Seit einiger Zeit lässt es sich in Deutschland kaum mehr vermeiden, bei Gesprächen über Ungarn heftige Diskussionen auszulösen. Bei denen geht es oft darum, ob dieses Land noch demokratisch sei oder schon diktatorisch regiert werde. Von Werner J. Patzelt
Wie versucht Viktor Orbán seine umstrittenen Ziele zu erreichen? Im Mai 2022 formulierte er bei der internationalen Conservative Political Action Conference (CPAC) in Budapest sein – wie er sagte: »frei verwendbares« – Erfolgsrezept in zwölf Punkten. In diesen spiegeln sich bestens sowohl der inhaltliche als auch der praktisch-organisatorische Politikansatz des ungarischen Ministerpräsidenten.
Erstens – so Orbán – muss man nach seinen eigenen Regeln spielen, darf sich also nicht auf die Regeln des Gegners einlassen; das wäre nämlich der sicherste Weg zur eigenen Niederlage.
Zweitens muss man die Innenpolitik nach den Grundsätzen eines nationalen Konservatismus gestalten. Das meint eine politische Ausrichtung an den Werten von Familie, Nation und Tradition. Mit alledem ist man am nächsten bei dem, was die meisten Bürger von ihrer Regierung erwarteten. Umgekehrt muss man ausfindig machen, wo sich die Linke von solchen Erwartungen gelöst hat, denn gerade dort kann man sie erfolgreich angreifen.
Drittens muss man die Außenpolitik am nationalen Interesse ausrichten. Man darf sie keinesfalls als »Kampf des Guten gegen das Böse ausgestalten«, sondern muss sie an den tatsächlichen Interessen des eigenen Landes verankern. Nur dann vermag man sie nämlich auch in Krisenzeiten durchhalten. Allerdings kann es schwierig sein, die durch Außenpolitik zu verfolgenden Interessen eines Landes zu klären und zu ordnen.
Vielmehr muss man – fünftens – heute bereits die sich gerade erst abzeichnenden Absichten seiner Gegner klar ansprechen, damit es morgen nicht zum Tabu gemacht werden kann, sich gegen diese zu wehren. Beispielsweise sei es in Ungarn richtig gewesen, die auf Schulkinder zielende LGBTQ-Propaganda von vornherein bloßzustellen. Anschließend musste die Linke sie nämlich verteidigen – und auf diese Weise zugeben, dass sie genau solche Propaganda befürwortet. Tatsächlich ist kein Erfolg größer als der, bei welchem sich zeigt, dass man selbst die ganze Zeit über recht gehabt hatte.
Sechstens darf man die Wirtschaftspolitik nicht entlang von abstrakten Idealen betreiben, sondern hat sie so auszugestalten, dass sie für die Mehrheit der Wähler nützlich ist. Das Motto muss letztlich sein: Mit uns an der Macht profitieren auch jene, die uns nicht gewählt haben! Und weil die meisten Menschen offenbar Arbeit und ein besseres Leben für ihre Kinder wünschen, ist jede Regierung zum Niedergang verurteilt, die dergleichen nicht liefern kann. Also ist klar, welche Ziele sich eine erfolgsorientierte Regierung setzen muss.
Siebtens darf man sich nicht ins Abseits drängen lassen – auch dann nicht, wenn auf der einen Seite Verschwörungstheorien populär werden, auf der anderen Seite hingegen Utopien. Die meisten Leute mögen nämlich weder das eine noch das andere. Also muss man es vermeiden, sich auf solche Positionen einzulassen und anschließend einen großen Teil seiner Wählerschaft zu verlieren. Man hat sozusagen Gott zu geben, was Gottes ist; dem Kaiser, was des Kaisers ist; und der Naturwissenschaft, was dieser zusteht.
Achtens soll man jeden Tag lesen. Die Welt wird immer komplizierter, weshalb man auch mehr Zeit darauf verwenden muss, sie zu verstehen. Dafür gibt es nichts Besseres als Bücher. Solche durchzuarbeiten, hilft auch beim Verstehen dessen, wie die Gegner denken – und wo deren Gedankengänge fehlerhaft sind. Hat man diese Schwachstellen erst einmal gefunden, dann ist der Rest der Auseinandersetzung mit dem Gegner nur noch technische Arbeit. Bloße Kommunikationsdesigner sind zwar nützlich; doch die zu lösenden Probleme müssen schon von den politischen Entscheidungsträgern selbst verstanden werden.
