Bei den alten Parteien weiß jeder, wie sie sich während der Corona-Zeit positioniert haben. In Bayern stand Söder während dieser Zeit so sehr im Vordergrund, dass vergessen wird, wie eifrig die Freien Wähler mit ihm in den Maßnahmenstaat marschiert sind – ohne Hubert Aiwanger. Von Carl Lang
Es ist absurd, einem Politiker wie Hubert Aiwanger Meinungen vorzuwerfen, die er vor 35 Jahren als Sechzehnjähriger vertreten oder nicht vertreten hat. Diese Angelegenheit sollte seit mindestens 30 Jahren verjährt sein.
Anders verhält es sich jedoch mit Handlungen, die noch nicht einmal zwei Jahre zurückliegen. Zur Erfrischung des Gedächtnisses empfiehlt es sich, die Pressemitteilung und den Corona-Dringlichkeitsantrag der Freien Wähler aus dem Winter 2021/2022 zu lesen. Das war – zur Erinnerung –, nachdem jeder Deutsche ein „Impfangebot” bekommen hatte und der einzige „Ausweg“ aus der „Pandemie” darin lag, das Virus endlich endemisch werden zu lassen. Deutschland hing der weltweiten Entwicklung nach, die schon längst auf Distanz gegangen war. Großbritannien feierte seinen „Freedom Day“ schon ein knappes halbes Jahr vor dieser Pressemitteilung.
Während man anderswo also längst wieder ein normales Leben führte oder – wie in Schweden – von vornherein nicht auf elementare Grundrechte verzichten musste, tremolierten die sogenannten Freien Wähler in bester Lauterbach-Manier: „Die neuerliche Corona-Eskalation in Bayern ist dramatisch und die nächsten Wochen werden brutal. Wir stehen an der Schwelle zur größten Katastrophe der Nachkriegszeit.“
Bayern stand also nach einem „Impfangebot“ für alle Bürger vor der „größten Katastrophe der Nachkriegszeit“. Generell ist es nicht die Stärke der Freien Wähler, Probleme ins Verhältnis zu setzen oder gar Kosten und Nutzen abzuwägen, denn sie wollten die „erneute Verschärfung der Maßnahmen“, weil „jedes Opfer dieser Pandemie eines zu viel ist“. Es gibt wenige Sätze, die so harmlos klingen und so gefährlich sind! Wenn jeder Verkehrstote einer zu viel ist, dann rechtfertigt das ein totales Verbot jeder Mobilität. Und wenn „jedes Opfer dieser Pandemie eines zu viel ist“, dann rechtfertigt das jede totalitäre Maßnahme, jede Einschränkung der Grundrechte, jede polizeistaatliche Gängelung.
Gleichzeitig finden die Freien Wähler die Impfung aber so wunderbar, dass sie „es für legitim halten, dass wir die Debatte um eine allgemeine Impfpflicht zumindest offen führen“. Solange es keine allgemeine Impfpflicht gibt, müssen Ungeimpfte wie in einem Apartheidsystem gesellschaftlich ausgegrenzt werden: „Mit den heutigen Beschlüssen im Landtag tritt unsere Bayernkoalition […] beherzt auf die Notbremse, um das Ruder mit voller Kraft herumzureißen. Dabei machen wir klar, dass Menschen, die ihren persönlichen Beitrag zur Krisenbewältigung durch Nichtimpfung verweigern, nicht länger als Trittbrettfahrer der Geimpften am öffentlichen Leben teilhaben können.“
Viel „öffentliches Leben“ verpassen die ungeimpften „Trittbrettfahrer“ allerdings nicht, denn die Freien Wähler wollten, dass bei einer hohen Inzidenz „Freizeit-, Sport- oder Kulturveranstaltungen nicht mehr erlaubt sind. Zudem müssen die Gastronomie, körpernahe Dienstleistungen, Beherbergungsstätten sowie Sport- und Kulturstätten schließen. Hochschulen dürfen ihre Vorlesungen und Seminare nur noch in digitaler Form anbieten. Für den Handel gilt dann eine Beschränkung auf eine Kundin bzw. einen Kunden pro 20 m².“
Auch ohne hohe Inzidenz galt in der Gastronomie eine Sperrstunde ab 22 Uhr und eine 2G-Regelung. Schankwirtschaften, Diskotheken und Clubs mussten ganz geschlossen bleiben und Weihnachts- oder Jahrmärkte mussten abgesagt werden. Jeder weiß ja, dass Corona nach 22 Uhr viel ansteckender ist als früher am Abend, und außerdem steckt man sich im Freien – so wie bei Weihnachts- und Jahrmärkten – besonders leicht an. Natürlich durften auch Kinder und Jugendliche nicht verschont werden: „In den Schulen gilt ein ausgeweitetes Testangebot und auch beim Indoor-Sport eine Maskenpflicht.“
Man könnte noch viele weitere Vorschriften, Einschränkungen und Verbote aus dieser Pressemitteilung und dem Dringlichkeitsantrag vom 23.11.2021 (Drucksache 18/19065) zitieren, um die Erinnerung an diese furchtbare Willkürherrschaft wachzurufen.
