Immerhin geht Buchautor Thiele soweit vorzuschlagen, dass die EU explizit darauf verzichten solle, eine „ever closer union“, also eine immer weitergehende Entmachtung der Nationalstaat zu ihrem Ziel zu erklären.
Alexander Thiele, der Autor dieses knappen Bändchens, ist ein renommierter Staatsrechtler mit einer Professur an der BSP Business & Law School Berlin. Sein Essay über die EU und ihre Zukunft ist durch eine starke Selbstbeschränkung geprägt. Thiele geht es wirklich nur um die verfassungsrechtlichen Aspekte der Debatte. Andere Fragen werden in der Einleitung kurz gestreift, wie etwa das Migrationsproblem, das die EU nicht in den Griff bekommt, oder die fragile Währungsunion, tauchen dann aber im Weiteren kaum noch auf. Diese Selbstbeschränkung ist die Stärke des Buches, aber ein Stück weit auch seine Schwäche, denn dass man Verfassungsfragen so stark von anderen Problemfeldern trennen kann, wie das hier versucht wird, ist nicht ausgemacht.
Im ersten Teil des Buches setzt sich der Autor vor allem mit unterschiedlichen Konzepten für die Erneuerung der EU auseinander, mit den Visionen des Titels. Joschka Fischer, der Bundeskanzler und Emmanuel Macron kommen hier jeweils zu Wort, aber auch andere Vorschläge. Joschka Fischer kommt in der Kritik Thieles noch leidlich gut weg, Jedenfalls konzediert er ihm, dass er sich intensiver mit der Problematik beschäftigt hat, wobei Thiele hier auf eine Rede aus dem Jahre 2000 zurückgreift, als die Herausforderungen noch ganz andere waren als heute. Aber per saldo glaubt der Autor bei Fischer doch das Fehlen einer „normativen Leitidee“ feststellen zu können; die einzelnen Ideen Fischers zur Reform der Verfassung der Union bildeten kein systematisches Ganze, das auf einer solchen Leitidee basiere.
Skeptisch sieht Thiele vor allem den Vorschlag, in fast allen wichtigen Fragen in der EU das Prinzip der qualifizierten Mehrheitsentscheidung einzuführen. Zurecht weist er darauf hin, dass das dann leicht zu einer Revolte der überstimmten Minderheit führen könne, die die Mehrheitsbeschlüsse dann einfach sabotieren würde, egal ob das rechtlich möglich ist oder nicht, so wie es schon in den Anfangsjahren der EWG de Gaulle mit seiner Politik des leeren Stuhls tat. Zu harsch erscheint hingegen Thieles Kritik an Fischers Vorschlag, dem jetzigen EU-Parlament eine zweite Kammer an die Seite zu stellen, die aus delegierten Abgeordneten der nationalen Parlamente besteht, um die Anbindung der EU-Politik an die jeweilige nationale Willensbildung zu stärken. Dieser Vorschlag, auch wenn er mit Sicherheit nie umgesetzt werden wird, war eigentlich gut durchdacht.
Europavision von Macron
Kürzer setzt sich Thiele mit der Europavision von Macron auseinander, die er für viel zu vage und unbestimmt hält, auch zu sehr vom Irrglauben bestimmt, man könne Probleme dem politischen Streit entziehen, indem man sie auf die europäische Ebene verlagert und dann rein technokratisch löst – eine für Macron den Erz-Technokraten natürlich typische Haltung. Außerdem geht es bei Macron – was Thiele freilich nur höflich andeutet – in seiner Europapolitik natürlich immer auch um nationale französische Interessen. Er sieht sein Land als eine Macht mit globalem Einfluss. Dazu braucht man aber einen Unterbau und sehr viel mehr Geld als der französische Steuerzahler aufbringen kann, daher dann die Begeisterung für mehr europäische „Souveränität“ und eine selektive Zentralisierung der EU, die nicht zuletzt deutsche fiskalische Ressourcen noch stärker als bisher für die EU und für französische Interessen mobilisieren soll.
