Die „demokratische Front“ atomisiert Deutschland

Auf einem Wahlplakat im Landkreis Roth treten die „Demokratischen Parteien“ zum EU-Wahlkampf gegen die AfD gemeinsam an: von CSU bis Linke. Ein Vorgeschmack auf die Einheitsfront?

IMAGO / IlluPics

Da ist sie wieder: die Nationale Front. So vielleicht ein erster Gedanke, wenn man einen Blick auf ein Plakat zur EU-Parlamentswahl im Landkreis Roth schaut. Unter Figuren im Comicstil der Aufruf: „Was auch immer du wählst, wähl’ die Demokratie“. Es ist eine „gemeinsame Aktion zur Europawahl“ von CSU, Grünen, Freien Wählern, SPD, FDP und Linkspartei. Wäre „Pulse of Europe“ nicht längst vergessen, könnte man an eine Wiederauflage von „Was immer Du wählst, wähl Europa!“ denken. Das war schon damals ein Rohrkrepierer, für Medienaufgeregtheit sorgte es aber wochenlang.

Natürlich fällt nicht nur auf, dass die AfD als größte Oppositionspartei in den Umfragen fehlt. Sie richtet sich auch explizit gegen „verfassungswidrige“ rechte Akteure, die mit „Hass und Hetze“ die Gesellschaft spalteten und die Demokratie zerstörten. Erst kürzlich hatte es Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck beim Anschlag auf den slowakischen Premier Robert Fico betont: auf der einen Seite die geistigen Brandstifter, deren vergiftetes politisches Klima zum politischen Mord führt, auf der anderen Seite die Parteien des demokratischen Spektrums, die ihre Worte abwägen.

Eine ähnliche Pointe liegt im Wahlspruch selbst. „Was auch immer du wählst“ suggeriert, dass jede Wahl frei und gut ist. Doch wird diese suggerierte Wahlfreiheit sofort eingeschränkt. Denn „die Demokratie“ ist nach Lesart des Plakats keine Staatsform, sondern besteht aus den unten angeführten Parteien. Wer sie nicht wählt, wählt im Umkehrschluss schließlich nicht die Demokratie. Warum nicht gleich: Demokratie ist Einsicht in die Notwendigkeit?

Damit wird das häufig beklagte Phänomen der Austauschbarkeit der etablierten Parteien fassbarer denn je. Offenbar scheint es ihnen entweder nicht bewusst – oder egal zu sein. Dass gerade diese unheimliche Einigkeit von Parteien, die laut Wahlprogramm gar nicht zusammenpassen dürften – steht der CSU die Linkspartei programmatisch wirklich näher als die AfD? –, dennoch in einem Bündnis zusammenfinden, weckt Erinnerungen und schürt Befürchtungen. Im harmlosesten Sinne wäre dies eine Neuauflage eines selbst ernannten Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, im Extremfall ein Wink der schon vorher genannten Nationalen Front.

Doch die Neuauflage des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit Schwarz-Rot-Gold fremdelt. Im alten Flaggenstreit verteidigte die Sozialdemokratie tapfer die „Farben der Revolution“ gegen das Schwarz-Weiß-Rot der Monarchisten und Nationalisten; doch ein neuer Flaggenstreit ist längst entbrannt. Heute gilt Schwarz-Weiß-Rot als Ausweis von Reaktionären, von Rechtsextremisten und Querdenkern. Sie hat bei einigen das Ansehen der Reichskriegsflagge gewonnen, die bis dato als Ausweis der Rechtsaußen-Szene galt (und letztendlich auch nur missbraucht wird).

Denn die neuen Farben der Revolution sind längst gefunden: Dort, wo sich der Regenbogen mit Trans- und Minderheitenrechten mischt, da ist die wahre Revolution ausgebrochen. Hinter diesem Banner sammeln sich mittlerweile nicht nur Linke. Sie weht auf einem der vier Türme des Reichstages, zusammen mit dem Sternenkranz der EU. Das ist eine Einladung, denn zwei freie Türme mit Schwarz-Gold gibt es ja noch für die in naher Zukunft zu fördernden Ideologien. Deutschland ist das Land, in dem es eine Meldung wert ist, wenn Deutschlandfahnen auf Demonstrationen erlaubt sind. Aber Obacht: Eine falsche Bundesflagge kann teuer werden, da kennen die Behörden dann keinen Spaß mehr.

Zurück zur Nationalen Front. Denn deren Umrisse bleiben bezeichnenderweise auf der linken Seite vage. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) bleibt ein Zwitter. Wie mit der linken Abspaltung umgehen? Im Bundestag sorgte jüngst für Aufmerksamkeit, dass die zehn BSW-Abgeordneten der Abstimmung komplett fernblieben, als es um den WHO-Vertrag ging. Wagenknecht hatte in der Corona-Zeit eine oppositionelle Politik betrieben – sehr zum Ärger ihrer Genossen. Nun aber versagte die linke Alternative zur rechten Alternative, was letztere der Partei sogleich unter die Nase rieb. Da zeigte sich auch Friedrich Pürner enttäuscht, einer der bekanntesten Kritiker der Corona-Maßnahmen und Kandidat des BSW für das EU-Parlament. Er jedenfalls würde als möglicher Abgeordneter nicht so abstimmen.

