Sein 1969/70 entstandener Roman „Das Leben ist anderswo“ ist einer der besten antikommunistischen Romane der Weltliteratur; er legt das verhängnisvolle Zusammenwirken von jugendlichem Ehrgeiz, Fanatismus und Opportunismus offen. Kundera geißelte sich mit diesem Roman nicht zuletzt selbst. Von Artur Abramovych
Im Jahr 1983, als man sich im Westen längst mit der Teilung Europas abgefunden hatte und sich unweigerlich den Spott der Linken und Liberalen einhandelte, wenn man glaubte, dass der Eiserne Vorhang noch fallen werde, veröffentlichte ein im Pariser Exil lebender Tscheche einen Essay mit dem Titel Un occident kidnappé. Als den „entführten“ Teil des „Abendlands“ betrachtete der Autor Milan Kundera Mitteleuropa (geographisch für ihn weitgehend identisch mit jenen Ländern, die ganz oder teilweise zum Habsburgerreich gehört hatten): katholische, die lateinische Schrift verwendende Völker, die sich als zu Europa und seiner Geschichte des Föderalismus zugehörig betrachten, aber dem „einförmigen, auf Verbreitung dieser Einförmigkeit bedachten zentralistischen Russland“ überlassen worden seien.
Zu einer Zeit, da die Europa-Konzepte der hiesigen Intellektuellen weitgehend auf Westeuropa beschränkt waren, war es nahezu unerhört, daran zu erinnern, dass das wie selbstverständlich als europäische Hauptstadt gehandelte Wien geographisch östlicher liegt als das hinter dem Eisernen Vorhang verschwundene Prag. Oder dem selbstvergessenen Westeuropa vorzuhalten, dass es „Europa nicht mehr als Wert betrachtet“.
Kundera war nicht nur biographisch berufen, auf diese Diskrepanz hinzuweisen. Der 1929 in Brünn, der historischen Hauptstadt Mährens, geborene Kundera hatte in Prag an der Filmhochschule am Moldauufer studiert und war dort als Dozent tätig gewesen. Doch bei all der erzähltechnischen Modernität seiner Romane und trotz ihrer charakteristisch kurzen, schlaglichtartigen Kapitel sowie der an seine Herkunft aus der Kinematographie erinnernden Montagetechnik handelte es sich bei Kundera um einen eminent gattungsbewussten Romancier. Der europäischen Literaturform widmete er den Essayband „Die Kunst des Romans“ (1986).
Die Sujets der Romane dieses „antitotalitären Casanova“ (Marko Martin in der Welt) verquicken zumeist das Privateste mit dem Politischen. Zwei Leitmotive seines Schaffens sind die Unmöglichkeit ehelicher Treue – und der politische Verrat um persönlicher Vorteile willen. Das trifft bereits auf seinen ersten Roman zu: „Der Scherz“ (1967) handelt von einem jungen Mann, der um 1950 im stalinistischen System von einem linientreuen Freund verraten wird, in Ungnade fällt und später Rache nimmt, indem er dessen Frau verführt – um schließlich zu erfahren, dass der sich ohnehin von ihr scheiden lässt.
Die Niederschlagung des von Kundera tatkräftig unterstützten Prager Frühlings im August 1968 beendet seine junge Karriere; er verliert sowohl die Möglichkeit zu lehren als auch zu publizieren. Der 1969/70 entstandene Roman „Das Leben ist anderswo“ (dt. 1974 und 1990, wobei die ältere Übersetzung von Franz Peter Künzel, erschienen bei Suhrkamp, die eindeutig bessere ist) war das erste Werk, in dem Kundera endgültig mit dem Kommunismus abrechnete. Und es ist einer der besten antikommunistischen Romane der Weltliteratur; er legt das verhängnisvolle Zusammenwirken von jugendlichem Ehrgeiz, Fanatismus und Opportunismus offen. Kundera geißelte sich mit diesem Roman nicht zuletzt selbst; denn als 20-Jähriger war er noch überzeugter Stalinist gewesen.
1975 emigriert Kundera schließlich nach Paris. Hier entsteht sein mit Abstand berühmtester Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (1984) – wenn auch vermutlich nicht sein stärkstes Werk, so doch sehr charakteristisch für ihn mit seiner Verknüpfung des Privatesten mit dem Weltgeschehen. Vor dem Hintergrund von Dubceks erniedrigenden Selbstbezichtigungen nach der Niederschlagung des Prager Frühlings präsentiert uns Kundera ein leidenschaftliches Liebespaar, das nicht länger weiß, wo es hingehört.
Dieser Roman sollte der letzte bleiben, den Kundera in seiner Muttersprache schrieb. Nachdem er bereits 1979 ausgebürgert worden war und französischer Staatsbürger wurde, begann er in den 90er Jahren, nur noch Französisch zu schreiben. Seine letzten Romane, Identität etwa, sind nicht nur auf Französisch verfasst, sondern auch in Frankreich angesiedelt. Sie mögen gegenüber ihren Vorgängern, in Ermangelung weltgeschichtlicher Umwälzungen, karg erscheinen, lassen sie doch deutlich Kunderas Enttäuschung über den geschichtsvergessenen Westen erkennen, die bereits 1983 im Occident kidnappé anklang.
Eine Freundschaft verband ihn in der neuen Heimat mit dem zwanzig Jahre jüngeren jüdisch-französischen Philosophen Alain Finkielkraut, der kundtat, dass erst Kundera ihn zur Weltliteratur gebracht habe, und ihm sein letztes Buch widmete. Es ist wohl kein Zufall, dass der überzeugte Föderalist und Europäer Kundera die tschechische Staatsbürgerschaft ausgerechnet aus den Händen des EU-kritischen tschechischen Präsidenten Andrej Babis zurückerhielt. Das war 2019.
Am Dienstag ist Kundera nach mehrjähriger Demenz verstorben.
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Als ich jung war, wurde Kundera gerade auch von linken gelesen. Heute unvorstellbar, denn die Linke liest wohl eher wenig bis gar nichts.
Ein Lieblingsautor und fest verankert in meinem Bücherregal. Ruhe in Frieden.
Danke für diesen wertvollen Nachruf. Bisher kannte ich nur den bekanntesten Roman von ihm Ich sollte aber auch sein Erstlingswerk lesen, zu dem ich jetzt auch einen Einstieg habe. Sehr, sehr lesenswert im selben Kontext ist auch das biographische Erstlingswerk von Ayn Rand. Vom Leben unbesiegt. Handelt von einer sehr dramatischen Dreiecksbeziehung während der russischen Oktoberrevolution. Beleuchtet dabei detailliert den Untergang der sogenannten weißen, russisch zaristischen, Elite gegenüber dem Aufstieg der kommunistische Bolschewiki. Das Buch ist von einem unglaublichen Freiheitswillen durchdrungen.
Gott hab ihn selig.
Danke für die wunderschönen Texte. Danke für die Lektionen in Autonomie, Freiheitsliebe und ästhetischem Bewusstsein.
Der Mittelpunkt Europas liegt in Tschechien.
Mit einem starken Mitteleuropa hätte es keinen Ukrainekrieg gegeben.
Meines Erachtens ein Konföderalist, ein „Südstaatler“ (kein Föderalist). Ein Tscheche braucht keine EU, sondern Europa. Ein Tscheche spricht für sich selbst, egal in welcher Sprache, er braucht keine supranationalen Babysitter.
Schön, dass TE einen Nachruf veröffentlicht.