Grundsätzlich ist das Bild, das Thiele von der EU zeichnet, eher positiv, trotz aller Probleme, wobei der Vergleich mit dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, den er gelegentlich vornimmt, natürlich ein eher ambivalentes Kompliment ist. Ein fundamentales Legitimitätsdefizit kann er nicht erkennen, denn Umfragen zeigten ja, dass die Mehrheit der Unionsbürger ein positives Verhältnis zur EU habe. Das ist dann doch eine eher oberflächliche Analyse, zumal man solche Umfragen mit Vorsicht betrachten muss. Bei der letzten französischen Präsidentschaftswahl erhielten die drei Kandidaten (Le Pen, Mélenchon und Zemmour), die die EU eher ablehnten und zugleich versuchten, an alte Animositäten gegen Deutschland zu appellieren, im ersten Wahlgang zusammen eine Mehrheit und auch in anderen alten Kernländern der EU wie den Niederlanden und Deutschland können sich EU-skeptische Parteien wie die PVV in den Haag oder die AfD und jetzt auch das BSW in Deutschland auf immer mehr Zulauf stützen.
Thiele räumt aber ein, dass die EU ein Demokratiedefizit hat, vor allem deshalb, weil die Kompetenzen Brüssels und der Nationalstaaten sich in vielen Bereichen überlagern, und der Wähler daher gar nicht in der Lage ist, zu erkennen, wer für eine bestimmte politische Entscheidung wirklich verantwortlich ist. Also kann er durch die Beteiligung an Wahlen auch kaum eine Änderung des politischen Kurses bewirken, dazu sind die Entscheidungsprozesse viel zu intransparent. Diese Feststellung ist sicher richtig, übersieht aber ein weiteres Problem. In einer Demokratie gibt es im Parlament normalerweise eine Opposition, die eine Art „government in waiting“ darstellt. Wer mit einer vermeintlich schlechten Regierung unzufrieden ist, stimmt dann eben für die Opposition.
Diese Option gibt es auf EU-Ebene nicht, schon deshalb, weil die Kommission sich zwar mittlerweile anders als noch vor, sagen wir 15 Jahren, ganz wie eine echte Regierung aufführt, aber so nicht gewählt oder eingesetzt wird. Die einzelnen Mitglieder der Kommission werden ja von den Nationalstaaten nominiert; darauf hat man dann als Bürger eines anderen Landes gar keinen Einfluss. Im Parlament stützt sich die Kommission meist auf eine lagerübergreifende, wenn auch oft fragile Koalition aller größeren EU-freundlichen Parteien; nur die „Radikalen“ links und rechts dürfen meist nicht wirklich mitspielen, wobei die europäischen „Konservativen und Reformer“, der u. a. die Partei Melonis (die Fratelli), und die Schwedendemokraten angehören, schon noch gelegentlich für die Konstruktion von Mehrheiten herangezogen werden. Aber die Gegner einer weiteren Zentralisierung der EU werden im Parlament kaum je eine Mehrheit bekommen. Daher ändert der Ausgang von EU-Wahlen an dem Kurs, der in Brüssel verfolgt wird, meist nicht sehr viel. Die Wahlen simulieren also eher Demokratie, ohne den Ansprüchen an eine echte Demokratie zu genügen, was ja in der Vergangenheit auch das deutsche Verfassungsgericht in helleren Momenten gelegentlich bemängelt hat.