Die Freien Wähler befürworteten zu diesem Zeitpunkt noch eine endlose Fortsetzung dieses Autoritarismus, denn ein Impfangebot hatte längst jeder Bayer bekommen – es gab also kein Ereignis X mehr, auf das die Freien Wähler warteten, um dann endlich zur Rechtsstaatlichkeit zurückzufinden – abgesehen vielleicht von der gewünschten Zwangsimpfung aller Bürger, die ohnehin mehr oder weniger wirkungslos gewesen wäre und somit auch nichts am Fremdbestimmungswahn der Freien Wähler geändert hätte.
Die Freien Wähler waren außerdem – wiederum genau wie Lauterbach – nicht nur im postfaktischen, sondern auch im postlogischen Zeitalter angekommen: Die Geimpften mussten weiterhin Tests machen, Masken tragen, Abstand halten, oftmals ganz zuhause bleiben und durch 2G vor den Ungeimpften geschützt werden, weil die Impfung so gut schützt. Alles klar?
Übrigens machte Aiwanger während dieser Zeit im Vergleich zu seinen Parteikollegen einen durchaus akzeptablen Eindruck. Er war aber kein entschiedener Gegner dieser Maßnahmen und machte jeden Unfug mit, selbst, wenn er diesen offenkundig selbst nicht ganz verstand: „Wenn sechs bis acht Leute, jeder mit seinem Kumpel kommt, dann kann der sich natürlich jeweils mit seinem Kumpel, der seine Bezugsperson ist, an einen Tisch setzen. Und mit 1,50 Abstand sitzt der nächste Kumpel mit seinem Kumpel. Aber sie können nicht sechs mal zwei an einem Tisch sitzen, weil nicht mal die ersten Sechs an einem Tisch sitzen dürfen. (…) Und zu den anderen ist jeweils 1,50 Abstand zu halten. Wenn der Tisch irgendwo 15 Meter lang ist und dann im Abstand von 1,50 immer die Pärchen gegenüber sitzen.“ Da bleiben keine Fragen offen.
Während der Corona-Debatte trugen die Freien Wähler in Bayern die Einschränkungsmaßnahmen einerseits mit. Zum anderen gehörte FW-Chef Hubert Aiwanger zu den wenigen politischen Figuren, die Ungeimpfte in Schutz nahmen – auch durch sein eigenes Beispiel. Denn er gab öffentlich bekannt, er sei nicht geimpft. Wenige Wochen vor der Bundestagswahl, im Juni 2021, spitzte sich der Streit mit Ministerpräsident Markus Söder zu, der Impfen zum „Weg in die Freiheit“ erklärte – was praktisch bedeutete, dass die Freiheit der Ungeimpften beschnitten werden sollte. Vor laufenden Kameras drängte Söder seinen Vize damals: „Vielleicht sagst Du einfach selber was dazu, warum Du Dich nicht impfen lassen willst.“ Das, so Aiwanger, sei eine private Entscheidung. Damit wurde er zur Identifikationsfigur für alle, die das auch so sahen. Der Hashtag #IchBinAiwanger eroberte damals zeitweilig Platz eins der Twitter-Trends.
Der FW-Vorsitzende forderte „Verständnis für die derzeit noch 20 bis 30 Prozent, die noch nicht geimpft sind“. Sie dürften nicht stigmatisiert werden.
Darin, dass Aiwanger sich nach der Bundestagswahl doch impfen ließ, sahen viele einen Akt des Opportunismus, wenigstens aber der FW-typischen Ambivalenz. Möglicherweise spielte tatsächlich Wahltaktik eine Rolle für Aiwangers Position, wahrscheinlich wollte er sich auch nicht öffentlich zu etwas drängen lassen. Aber die Tatsache bleibt: Er stärkte im Herbst 2021 alle, die das Impfen für eine Privatsache hielten, und riskierte dafür auch einen Konflikt mit Söder und der CSU.
Bayern war zusammen mit Hamburg während der Corona-Zeit die bürgerrechtsfeindlichste Region in Deutschland. Die Freien Wähler und die CSU haben sich nie für diese Politik entschuldigt und sie haben bis heute keine Anstalten gemacht, ihrer Macht gesetzliche Grenzen zu setzen, um einem zukünftigen Rückfall in diesen Autoritarismus entgegenzuwirken. Sie lieben diese Macht und wollen sie – wenn die Gelegenheit sich bietet – auch weiter ausüben.
Anstatt sich mit Nichtigkeiten von vor 35 Jahren abzulenken, sollten Medien und Bürger sich mit dem Regierungshandeln von vor zwei Jahren beschäftigen.
Carl Lang betätigt sich nach einem Studium der Literaturwissenschaft, Linguistik und Philosophie als Essayist und Liedtexter. Er fühlt sich keinem politischen Lager zugehörig und interessiert sich besonders für Moralphilosophie und Religionskritik.
