Schiefes Rechtsverständnis, Verdrängung, Kitsch: die Grundgesetz-Feier der Berliner Elite

Vor 75 Jahren wurde das Grundgesetz verabschiedet. Der Politbetrieb machte daraus eine über weite Strecken peinliche Selbstbeweihräucherung.

IMAGO / Future Image

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet. Die Feier zum 75. Jahrestag mit Staatsakt in Berlin und Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt auch viel über die politische Elite des Landes aus – und darüber, was sie unter der Verfassung versteht. Deren Kern bilden die Artikel 1 bis 20, die Grundrechte, entworfen als Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat. Das Staatsoberhaupt wollte davon in seiner Rede nichts wissen – oder weiß tatsächlich nichts davon. In dem ihm eigenen Predigerton sprach er von „einem Unbehagen, wenn die Menschenwürde garantiert ist, und sich trotzdem viele Menschen feindlich und sogar immer unversöhnlicher gegenüberstehen“, wenn außerdem „Fake News die sozialen Medien fluten“ und trotz Diskriminierungsverbot „Frauen im Netz auf übelste Weise an den Pranger gestellt“ würden, „weil sie Frauen sind“.

Welche Frauen seiner Meinung nach angeprangert werden, „weil sie Frauen sind“, führte Steinmeier nicht weiter aus. Aber auch wenn Frauen im Netz unfaire Angriffe erdulden müssen, verstößt das nicht gegen das Diskriminierungsverbot der Verfassung. Denn das bindet wie die anderen Grundrechte den Staat, nicht die Bürger. Genauso wenig hält Artikel 1 des Grundgesetzes Bürger davon ab, miteinander politisch zu streiten. Der Artikel verbietet es dem Staat, die Würde von Bürgern anzutasten. Für das Verhältnis unter Bürgern sind Straf- und Zivilrecht zuständig.

Und Fake News strömen tatsächlich massenhaft in die Öffentlichkeit, ob nun in Gestalt der ARD-Nachricht über einen stromerzeugenden Fernseher, Karl Lauterbachs Mär von der „nebenwirkungsfreien Impfung“ oder der Correctiv-Geschichte über ein angebliches „Geheimtreffen“ zur Massendeportation in Potsdam. Aber auch hier tut sich nicht wie von Steinmeier behauptet eine Kluft zwischen Verfassung und „Verfassungswirklichkeit“ auf. Das Grundgesetz verbietet keine Falschbehauptungen. Auch nicht, wenn sie von Politikern stammen. Aber es garantiert die Meinungsfreiheit, zu der es auch gehört, sich kritisch mit derartigen Erfindungen auseinanderzusetzen.

Was bei der Grundgesetzfeier und den entsprechenden Begleitbeiträgen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk völlig fehlte: jede auch noch so kleine Selbstkritik innerhalb der politischen Elite. Dabei hätte es dafür reichlich Anlass gegeben. So lange liegt die Corona-Zeit noch nicht zurück. Zu der gehörte bekanntlich der Versuch, eine Impfpflicht durchzusetzen, die Forderung, den Handel für Ungeimpfte zu schließen (so seinerzeit die Grünen-Politikerin Katharina Schulze), und Ungeimpfte sogar ganz aus dem gesellschaftlichen Leben auszuschließen. Diese Maßnahme unter der Bezeichnung „G1“ hielt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach jedenfalls für nötig, wie die gegen den Willen der Bundesregierung freigeklagten und entschwärzten Protokolle des Robert-Koch-Instituts zeigen.

In jedem Fall handelte es sich um skandalöse Angriffe des Staates auf die grundgesetzlich geschützte Menschenwürde. An der Menschenwürde vergriffen sich die Verantwortlichen auch massiv, als sie tausende Kranke und Alte in Kliniken und Heimen von jedem Kontakt abschnitten und einsam sterben ließen, oft sogar, nachdem die gesetzlichen Grundlagen dafür schon wieder aufgehoben worden waren. Weder Steinmeier noch die auf vielen Kanälen aktive Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt, damals eine eifrige Impfpflicht-Befürworterin, streiften dieses Thema auch nur ansatzweise. Stattdessen schwärmte die Grünen-Politikerin in einem Gespräch mit „Radio eins“ von dem „wunderbaren Paragraf 1“ des Grundgesetzes.

Die Selbstbeweihräucherung und die Verdrängungskünste der Berliner Elite gingen etlichen Kommentatoren auf die Nerven. Sie waren so frei, auf X an die jüngere Vergangenheit zu erinnern.

Zu dem schiefen Verfassungsverständnis und der Feststellung, alles richtig gemacht zu haben, kam an dem Feiertag auch noch die im Politikbetrieb offenbar heute unvermeidliche Infantilität. Hier setzte sich die SPD-Bundestagsfraktion mit ihrer Grundgesetz-Geburtstagsfeier souverän an die Spitze. Eine Auswahl von Politikern wünschten dem „lieben Grundgesetz“ vor Partyhintergrund alles Gute, und zwar in einem Tonfall, als würden sie sich nicht an erwachsene Bürger richten, sondern an Achtjährige.

Merke: Die Menschenwürde ist zwar unantastbar. Aber es gibt kein Recht der Bürger auf würdige Volksvertreter.

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