Das Ziel einer „ever closer union“ sollte aufgegeben werden
Immerhin geht Thiele soweit vorzuschlagen, dass die EU explizit darauf verzichten solle, eine „ever closer union“, also eine immer weitergehende Entmachtung der Nationalstaat zu ihrem Ziel zu erklären, wie das bis jetzt der Fall ist, denn auf diese Weise ziehe die Kommission immer mehr Kompetenzen an sich, auch in Bereichen, wo nicht evident sei, dass mehr Zentralisierung wirkliche Vorteile bringt. Ja Thiele tritt sogar für eine Rückübertragung von Kompetenzen an die Nationalstaaten ein. Nur, was Thiele will, setzt eigentlich eine Reform der europäischen Verträge voraus. Dafür eine einstimmige Unterstützung zu gewinnen, dürfte sehr schwierig sein. Alternativ – Thiele macht den Vorschlag selbst – könnte man natürlich für die Kommission und besonders ihre Leitung gezielt Personen aussuchen, die weniger machtbesessen, maßlos und zentralisierungsfreudig sind als heute Frau von der Leyen und ihr Team. Dabei wird aber übersehen, dass letztlich jede Kommission, wenn sie einmal im Amt ist, versuchen wird, ihr Gewicht in den schwierigen Aushandlungsprozessen zwischen Brüssel und den Nationalstaaten zu stärken. Das bringt einfach die Rolle als EU-Kommissar respektive die Eigenlogik, die das Verhalten konkurrierender Machtzentren in einem politischen System bestimmt, mit sich.
Erst recht wird sich im Parlament fast immer eine Mehrheit für eine eher zentralistische Politik finden, da man in den nationalen Parlamenten Rivalen sieht, die geschwächt werden müssen, um sich selbst wichtiger fühlen zu können. Die meisten Abgeordneten werden der Ansicht sein, dass in den nationalen Parlamenten ohnehin nur engstirnige „Kleinstaaterei” dominiere. Eine solche Überzeugung ist für Europapolitiker, die ein Mandat erlangen, ja fast eine Art Karrierevoraussetzung.
Kritik an dem Ziel der „ever closer union“ ist gerade im EU-Parlament bestenfalls an den politischen Rändern zu finden. An dritter Stelle wirkt auch der EuGH an dem Prozess der Verschiebung von Kompetenzen nach Brüssel mit. Thiele spielt gerade das freilich herunter und tritt sogar dafür ein, dass in Zukunft Unionsbürger den EuGH stärker als bisher anrufen können, um ihre Rechte zu wahren, was dieser natürlich nutzen wird, um noch interventionistischer die Nationalstaaten seiner Kontrolle zu unterwerfen. Das ignoriert Thiele oder begrüßt es sogar.
Gravierender ist aber ein anderer Punkt: Mit der Schaffung der Währungsgemeinschaft des Euro wurde die immer weitere Zentralisierung der EU bei schrittweiser Entmachtung der Nationalstaaten eigentlich alternativlos. Zu einer nachhaltig stabilen Währung kann der Euro nur werden, wenn die EU weitgehend die Verantwortung für die sozialen Sicherungssysteme an sich zieht und dann auch direkten Zugriff auf die dafür notwendigen Steuern und Beiträge hat, um diese Systeme zu finanzieren. Die Schöpfer des Euro, allen voran Delors, der damalige Kommissionspräsident dachten sicherlich damals schon in diese Richtung und wollten Sachzwänge schaffen, die es möglich machen sollten, einen starken europäischen Staat zu schaffen, ohne auf die Zustimmung der Wähler in den Nationalstaaten zu diesem Projekt wirklich angewiesen zu sein.
Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass dieser Plan aufgeht. Länder wie Frankreich oder Italien werden sich in ihrer Sozial- und Wirtschaftspolitik nie wirklich der Kontrolle Brüssels unterwerfen, und wollen im Grunde genommen eine weitgehende Haftungsgemeinschaft in der Eurozone, ohne dass diese an irgendwelche einschränkenden Bedingungen etwa in Gestalt von Reformauflagen geknüpft ist. Das kann eigentlich nicht gut gehen, aber man macht es eben dennoch. Somit befindet sich die EU in einem eigenartigen konstitutionellen Niemandsland; ein Zurück zur EU der 1980er und 90er Jahre, die sich viel mehr auf begrenzte Kernaufgaben wie die Organisation des Binnenmarktes und die Handelspolitik konzentrierte, kann es nicht mehr geben, aber der Weg zur Schaffung eines echten europäischen Staates ist eigentlich auch verbaut. Stefan Auer (European disunion: democracy, sovereignty and the politics of emergency, London 2022), hat auf dieses Dilemma in seinen exzellenten Analysen aufmerksam gemacht. Nach Auer entzieht die EU den Nationalstaaten in vielen Bereichen immer mehr ihre Handlungsfähigkeit, ist aber selbst erst recht nicht dazu in der Lage, die drängenden Probleme zu lösen. Die Migrationspolitik ist dafür nur eines von vielen Beispielen. Immerhin, Thiele rezipiert und zitiert Auers Buch, ist aber sichtlich bemüht, die Problematik zu entdramatisieren.