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Mich interessiert eigentlich nicht, was Aiwanger als pubertierendes Jüngelchen so alles verbrochen hat. Mich interessiert, was er derzeit treibt. An seinem Einknicken in der Impffrage sehe ich aber eines: Er ist der Typus „schlitzohriger Viehhändler“, wie man ihn aus den alten Tagen des bayerischen Komödienstadels kennt. Der Horizont ist entsprechend eingeengt, der Fokus liegt auf dem über den Tisch ziehen. Ein Provinzpolitiker halt.
Lieber thinkSelf – wie recht Sie haben. Aber ich habe schon Sodbrennen von dem vielen Bier und mir ist schon ganz schlecht von dem ganzen Knabberzeugs. Ja wie lange dauert der Untergang denn noch?
Ich glaube, dass der irgendwie nie kommt und ich ernsthaft Gefahr laufe, als dauerbesoffenes Krümelmonster einer nicht enden wollenden Transformation von der einen in die nächste Katastrophe beizuwohnen und die Erlösung nur noch in der Unvermeidlichkeit biologischer Prozesse liegt, beschleunigt durch Bier und Knabberzeugs. ?
Im Rahmen der Flugblatt-Aufwallung ist bei vielen, die die FW aus der Ferne wahrnehmen,eine idealisierende Verkennung der FW entstanden.
Die FW sind letztendlich als loser und sehr diverser parteipolitischer Zusammenschluß auf Lokal- und Regionalebene entstanden, um das Geklüngel von CSU und SPD (ja, das gibts in Bayern) zu brechen. Das machte Sinn bei lokalpolitischen Themen.
Alles darüber hinaus wird schwierig, weil die FW eben so ein weltanschaulich inhomogener und mitunter auch chaotischer Haufen sind. In Sachen Energie- und „Pandemie“politik z.B. sind da die gegensätzlichsten Einstellungen vorhanden. Eine folkloristische Variante der AfD sind die FW auf alle Fälle nicht.
Das wird in Bayern ausgehen, wie bei der Wahl in Berlin, wo hoffnungsvolle Wähler die CDU wählten, um die Grünen endlich loszuwerden.
Nach der Wahl reiben sie sich jetzt entsetzt die Augen, weil der CDU-Bürgermeister sofort ganz entschieden auf Grünenkurs ging und sich demütig von der SPD vorführen lässt.
Da muss ich doch gleich an Sahra Wagenknecht denken, die während Corona lautstark gegen die Maßnahmen gewettert hat, aber dann bei jeder einzelnen Abstimmung dazu nicht anwesend war. Den AfD Antrag gegen die Impfpflicht lehnte sie dann schließlich ab.
Mir scheint das alles wie eine daily soap, was sie uns mit solchen Politikern auf Bundes- wie auf Landesebene Tag für Tag bescheren – während von wo ganz anders „angeschafft“ wird.
Die AfD als Komparse erkennen wird man halt erst dann, wenn sie Regierungsverantwortung bekäme. So lange bleibt die Hoffnung.
Aber es scheinen sehr starke Kräfte am Walten, die nicht nur den Fluss von Steuergeldern bestimmen.
Fairerweise hätte der Autor auch erwähnen sollen, dass die FW hier in Bayern schon einigen Unsinn gestoppt haben, z. B. die Straßenausbaubeiträge abgeschafft.
… Um aus dem linksgrünen Irrsinn herauszukommen, muss der Wähler taktisch vorgehen, und kann wohl kaum darauf achten, dass die gewählte Partei immer 100% die bevorzugte Linie befolgte. Wenn man die FW insgesamt in den letzten Jahren betrachtet und nicht nur während des Coronawahns, sind sie, neben der AfD, durchaus eine Alternative.
Eine Partei, die Wälder für Windräder abholzen lässt, ist keine Alternative.
Haben Sie sich das Personal der AfD in Bayern schon mal angeschaut? Vermutlich nicht (diese Truppe reißt in Bayern nämlich genau überhaupt gar nichts), denn obwohl meine Stimme bei der Europa- und Bundestagswahl eine AfD-Stimme werden wird, wird meine Stimme in Bayern eine FW-Stimme.
Toller Artikel. „die Erinnerung an diese furchtbare Willkürherrschaft wachzurufen“ ist das eindrucksvollste Mittel gegen zukünftige Zwangsmaßnahmen.
Wer hat keine Jugendsünden vorzuweisen, der werfe den ersten Stein und egal was passiert, der Herr Aiwanger ist auch ein Getriebener innerer und äußerer Interessen, hat aber den Vorteil, daß er wenigsten im allgemeinen Sprachgebrauch keine linke Bazille ist und darin unterscheidet er sich wesentlich von den linken Gestalten, die uns seit gut zwei Jahrzehnten umzingelt haben. Das Verrückte an der ganzen Angelegenheit ist die Tatsache, daß eine Mehrheit durch konservative Kräfte gebildet werden könnte, wenn sie sich denn eins wären und zum alten Glauben zurückkehren würden, aber da hat Tante Erika aus Dingsda gute Arbeit geleistet, an dem sie… Mehr
Keine Sorge, auch FW gehört dem Block an 😉
Es gibt nur eine Oppositionspartei 😉
Im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021 wurde brav ge*gendert.
Im Wahlprogramm zur 2023 Wahl in Bayern immerhin nicht.
Was sagt uns das?