Zehntens ist es wichtig, sich Freunde zu suchen. Die Gegner des eigenen Lagers, nämlich die progressiven Liberalen, praktizieren unglaubliche Geschlossenheit und verteidigen einander nachgerade bedingungslos. Hingegen neigen Konservative dazu, sich schon wegen geringster Kleinigkeiten zu zerstreiten. Das ist falsch. Man sollte nie nach Dingen suchen, über die man sich entzweien kann, sondern stets auf verbindende Gedanken ausgehen – und auf Themen, bei deren Bearbeitung man kooperieren kann.
Elftens muss man – über die Familien hinaus und unterhalb der Nation – vielfältige Gemeinschaften errichten, etwa Klubs und mannigfache Vereine. Ohne solche Gemeinschaften, denen man sich leicht anschließen kann, vereinsamen allzu viele Menschen. Gibt es aber keine verlässlichen Strukturen, die einem selbst sowie anderen Halt bieten, dann entwickelt man auch keinen Sinn für den Wert solcher Politik, die auf eine Bewahrung des Bestehenden ausgeht. Deshalb braucht jede politische Einheit, die sich erhalten will, solche gesellschaftlichen Unterstrukturen.
Und zwölftens muss man Institutionen schaffen, von Thinktanks über Schulungszentren und Talentförderungsstätten bis hin zu Jugendorganisationen und Instituten für auswärtige Beziehungen. Politiker nämlich kommen und gehen – doch gut gebaute und gut bemannte Institutionen bleiben bestehen. In ihnen, und auf der Grundlage der dort gewonnenen Erfahrungen, lässt sich dann von neuen Generationen immer wieder die Politik intellektuell erneuern. Das aber ist wichtig, denn neue Ideen und neue politische Akteure sind so etwas wie jene Munition, die man im politischen Kampf nun einmal braucht. Leicht ist beim Blick auf Viktor Orbáns Innen- und Außenpolitik zu erkennen, wie weitgehend seine Regierung gemäß diesen Regeln zu handeln versucht. Ganz unübersehbar ist das beim Aufbau eigener medialer Hegemonie sowie einer wohlhabenden Unterstützerschicht – oder bei der außenpolitischen Verfolgung ungarischer Interessen selbst gegen EU-Wünsche.
Doch in welche größeren, inhaltlichen Zusammenhänge ist derlei Macht- und Regierungstechnik eingebettet? Um die von ihr angestrebte, wertgeleitete Politik konkret zu formulieren und systematisch zu begründen, ließ die Fidesz-Regierung eine Bestandsaufnahme jener Werte durchführen, deren Befolgung oder Verwirklichung als wichtig oder nützlich für Ungarns Entwicklung erscheint.
Führt man das alles im Einzelnen aus, dann zeigt sich: Anders als angelsächsischen Raum meint für den Durchschnittsungarn Freiheit nicht in erster Linie die Möglichkeit, sich aktiv gesellschaftlich oder politisch zu beteiligen. Geschätzt wird Freiheit vielmehr als ein Recht, von der Politik einfach in Ruhe gelassen zu werden. Und weil die lange Geschichte der osmanischen, habsburgischen oder sowjetischen Besetzungen des Landes immer wieder erwies, dass von außen kommende Ideen nicht an sich schon den Interessen Ungarns dienlich sind, wählt man eben besser selbst aus und passt dann für konkrete Zwecke an, was jeweils vielversprechend aussieht.
Das ist umso wichtiger, als Ungarn an Europas Peripherie liegt, wenngleich dieses Land an allen großen Epochen der europäischen Geschichte seinen Anteil hatte, nämlich von der Gotik über die Renaissance und den Barock bis hin zur Aufklärung und zur industriellen Revolution. Obendrein waren die Ungarn, zumindest unterhalb ihrer polyglotten Eliteschicht, wegen ihrer so besonderen Sprache stets von den umliegenden Völkerschaften abgesondert. Das alles macht Ungarn zwar europäisch, innerhalb Europas aber sehr besonders.