Diese kühle Distanz des Juristen zu den Untiefen des politischen Alltags mag beruhigend sein, aber ein wenig wirkt Thiele wie jene kakanischen Verfassungsrechtler, die vor 1914 das in sich fragile und widersprüchliche Gebilde der Habsburgermonarchie (Österreich-Ungarn), die immerhin trotz ihrer Defizite kraft der Kunst des sich Durchwurstelns, die auch in Brüssel hoch entwickelt ist, bis zum Weltkrieg überlebte, loyal verteidigten und vorsichtig zu reformieren suchten. Wenn die Probleme allzu groß wurden, konnte man damals in Wien freilich seine Zuflucht zur Maxime nehmen: „Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst“. Ob wir diese Option heute noch haben, sei dahingestellt, denn wenn man sich die gegenwärtige Lage Europas und auch der EU als politisches System ansieht, noch mehr aber, wenn man sich das Brüsseler Personal ansieht – allen voran, die zur Wiederwahl anstehende Kommissionspräsidentin v. d. Leyen, – kann einem das Lachen dann doch ziemlich schnell vergehen.
Alexander Thiele, Defekte Visionen: Eine Intervention zur Zukunft der Europäischen Union, Frankfurt/New York, 2024, 155 S.
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> Er sieht sein Land als eine Macht mit globalem Einfluss.
Ein afrikanisches Land nach dem anderen wirft die Froschfressenden:innen raus, es ist eher eine globale Lachnummer. Nach China, USA, Indien, Japan, Russland, Indonesien, Deutschland, Brasilien höchstens am Ende der Top Ten der Weltwirtschaft.
Für solchen Unfug soll die sog. „EU“ zentralisieren und Kohle abzocken? Dann ist das Gebilde längst tot.
Na ja, „die zur Wiederwahl anstehende Kommissionspräsidentin v. d. Leyen“ wird nicht gewählt, sie wird vom Europäischen Rat, also von den Regierungschefs bestimmt. Ich erinnere da an das unsägliche Trauerspiel um den „Kandidaten“ des Eu-Parlaments, Herrn Weber. Frau von der Leyen wurde schließlich wie ein Jack-in-the-Box allem zum Trotz installiert, sicher auch um dem Parlament zu zeigen, wer das Sagen hat. Das EU-Parlament hatte nur die Wahl, die überraschend präsentierte Frau von der Leyen gegen ihren eigenen Kandidaten zu akzeptieren, tolle Demokratie. Das ist eigentlich der Zeitpunkt gewesen, an dem sich die Abgeordneten selbst entbehrlich gemacht und nur noch als… Mehr
Könnte sich die EU nicht am US-System orientieren? Ich sehe in D die Entmachtung und Verlagerung immer weiter nach oben. Zuletzt hat es m. E. die Pandemie gezeigt. Die „Bekämpfung “ war Ländersache, wurde aber aufgrund des Notstands mit dem Mäntelchen Einigung der Ministerpräsidenten unter Leitung des Bundes nach oben verlagert. Ich halte nichts davon, die Entscheidungen vom Betroffenen weg hin zu irgendwelche fernen Entscheidungsträgern zu verlagern. Der Entscheidungsträger lernt nur, wenn er die Folgen seiner Entscheidungen am eigen Leib erfährt. Und das ist nach der Verlagerung nicht mehr gegeben. Die Verträge der EU sind längst hinfällig, weil sie gebrochen… Mehr