Der Guide Michelin Deutschland kürt vor Ostern wieder die neuen Sternerestaurants. Doch mit dem Rückgriff auf Tradition kommt niemand mehr in den kulinarischen Olymp. Wie Kreativitätsexzesse den Genuss bedrohen. Von Georg Etscheit und aufgegessen.info
Noch vor Ostern will der Guide Michelin Deutschland zur Neuvergabe seiner begehrten „Sterne“ schreiten. Am 26. März blickt die heimische Gastrowelt gebannt nach Hamburg, wo heuer im Rahmen einer Gala in der altehrwürdigen Handelskammer die rote „Fressbibel“ des Jahres 2024 präsentiert wird. Der gelbe Gault & Millau, jüngst in Turbulenzen wegen eines Rechtsstreits mit dem (russischen) Lizenzinhaber, erscheint erst im Herbst. Vorab wurden vom Guide Michelin schon mal die Namen jener 15 Gasthäuser verkündet, die sich neuerdings mit einem Bib Gourmand schmücken können, jener Auszeichnung, die für eher bodenständige und vergleichsweise preiswerte Gasthäuser verliehen wird.
Wer traditionelle Küche schätzt, wird am ehesten unter diesen Adressen fündig. In der Luxuskategorie von einem bis drei Sternen ist ganz überwiegend ein internationaler Fusionstil anzutreffen, der als „kreativ“ oder „modern“ umschrieben wird. Kreativität ist das Zauberwort, wenn sich ein Koch Meriten in den Restaurantführern erwerben will. Ohne beständigen Innovationsgeist geht gar nichts. Wer nur auf höchstem Niveau und mit den besten Zutaten Rezeptklassiker „nachkocht“ und vielleicht mit dem einen oder anderen persönlichen Akzent versieht, wie es in früheren Zeiten üblich war, kann kaum damit rechnen, in den Olymp der Kochkunst aufgenommen zu werden.
Als Nonplusultra international anschlussfähiger Kochkunst gelten Kompositionen, die so kunterbunt daherkommen wie ein Legobaukasten. Alle Geschmackrichtungen, Aromaten, Texturen und Zubereitungsarten dieser Welt werden zeitgleich oder innerhalb eines Menüs präsentiert und jedes Detail soll idealerweise einer „Geschmackexplosion“ gleichkommen. Denn neben Innovation zielt die Instagramküche vor allem auf Effekt.
Die Vielfalt ist oft so verwirrend, dass auch bemühte Erklärungsversuche der Servierdamen- und herren, die mit dem kleinen Finger auf dies und jenes deutend über dem Teller herumfuchteln, keine Orientierung versprechen, denn sobald man Messer und Gabel zur Hand genommen hat, fragt man sich: War dieser Miniaturtupfen gerade eben die mit Miso aufgeständerte Mayonnaise. Und die glasigen Partikel links davon das fermentierte Irgendwasgemüse? Und handelte es sich bei dem salzigen Knusperteil wirklich um den auf der Speisekarte annoncierten Parmesancrisp? Fragen über Fragen.
Ins Langzeitgedächtnis schaffen es solche Kreativitätsexzesse trotzdem nicht. Dazu sind die Gerichte zu kompliziert, zu zerfasert, zu technisch, ganz abgesehen von den oft winzigen Mengen der einzelnen Bestandteile, die man mit der Messerspitze vom scheppernden Keramikteller abkratzen muss, um ihrer habhaft zu werden. Ganz abgesehen von den penetranten Ingredienzien des Woke-Zeitalters, die man am liebsten überhaupt nicht wahrnehmen möchte, die Nachhaltigkeitspoesie grün angehauchter Speisekarten. Jeder, der sich etwas auskennt, weiß, dass nichts so wenig nachhaltig ist wie Sternerestaurants mitsamt ihrem weitgereisten Publikum.
Bezeichnenderweise erinnert man sich meist vor allem an jene gradlinigen, auf wenige Produkte und Zubereitungsarten fokussierten Speisen, wie man sie manchmal noch in guten Gasthöfen findet, das „geile Cordon bleu“, den „genialen Kartoffelsalat“ oder das „Wahnsinns-Schweinegulasch“. Gerichte zum „reinsetzen“, von denen man am liebsten gleich noch eine weitere Portion bestellen möchte. Gourmetküche wird zur Kopfküche für ein von Essvorschriften und Umweltgeboten umzingeltes Publikum und vielen Köchen scheint es fast peinlich zu sein, dass am Ende alles eine Etage tiefer landet, im Bauch nämlich.