Für zahlreiche Wähler, die mit dem BSW liebäugeln, war dies eine Nagelprobe. Und AfD-Anhänger konnten genüsslich auswalzen: gesteuerte Opposition. Tatsächlich ist das BSW als Mehrheitsbeschaffer eine anschlussfähige Option, vermutlich wird es bei den kommenden Landtagswahlen eine Rolle spielen. Dennoch: So ganz scheint auch die Wagenknecht-Partei nicht gelitten zu sein. Das hat nicht nur Thüringens Durchhaltepräsident Bodo Ramelow kürzlich noch einmal gezeigt. Sondern auch ein kleiner Landkreis wie Roth, wenn er das BSW nicht auf dem Transparent der „Demokraten“ führt.

Bezeichnend dabei auch: die Position der Freien Wähler. In Bayern hilft der Rückhalt, den sich die Partei über Jahre aufgebaut hat. Außerhalb davon ist fraglich, ob die Zentristen auf einem ähnlichen Schild mitmachen dürften. Nach dem Krawall ums Heizgesetz und die „Flugblattaffäre“ haben die Bundesparteien sehr klar gezeigt, dass sich auch die Freien Wähler in Acht nehmen sollten, wenn sie sich aufplustern wollen. Unterm Dach der Bunten Front mag es sich (noch) gut leben, aber es ist eine Flucht in den Käfig.

Freilich werden DDR-Kenner den Vergleich zu bekannten Erscheinungen im untergegangen, aber nicht überwältigten SED-Staat festmachen. Aber solche Symptome sind nicht nur Symptome des Ostblocks. Die Bundesrepublik ist trotz allem eben nicht die DDR. Systeme wie dieses hat es auch in den Staaten des Westens gegeben, ganz ohne die Mechanismen des sozialistischen Staates. Die gegenwärtige Berliner Republik ist nicht im Korsett der Diktatur, sondern im Korsett der Demokratie gewachsen.

Die gesamte italienische Nachkriegszeit bis zum Ende des Kalten Krieges zeichnet eine Mehrparteienkoalition aus. Die SED hatte eine klar dominierende Partei: Die gegenwärtige Bundesrepublik hat sie nicht und Italien hatte sie auch nicht. Honecker musste auch keine Mehrheiten suchen. Einstige italienische Ministerpräsidenten und die zukünftigen Kanzler sehr wohl. Die gegenwärtigen Verhältnisse sind also durchaus etwas „Neues“ und bezogen auf die DDR nichts „Altes“. Sie haben sich aber bereits in anderen westlichen Parteiensystemen abgespielt. Italien hat ausgezeichnet, dass es einen großen politischen Block gab, den es zu verhindern galt. Hier sind die Parallelen deutlicher.

Deutschland steuert derzeit auf eine sehr ähnliche Situation zu wie Italien in den politisch bewegten Jahren zwischen den späten 1960ern und späten 1980ern zu. „Politisch bewegt“ ist ein Euphemismus für jene bleierne Jahre, in denen die Radikalisierung der Ränder zu einer einzigartigen Eskalation der Gewalt ausartete – ebenfalls ein Phänomen, das es in der DDR nicht gab, das sich aber derzeit in zahlreichen Phänomenen andeutet. Der Extremismus ist in Deutschland zu einer gängigen politischen Anschauung geworden, inklusive nicht-ausgelebter Vernichtungsphantasien des politischen Gegners.

Anders als in der DDR, und eher wie in Italien, hat es Deutschland nämlich nicht mit einer bloßen Kollision von Staat und Opposition zu tun. Das Feld ist dafür viel zu differenziert. Die parlamentarischen Grünen haben längst die Kontrolle über den klimaextremistischen, außerparlamentarischen Arm verloren. Der Islamismus stellt einen rechtsextremen Widergänger dar, der seine eigenen Interessen verfolgt. Die AfD ist (noch) das Vehikel der Unzufriedenen, doch kann diese Unzufriedenheit nicht neutralisiert werden, solange die AfD aus der Regierungsverantwortung herausgehalten wird. Mit diesem Ausschluss wiederum drängen sich die „demokratischen Parteien“ immer mehr in eine Sackgasse, der dazu führt, dass sie zu einem amorphen Block verschmelzen, der sich der eigenen Zukunftsfähigkeit beraubt.

Von einer „Nationalen Front“ zu sprechen, ist daher nicht nur falsch – es weckt falsche Hoffnungen. Verglichen mit dem DDR-Staat ist die heutige Lage viel zu fragmentiert. Politische Partisanen betreiben ihr eigenes, unberechenbares Spiel. Die Lage ist unübersichtlicher. Denn selbst wenn die Opposition diese Nationale Front überwältigte – sie wird mit dem in Mosaiksteine zerfallenen Bild aus Politik und Gesellschaft arbeiten müssen; ist doch das Zusammenschweißen der „demokratischen Parteien“ lediglich eine Antwort auf den ausufernden politischen Partikularismus in Deutschland.

So sehr „die Demokraten“ von einer Einheit hinter ihrer eigenen Ideologie träumen: Einen Nationalstaat kann man damit nicht erhalten. Er wird auch nicht zurückkommen, wenn die AfD in der Exekutive sitzt – gerade dann würden die seit Jahren politisch besetzten Behörden einen Bürgerkrieg der Bürokratie entfachen. Das Land wäre gelähmter denn je. So paradox es klingt: Aber die Einheitsfront hinterließe ein in gesellschaftliche Atome gespaltenes Land. Es bliebe eine Welt der Partisanen. Erst danach dürfte der Ruf nach Autorität so laut werden, dass es egal sein wird, welchem Extremismus man dabei den Vortritt lässt.

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