Ein Epochenroman: „Die weiße Garde“ von Michail Bulgakow

In seinem ersten Roman „Die weiße Garde“ beschreibt Bulgakow die Wirren in Kiew in den Wochen nach der Ermordung des Zaren. Jeder gegen jeden hieß es in der „Großen Stadt“. Ein Roman, den man auch als Gleichnis über Russland liest, eine erzählerische Paraphrase der Apokalypse des Johannes

Krieg wütet in der Ukraine. Ein mörderischer Krieg. Nein, wir reden nicht von dem, was dort gerade geschieht, sondern blenden gut hundert Jahre zurück: Ukrainische Nationalisten kämpfen gegen ukrainische Nationalisten, Russen gegen Ukrainer, Ukrainer gegen Ukrainer, Russen gegen Russen, Kosaken gegen Kosaken. Neben der Roten Armee existiert die Armee des linken Nationalisten Symon Petljura, die anarchistischen Verbände Nestor Machnos, eine Grüne Armee anarchistischer Bauern, die Weiße Armee der Monarchisten und der Bürgerlichen, und schließlich mischen auch die Polen mit. Irgendwo dazwischen für kurze Zeit die Deutschen, eifrige Engländer, emsige Amerikaner und vom Ersten Weltkrieg erschöpfte Franzosen. Es ist weit mehr als ein Bürgerkrieg, der da tobt. Zehn Machtwechsel erlebt der junge Michail Bulgakow zwischen Typhusanfällen und Morphiumdelirien in Kiew mit. Der junge Arzt aus gutem Hause will den Untergang seiner Welt verstehen, den gewalttätigen Einbruch der Geschichte in sein Leben.

In der Skizze „Kiew – die Stadt“ schreibt Bulgakow über diese Umbrüche: „Es waren legendäre Zeiten, als in den Gärten der schönsten Stadt unserer Heimat eine sorglose junge Generation lebte. In den Herzen dieser Generation wurde damals die Zuversicht geboren, dass das ganze Leben so still und geruhsam verlaufen würde […] doch es kam anders. Die legendären Zeiten rissen ab, und plötzlich, drohend rückte die Geschichte heran.“ Bulgakow terminiert diesen Umbruch auf den 2.  März 1917, zehn Uhr, als ein Telegramm des Duma-Abgeordneten Bublikow die Kiewer über den Sturz des Zaren informierte. Und so beginnt der junge Autor seinen ersten Roman „Die weiße Garde“ mit dem Satz: „Ein gewaltiges Jahr, ein furchtbares Jahr war nach Christus das Jahr 1918, nach der Revolution das Jahr 2.“ Mit einem so mächtigen Satz eröffnet man einen Epochenroman.

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Als der junge Mann, der nach der Niederlage des Weiße-Armee-Generals Denikin eine Weile in Wladikawkas als Arzt praktiziert hat, 1921 nach Moskau kommt, besitzt er zwar einige Erfahrung als Dramatiker an der Provinzbühne von Wladikawkas, aber kein Geld. Allerdings den festen Willen, diesen Roman über den epochalen Zusammenbruch zu verfassen. Er ist sich sicher: „An diesem grandiosen Denkmal der Jahre 1917 bis 1920 werden sich Verleger eine goldene Nase verdienen“ und sieht sich in der Nachfolge von Tolstois „Krieg und Frieden“.

Doch zunächst muss er den Roman erst einmal schreiben – und weil er kein Geld besitzt, hält er sich mühsam mit Texten für Zeitschriften über Wasser. In jeder freien Minute arbeitet er indes am Roman. Einen Reflex davon findet man in dem späteren grandiosen Werk „Der Meister und Margarita“.

Große Vorbilder

Drei Romane haben den angehenden Schriftsteller so beeindruckt, dass sie Vorbildfunktion einnehmen, in narrativer Hinsicht Leo Tolstois „Krieg und Frieden“, im philosophischen Anspruch Fjodor Dostojewskis seherischer Roman „Die Dämonen“ (in neuerer Übersetzung auch „Böse Geister“) und in ästhetischer Weise Andrej Belyjs Roman „Petersburg“.