Was auf der Strecke bleibt, ist der Genuss.
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Das Problem ist ja, dass heute jeder meint, sich in der Küche „verwirklichen“ zu müssen. Als Gast hätte ich aber lieber unwirklich gutes Essen, als verwirklichten Klimbim. Und das wird mittlerweile zum Problem. Man findet ja kaum noch Landgasthöfe, die traditionell kochen (können). In der Regel wird gerade so okay gekocht. Man mag es aufessen, aber man denkt dabei die ganze Zeit, mit ein bisschen mehr Mühe und guten Zutaten hätte man das auch hinbekommen, ohne Kochausbildung. Zudem reicht es offenbar nicht einmal mehr dazu, einen einfachen Schokoladenpudding servieren zu können. Alles Convinience oder wer selbst Tüte nicht mehr kann,… Mehr
„Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“ (Goethe)
Im Reich der Wokeness gilt das Gegenteil.
Was die da unter dem Etikett „modern“ servieren (Ich kenne das nur aus dem Fernsehen und halte das auch für ausreichend) , ist keine Mahlzeit, sondern ein in im weitesten Sinne essbares Bilderrätsel, dessen Auflösung immer auf die Glaubenssätze der Wokeness hinausläuft.
Der Drang zum Bekenntnis zur neuen Ersatzreligion macht auch vor den Tellern nicht halt.
Im Sterne-Restaurant essen ist für mich immer wie in ein Konzert oder in eine Kunstausstellung gehen. Man hat einen schönen Abend, genießt die Atmosphäre, feiert das ausgezeichnete Handwerk und auch ein bißchen sich selber, entdeckt auf dem Teller vielleicht was neues, oder etwas, was einen an etwas erinnert: eine Reise, eine Begebenheit, ein anderer Gourmet-Tempel den es leider nicht mehr gibt. Die Gespräche drehen sich natürlich dauernd um das Menü und die Weine (ich nehme immer die volle Weinbegleitung), aber auch das Sterne-Publikum ist meistens sehr spannend zu beobachten. Ich lasse das alles als Gesamtkunstwerk auf meine Sinne wirken, ich… Mehr
Ich verkoste gern auswärts und probiere auch gern völlig abgefahrene Kochkunst. Das aufgesetzte Gedüddel ist nicht mein Ding, aber zum Glück ist übliche Begleitung „stinkreich“, wir bekommen dann eben Tisch etwas abseits angeboten, was sowieso angenehmer ist, weil man etwas Ruhe vor den ganzen „Pinguinen“ hat und ich mit kurzen Hosen in den Freßtempel darf. Naserümpfen blasierter Kellner ist mir egal. Bei Wein kenne ich ohnehin nur zwei Sorten: Schmeckt oder schmeckt nicht. Egal, ich gönne jedem seine kulinarische Vorliebe. Am besten schmecken mir aber, wenn ich mal selbst Kochlöffel schwinge, Pellkartoffeln aus eigenem Garten, mit ordentlich Butter und Knoblauch,… Mehr
Ich gehe sowieso nicht mehr auswärts essen. Die paar einheimischen Wirte am Ort häufen Immobilien an, weil sie nicht mehr wissen, wohin mit dem Geld. Die sind auf mich nicht angewiesen. Mein Geld ist auf meinem Konto besser aufgehoben. Auf italienisch und asiatisch habe ich keinen Bock mehr und Döner boykottiere ich aus Prinzip. Die „Küche des Maghreb“ im ehemaligen Dorfwirt kann mir genau so gestohlen bleiben wie Weißwursteis und Pfefferminz-Chai-Leberkäs. Mach ich mir lieber Flädlesuppe, Saitenwürschtle mit Linsen, gesottene Kartoffeln, dazu klassische Salate wie Rettich, Tomate, Ackersalat, Kopfsalat. Oder auch mal nur ne Butterseele, vielleicht noch mit frischen Kräutern… Mehr
Bekannte – leider längst verstorben – hatte ja Kraft schier unbegrenzter Geldmittel Zugang zu jeglichem Kulinargenußtempel.