Im Übrigen gehört es zur ungarischen Tradition, dass – zugespitzt – von zwei Ungarn in der Regel nicht weniger als drei Meinungen vertreten werden. Dabei wird die eigene Position oft mehr auf Gefühle als auf Tatsachen und Argumente gestützt. Das hat zwar Vorteile bei der Stiftung von Zusammenhalt, wenn man sich – wie Ungarn seit dem Mongolensturm – immer wieder gegen Bedrohungen von außen wehren muss. Doch als Ergebnis des Wirkens von solchen kulturellen Mustern sind Ungarn zu Normalzeiten meist zerstritten – und trotzdem in Notlagen willens, sich rasch hinter allem zu sammeln, was als »nationales Anliegen« gelten kann. Unter solchen Umständen, doch nur unter ihnen, sind Ungarn dann auch bereit, trotz aller Freiheitsliebe Hierarchien hinzunehmen – und, ohne von ihrem Individualismus lassen, sich hinter starke Anführer zu stellen. Darüber hinaus haben die Ungarn noch weitere, anderswo fehlende Eigenheiten, die jede ungarische Regierung berücksichtigen muss, wenn sie für ihr Staatsvolk Sicherheit und Wohlstand herbeiführen oder sichern will.
Erstens klingt in den ungarischen Selbstvergewisserungen immer wieder wie ein Refrain die Vorstellung auf, man sei – seit der eigenen Landnahme – das Bollwerk Europas gegen anstürmende Völkerschaften, ganz gleich, ob es sich um die Mongolen, um die Osmanen oder um selbstermächtigte Zuwanderer handle.
Zweitens hat Ungarn sich so oft als ein Schlachtfeld widerstreitender Mächte erlebt, dass Bevölkerung und Eliten ein recht verlässliches Gefühl dafür entwickelt haben, was wohl politische Wirklichkeit oder politische Einbildung wäre, was Freund oder Feind, was Entwicklungen hin zum Frieden oder zum Krieg. Deshalb kann Ungarn gut als Europas Frühwarnsystem für kommende, anderswo weiterhin als irreal betrachtete Gefahren dienen.
Drittens entwickelte Ungarn als ein Land mit einer eigentümlichen Sprache und mit vielen Minderheiten im Lauf der Jahrhunderte auch Sensibilität dafür, wie – und bis zu welchen Grenzen – man eine multikulturelle Gesellschaft gerade noch zusammenhalten kann, also: ab wann man einen diversitätssteigernden Gesellschaftswandel besser aufhalten sollte.
Und viertens spielt beim Zusammenhalt Ungarns Symbolisches eine besonders große Rolle. Allem voran ist das die »Heilige Krone«. Nicht der König »trug« sie; sondern wer sie besaß, der »wurde« eben dadurch zum König – oder hatte zumindest einen legitimen Anspruch auf den Thron.
Symbolisch genommen, und dadurch besonders wirkkräftig, werden in Ungarn auch Niederlagen, zumal jene bei den Aufständen gegen die Habsburger 1848/49 und gegen die Sowjetherrschaft im Jahr 1956: Sie gelten als Wunden, die erst dann heilen konnten, als es 1867 zum Reichsausgleich mit Österreich kam – und 1989 zum Abgang der kommunistischen Herrschaftselite. Fidesz-Politiker fügen dem meist hinzu, dass ab 2010 vollendet werde, was 1989 begann. Genau auf jene kulturellen Voraussetzungen versuchte Fidesz nämlich die Programmatik und Praxis seines Regierungshandelns abzustimmen. Das zu erkennen, ist tatsächlich sehr hilfreich beim Versuch, jene weiteren, großen Wahlerfolge des Fidesz zu erklären, die bis 2022 auf den Sieg von 2010 folgten.
Leicht bearbeiteter und um wenige im Buch enthaltene Fußnoten bereinigter Auszug aus:
Werner J. Patzelt, Ungarn verstehen. Geschichte – Staat – Politik. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, 480 Seiten, 35,00 €.
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Falsche Frage. Sie müsste lauten: Hat die EU Ungarn verdient…?
Ungarn sollte von sich aus aus der EU und auch der NATO austreten wenn man Viktor Orbán hört. Für mich ist er und auch die mehrheit der ungarn verlogen. Man will nicht wirklich dazu gehören und sich anpassen aber man will geld (viel geld) und sicherheit.