Wenn Tolstoi seinen berühmten Roman „Anna Karenina“ mit den Worten beginnt: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise“, so ist das Unglück für die Familie Turbin die Zeit, die aus den Fugen ist, wie Hamlet sagen würde. Im Mittelpunkt der Handlung stehen diese Turbins, genauer die Kinder. Der Vater, ein Universitätsprofessor, war schon Jahre zuvor gestorben, die Mutter folgte ihm im Mai des gewaltigen Jahres 1918 ins Grab. Nun sitzen die Kinder zur Weihnachtszeit in der Wohnung, in der die Eltern fehlen: der älteste Sohn Alexej, der Arzt, Bulgakows literarisches Alter Ego, ist 27 Jahre alt, die Tochter Jelena 25 und mit dem Stabshauptmann Thalberg, einem Balten, verheiratet, der jüngste, Nikolka, der Fahnenjunker, zählt 17 Jahre.

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Bulgakow dient ein Zitat aus Puschkins Roman „Die Hauptmannstochter“ als Motto, ein Roman, der ebenfalls in einer Zeit der Wirren in Russland und der Ukraine spielt, nämlich zur Zeit des Bauernaufstands unter Jemeljan Pugatschow im 18.  Jahrhundert. Das Puschkin-Zitat endet mit den Worten: „Da braut sich ganz schön was zusammen.“ Mit diesem Satz fallen wir direkt in die Stimmung des Romans. Die drei Kinder sitzen in äußerst gespannter Atmosphäre an diesem Dezemberabend 1918 in ihrer Wohnung am Alexej-Steig in Kiew, warten auf den Ehemann Jelenas und rätseln beim Geschützdonner, wie nahe der Feind der Großen Stadt bereits gekommen ist. Der Alexej-Steig heißt in Wahrheit Andreas-Steig, wo die Bulgakows tatsächlich wohnten.

In 50 Tagen kondensierte Geschichte

Die Topografie des Romans stellt eine Mischung zwischen Realität und Verfremdung dar, so wie Kiew im Roman nie beim Namen, sondern immer die Große Stadt genannt wird, um sie ins Überreale, ins Mythische zu heben. Denn was in diesen 50 Tagen über Kiew erzählt wird, kann und soll man auch als Gleichnis für Russland lesen.

In der Großen Stadt herrscht unter deutschem Patronat noch der „Hetman“ Pawlo Skoropadskyj, von Nordosten nähern sich die Roten, im Süden kämpfen die Roten gegen die Weißen, die Bolschewisten gegen die Monarchisten zu denen die Bürgerlichen, die Konstitutionellen Demokraten, gestoßen sind. In Richtung Kiew brechen die Truppen des linken Nationalisten Symon Petljura durch, die eine blutige Spur der an Juden begangenen Verbrechen hinterlassen. Im Pariser Exil wird Petljura 1926 deshalb von dem Ukrainer und jüdischen Anarchisten Scholom Schwartzbard auf dem Boulevard Saint-Michel erschossen.

Für Bulgakow, dessen Roman eine erzählerische Paraphrase der Apokalypse des Johannes darstellt, ist Petljura der Antichrist, denn das Unheil nimmt seinen Lauf, als man Petljura, der in der Zelle  666 in Kiew einsitzt, freilässt. In dieser Nacht voller Bangen stößt zu der kaisertreuen Familie der Oberleutnant Myschlajewski, ein Freund Alexejs, und Thalberg verabschiedet sich von Jelena, er lässt sie einfach zurück und flieht.

Die Turbins trauen Skoropadskyj nicht, sie haben nur galligen Spott übrig für die Versuche, mit aller Gewalt die ukrainische Sprache einzuführen, und fühlen sich weiterhin als Bürger des Russischen Reiches, das doch zusammengebrochen ist. Skoropadskyj ruft die Fahnenjunker, junge Leute wie Nikolka, Offiziere wie Myschlajewski und den Militärarzt Alexej Turbin zur Verteidigung von Kiew. Doch während die jungen Männer in den Kampf ziehen, flieht Skoropadskyj samt seiner Entourage heimlich mit den sich zurückziehenden deutschen Verbänden und überlässt die isoliert kämpfenden Truppen ihrem Schicksal. Die kampferprobten Männer Petljuras schlachten einen nach dem anderen ab.

