausser bei der ethnisch deutschen kulturellen Zugehörigkeit ist die Verwendung dieses Volksbegriffs auch völlig unproblematisch. Selbstverständlich spricht man vom Volk der Tibeter, der Hopis etc. Einzig den Deutschen gesteht man – quasi als negatives Alleinstellungsmerkmal – dieses Recht NICHT zu. Also Identität und Heimat für alle – nur nicht für Deutsche?
Das ist inkonsequent, unlogisch und verstößt gegen die Menschenwürde.

Last edited 7 Monate her by maru
Kassandra
7 Monate her
Antworten an  maru

Die von Ihnen genannten Wissenschaftler sind seit 2015 in der Versenkung verschwunden. Offiziell klärt uns keiner über die Welten, die im Westen zusammenprallen, auf, was uns vor Unbill zu schützen hülfe.
Nein. Alle wie vom Erdboden verschluckt, die uns mit den Eigenheiten anders Sozialisierter bekannt machen könnten. Also politisch nicht gewollt – so dass der Indigene immer wieder vollkommen ungeschützt ins offene Messer laufen gelassen wird.

AlNamrood
7 Monate her

Vielleicht wäre eine Zwei-Klassen-Gesellschaft gar nicht so schlecht. Mit der Sophistik der Juristerei löst man keine reellen Probleme.
Also: Aufteilung in Bewohner und Bürger, vollumfängliche Rechte nur für letztere. Bürger wird nur, wer min. X Jahre Nettosteuerzahler war.

Orlando M.
7 Monate her

dass die rein beschreibende Verwendung des ethnisch-kulturellen Volksbegriffs sehr wohl verfassungskonform ist.“
Wenn die Sozialdemokraten selbst das infrage stellen können und die entsprechende Politik betreiben, dann haben die einfach zu viel Macht!
Zu wenig Verstand und zu viel Macht hat noch niemals etwas Gutes fürs Volk gebracht.

Tomas Kuttich
7 Monate her

Klar gibt es ein Volk, steht über jedem deutschen Gerichtsurteil: Im Namen des Volkes…

Ulrich
7 Monate her

Ich habe es nie verstanden, warum man es sich in Deutschland so schwer tut, zwischen Nationalität und Staatsangehörigkeit zu unterscheiden. Es gibt auf der Welt Vielvölkerstaaten, die damit zurechtkommen. Und auch in Schleswig gibt es eine dänische Minderheit, denen allein aufgrund ihrer Nationalität unabhängig von der 5%-Klausel ein Parlamentssitz im Landtag zusteht. Und alle Staatsangehörigen haben die gleichen Rechte und Pflichten, unabhängig davon, wo sie ihre ethnischen Wurzeln haben. Warum muss der Begriff „Volk“ sowohl für die (ethnische) Nationalität als auch für die (staatliche) Bürgerschaft stehen? Dass ich mir diese Frage stelle, hängt wohl mit meiner DDR-Sozialisierung zusammen. Denn damals… Mehr

Frank Petersen
7 Monate her

Ich habe nie verstanden warum man einen ethnisch-kulturellen Volksbegriff ablehnt (nicht mal mit unserer Vergangenheit), denn jeder, der deutscher Staatsbürger werden will, hat sicher Interesse an dem Land, den Menschen, der Kultur, der Art wie sie leben, der Sprache – und unser Leben ist nun mal basiert auf einer Leitkultur die da definiert ist aus dem Christentum (abendländisch) und dann „verfeinert“ durch die Aufklärung mit den Grundsätzen: 1.Nachdenken 2. Beweis vor Glauben, 3. Menschenrechte, 4. Meinungsvielfalt, 5. Gewaltenteilung. DAS ist das, was das „ethnisch-kulturelle“ deutsche Volk (also sozusagen die „Eingeborenen“ hierzulande) ausmacht! Wer sich nun in dieses hinein integrieren mag,… Mehr