Die Korruptionsfälle bei Siemens müssen aufgeklärt werden, gewiss. Bedenklich ist aber, wie möglicherweise rechtsstaatliche Prinzipien in die Münchner Schotterebene gestampft werden. Mit der internen Untersuchung beauftragt ist die amerikanische Kanzlei Debevoise & Plimpton. Es ist in den USA üblich, dass Unternehmen Kanzleien, die der Wertpapieraufsicht SEC nahestehen, mit der Untersuchung von Verstößen beauftragen, um dieser Behörde die aufwendigen Verfahren zu ersparen und sich damit selbst reinzuwaschen. Deutschland kennt dieses Vorgehen nicht. Staatsanwaltschaftliche Untersuchungen müssen auf eine klare Fragestellung eingeengt werden – die SEC-Untersuchungen aber sollen „umfassend“ auch neue vermeintliche Verstöße quasi nebenbei aufdecken. In Diensten von Debevoise & Plimpton stehen frühere US-Staatsanwälte, die so vorgehen: Die Münchner Manager werden auf Englisch verhört und mit „umfassenden“ Ermittlungsergebnissen konfrontiert. Notfalls kann ein Dolmetscher zugezogen werden (lesen Sie über diese Praxis der Siemens-Jury).
Solange all dies auf privatrechtlicher Ebene geschieht, mag das gerade noch angehen. Aber es ist offenbar so, dass die SEC die Befragungsergebnisse erhalten soll und dass neuerdings auch US-Beamte an der Untersuchung in München teilnehmen. In bester US-Tradition versprechen die US-Ermittler Straffreiheit – so wird drüben erfolgreich Recht gefunden. Anschließend landen die Unterlagen bei der Münchner Staatsanwaltschaft, die nach deutscher Rechtstradition solche Amnestien nicht gewähren darf, sondern ermitteln muss. Aus dem Befragten wird so ein Beschuldigter, der sich selbst belastet hat. Die willkürliche Kombination unterschiedlicher Rechtstraditionen wird so zum unkontrollierbaren Überraschungs-Ei. Und Siemens ist kein Einzelfall. Immer wieder werden deutsche Unternehmen gezwungen, sich US-Rechtspraktiken zu unterwerfen. So hat Daimler seinerzeit zur Befragung Manager frei Haus nach New York geschickt – darin sahen viele einen Verstoß gegen Rechtshilfeabkommen und Auslieferungsverbote. Bei Siemens kommen die US-Behörden wohl gleich ins Haus.
Dieser Fall zeigt ganz brutal, wie US-Rechtsprinzipien global durchgesetzt und nationale Rechtsprinzipien sowie Institutionen ausgehebelt werden. Während in Europa viel durch staatliche Regulierung genormt ist, müssen in der US-Rechtswelt Schadensersatzansprüche, Entlohnung oder Arbeitssicherheit einzelvertraglich geregelt werden – und überwölben neuerdings per Marktmacht andere Wege. Scheinbar harmlos sind „Disclaimer“, die zweizeilige E-Mails zu seitenlangen Episteln aufblasen: Im kampfbetonten US-Rechtssystem muss jede Art von Haftung gegenüber Dritten ausgeschlossen werden. Absicherung wird zum Entschuldigungsprinzip, hinter dem Verantwortung versteckt wird. So rechtfertigen Bankmanager ihr Kontrollversagen damit, dass die Schrottpapiere der US-Immobilienkrise ein Triple-AAA-Rating der (US-)Ratingagenturen trugen – auch eine Art Disclaimer, der von Verantwortung ablenkt.
Wenn im Herbst das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz den Bundestag passiert, werden bewährte Prinzipien des Handelsgesetzbuchs durch US-Regelungen ersetzt (WirtschaftsWoche 27/2008). Wie der Fall Enron und die aktuelle Finanzmarktkrise zeigen, sind diese Regeln aber keineswegs überlegen – sondern in der Umstellung für viele deutsche Unternehmen nachteilig.
Nun haben wir in Deutschland eine Bundes- und 16 Landesjustizministerinnen und -minister. Sie beschäftigen sich derzeit lieber mit dem Verkaufsverbot von Überraschungs-Eiern. Elementare Änderungen des Wirtschafts- und Strafrechts sind ihnen aber entgangen.
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