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Doch in diesem Zusammenbruch existieren auch wahre Helden, wie der Oberst Nay-Tours, der seinen Fahnenjunkern die Flucht befiehlt und ihr Türmen mit dem schweren Maschinengewehr im Straßenkampf deckt, bis er selbst im Kugelhagel von Petljuras Leuten stirbt. So rettet Nay-Tours auch Nikolkas Leben. Petljura kann sich letztlich in der Stadt nicht halten, er wird von der Roten Armee vertrieben. So endet der Roman mit der Flucht Petljuras.

Fast filmische Montagetechnik

Selbst wenn man die verschiedenen Handlungsstränge schilderte, würde man noch allzu wenig über den Roman sagen. Erzählerische Technik und Stil befinden sich bereits auf höchstem Niveau. Die fast filmische Montagetechnik spielt virtuos mit der Spannung, parodistische, komödiantische, tragische und epische Passagen werden unter Gebrauch aller sprachlichen Mittel amalgamiert.

Bulgakow erzielt die Hauptspannung jedoch durch die Intensität der Schilderung. Manche Sätze werden von Alliterationen getrieben, andere von Assonanzen, wieder andere von einem ungewohnten Satzbau, wieder andere von ungewohnten Bildern, wenn beispielsweise die Nacht sich nicht vertieft, sondern Bulgakow schreibt: „Die Nacht spross“, wie eben eine Pflanze sprießt, eine Nachtpflanze, die erst in der Dunkelheit völlig aufgeht.

Man hat Bulgakow einen großen Satiriker genannt, doch wird man ihm damit nicht gerecht, denn was satirisch wirkt, ist nur die genaue Darstellung des Irrsinns von Ideologien, die in das Leben der Menschen einbrechen und aus ihnen Marionetten machen. In der Ukraine ist dieser Roman, der auch seine Abneigung gegenüber dem ukrainischen Nationalismus nicht verhehlt, umstritten. Er lässt die Komplexität der Konflikte erahnen, die nichts von ihrer Brisanz eingebüßt hat.

Doch zuallererst und überhaupt ist in Michail Bulgakows Werk „Die weiße Garde“, ein faszinierender, beeindruckender Roman zu entdecken. Aber man muss ihn unbedingt in der Übersetzung von Alexander Nitzberg lesen. Nitzberg glättet nicht wie andere Übersetzer die sprachlichen Eigenheiten, sondern versucht, die zuweilen seltsamen, ästhetisch gewagten Wendungen adäquat ins Deutsche zu bringen. Erst da habe ich begriffen, dass Bulgakows Erstling der Rang eines Klassikers der Moderne zukommt.

Michail Bulgakow (1891–1940) studierte Medizin und diente von 1919 bis 1921 in verschiedenen Armeen. Ende 1921 zog er nach Moskau und begann zu schreiben. Der zum Teil autobiografische Roman „Die weiße Garde“ erschien 1924. Ab 1930 wurde Bulgakow nicht mehr veröffentlicht. Sein Meisterwerk, „Der Meister und Margarita“, erschien erst 1966.

Michail Bulgakow, Die weiße Garde. Roman. Galiani Berlin, 544 Seiten, Hardcover mit Leinenrücken, 30,00 €.


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Kommentare ( 1 )

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doktorcharlyspechtgesicht
1 Jahr her

Schön, dass dieses großartige Buch hier vorgestellt wird. Es passt hervorragend zu gegenwärtigen politischen Lage, in der man seine Geschichtskenntnisse damit erweitern kann. Chaos, Gewalt, tiefste Haltlosigkeit, Krankheit, Kälte, Hunger, Massensterben, unendlicher Terror, ständig wechselnde Bündnisse – der russische Bürgerkrieg in all seinen manigfaltigen Facetten, die bis heute eine reiche Fundgrube für Literatur- und Geschichtsinteressierte gleichermaßen darstellen. Bulgakow war ein erzählerischer Gigant, der trotz seiner vielen Krankheiten und des frühen Todes unsterbliche Bücher und Geschichten hinterlassen hat; dies ist eines davon. Der Mörder Petljuras, Schwartzbard, wurde übrigens freigesprochen weil ihm das Recht auf Vergeltung zuerkannt wurde.