Sehr guter Artikel, vielen Dank! Er beschreibt auch sehr genau die Werte, die zu meiner Jugendzeit in Deutschland auch einmal selbstverständlich waren. Der Schlüsselsatz für mich: „Auch die, die mich nicht gewählt haben, sollen profitieren, wenn ich an der Macht bin.“. Gehört in jedes politische Poesiealbum. Wir sind seit rund einem Jahr in Ungarn und sind dabei, die Sprache zu erlernen. Eines wird dabei deutlich: Die Anatomie dieser Sprache lässt es nicht zu, einfach drauflos zu plappern. Man muss sich sehr genau überlegen, was man sagen will, bevor man den Mund aufmacht. Einen Satz beginnen und keine Ahnung haben, wie… Mehr
Victor Orban tut das, was seine Wähler von ihm verlangen. In vielen Demokratien des Westens gilt es jedoch inzwischen als hohe Staatskunst, dem Volk gegen seinen Willen aufzuzwingen, was nach Meinung der Eliten gut und richtig ist. Auch in Deutschland segeln vom Staat finanzierte Meinungsmacher unter den falschen Flaggen „NGO“ oder „freier Journalismus“ und nehmen alles unter Feuer, was den Elitenprojekten im Weg steht.
Hören wir mit diesem Gerede von „Demokratie“ auf, oder gar „Diktatur“. Natürlich stimmen fast alle Vorwürfe, die man an Orbán oder die Fidesz richtet, das versichern mir Ungarn, die ich kenne und die trotzdem Orban wählen. Sie wählen ihn, weil er das Land davor bewahrt, linksliberal zu werden, so können sie das auf Budapest einhegen und haben ansonsten ihre Ruhe. Dafür nehmen sie seine Korruption und Vetternwirtschaft hin. Auch, weil die EU das finanziert. Darum geht es nicht, jeder weiß das auch. Ungarn ist, wie ALLE osteuropäischen Nationen, nur aus zwei Gründen in die EU eingetreten: 1) Um die Westeuropäer… Mehr
Warum sind denn die osteuropäer behauptet aufgenommen worden? Das ust doch der punkt. Aus gutherzigkeit? Aus geostratetischen Gründen? Oder weil für diedie europäische/ deutsche Industrie ein Geschäft bedeutete? Absatzmärkte und billige Arbeitskräfte. Das Geld, was von Brüssel überwiesen wird landet doch – ausser bei den korrupten staatsführern ind den Taschen der westeuropäischen, den Managern und Aktionären der Konzerne, die die Globalisierung ausnutzen. Wieso werden sonst due reichen immer reicher, auch in deutschkabd.
Und die osteutopäern arbeiten wenigstens.
Was ist mit Griechenland und Italien? Für die müssen sue auch zahlen. Und Demokratie ist nur eine phrase. Due gibt es nirgendwo mehr.
Ich habe nicht gesagt, dass ich es gutfinde, dass ich für den Club Med mitzahlen muss, noch dass ich überhaupt eine EU will. Ich will für NIEMANDEN zahlen. Mir ist es vollkommen gleichgültig, ob Griechen, Polen oder Esten wohlhabend oder arm sind. Das ist deren Sache. Uns Deutschen hat auch nie einer was geschenkt. Franzosen,. Polen und Tschechen haben unser Land geraubt, Amerikaner und Russen unser Kapital. Ich schulde denen nichts.
Ganz meiner Meinung. Welche Rolle spielt denn Deutschland innerhalb der EU? Die des Zahlmeisters. Die Deutschen finanzieren alles mit durch (seitdem GB als Nettozahler weggebrochen ist, hat sich die Lage noch verschärft). Nein, ich finde auch, das Konstrukt EU gehört abgeschafft. Welchen Vorteil habe ich als deutscher Bürger davon?
Die Politiker in Brüssel füllen sich die Taschen, Bailout der Griechen, ständiger Geldfluss in die osteuropäischen Staaten: nein, ich will das nicht. Deutschland war vor der EU besser dran.
Eine konservative Politik für rechtsliberale Bürger. Wobei das immanente und größte Problem des Konservatismus, i.e. seine passive Grundhaltung, vermieden wird. Denn Progressive, die immer die Zerstörung des Bestehenden anstreben, müssen aktiv und rechtzeitig bekämpft werden, wenn man Land, Kultur, Traditionen, Werte und Nation, Wohlstand, Rechte und Freiheiten erhalten will. Denn diese -teilweise über Jahrhunderte hart erarbeitet- können von Linken innerhalb weniger Jahre vernichtet werden. In Deutschland sogar unwiderruflich dank der muslimischen Masseneinwanderung. Sicherheitshalber empfehle ich den Ungarn aber noch eine Einschränkung des passiven Wahlrechts (falls sie es nicht schon längst haben): gewählt werden darf nur, wer über eine abgeschlossene Berufsausbildung… Mehr