Aber dann waren wir mal zum Angeln, und ich fing einen Brassen. Das ist ja wegen der vielen Gräten nicht der beliebteste Speisefisch, aber wir packten den Kameraden auf den Out-Door-Grill, sammelten Kräuter usw. und brutzelten uns was zusammen, das war viel lustiger, als das Gedöns im Fracklokal.
Sich dauernd Gräten zwischen Zähnen rauszupulen war übrigens weniger nervig als das permanente „schmeckt es?“ oder „darf ich nachschenken?“.
Ich würde es mir auch gerne leisten können, allerdings nähme ich es nie in Anspruch. Denn wenn ich so viel Knete hätte, hätte ich auch immer Zeit, mir eine Maultaschensuppe, Kartoffelpuffer, Spinat mit Spätzle oder gebratenen Leberkäs in Soße mit Kartoffelsalat zuzubereiten.
?
Warum nur vergeuden reiche Leute ihre Lebenszeit mit völlig sinnlosen Dingen?
Man isst am besten da, wo der Geldbeutel etwas enger geschnallt ist. In Frankreich, wo die Lastwagen stehen. Auf dem Land, wo die Gestehungskosten für den Wirt nicht so hoch sind und er an den Tisch kommt und fragt: wasd magst heit. In einem von mir geschätzten 2 ST Lokal in Mü wurde ich gerügt, da zu fröhlich. Wir lachten und uns ging es verdammt gut. Demütig kann ich auch bei einer Weisswurscht, Kohl und Pinkel sein, wenn es köstlich mundet. Dankbar für die Gaumenfreude. Manche sind anders. Und auch gut. Mancher dieser Sauertöpfe will ich in meinen kleinen Dorfkneipen,… Mehr
„Wer traditionelle Küche schätzt, wird am ehesten unter diesen Adressen fündig.“
Na dann haben wir vermutlich schon grundsätzlich ein Problem mit der Definition von “ gute tradtionelle Küche.“ (Kompositionen, die so kunterbunt daherkommen wie ein Legobaukasten. Alle Geschmackrichtungen, Aromaten, Texturen und Zubereitungsarten dieser Welt werden zeitgleich oder innerhalb eines Menüs präsentiert und jedes Detail soll idealerweise einer „Geschmackexplosion“ gleichkommen…. das ist es schon mal keine traditionelle Küche)
Man kann doch nicht ernsthaft den Sternezirkus mit dem vergleichen, was am Ende des Textes beschrieben wird.
Ich war einmal in so einem Restaurant, wusste es aber vorher nicht. Ich war unterwegs mit einem Kumpan und uns überfiel der Hunger. Ich wusste, dass in der Nähe so eine Art Einkaufstraße mit guten Restaurants ist. Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr dort, alles wurde vor ein paar Jahren erst neu gemacht. Wie der Name des Restaurants war weiß ich nicht mehr, es war so ein rotes Gekritzel, was französisches vermute ich, es war eigentlich nichts lesbar. Wir also dort rein, sah schon etwas speziell aus alles, aber wen interessiert das wenn man Hunger hat. Schon der Blick der… Mehr
man muss ja jetzt nicht direkt zurückgreifen auf die „Bibel“ der achziger Jahre..um Kritik am Irrsinn der Texturer und Fusionfans zu verbalisieren 🙂 Ich kenne diese Küchen von innen und es ist,wie es ist…Medien machen den Hype,die Trends werden gepushed und wer versucht,Ihnen zu widerstehen und geradlinig zu bleiben,muss schon ein Harald Wohlfahrt sein,um es zu überleben,wirtschaftlich. viel schlimmer ist,das es in D zwischen diesen abgehobenen 300€ Menu-Kaste und dem „Fastfood-Bodensatz“ die herkömmliche ausgebildete Küchenstruktur und damit der Berufsnachwuchs komplett weggebrochen ist. Wo wir in den achzigern noch Probleme hatten,freie Ausbildungstellen zu finden,gibt es heute erstens keine Azubis und zweitens… Mehr
Schöner Artikel mit sehr viel Wahrheit!
Wenn man nach einem 8 Gänge Menü erst mal in den nächstgelgenen Imbiss fahren muss da man sonst vor Hunger nicht einschlafen wird können… lief wohl doch etwas gehörig schief…
Aber diese Sterneküche ist ja auch mehr ein „Happening“ als wirklich „Essen“ gehen…
Nur macht man dies dann einmal und nie wieder… darum kämpfen so viele Sterne Restaurants auch hart ums überleben. Man geht einfach nie wieder hin 😀