Angesichts von Unterrichtsausfällen und chaotischen Zuständen an den Schulen sollen Lehrer für Mehrarbeit gewonnen werden. Es gibt gute Gründe, diesem Druck zu widerstehen.
Heike Schmoll ist eine Journalistin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bekannt für ihre gehaltvollen Berichte und Kommentare zum deutschen Bildungssystem. Sie hat sich wiederholt sehr kritisch mit den Entscheidungen der Bildungspolitik und mit dem Leistungsverfall an den Schulen auseinandergesetzt. Aber in der Sonntags-Ausgabe der FAZ vom 19. Februar 2023 hat die Journalistin einen Kommentar unter der Überschrift „Den Schülern helfen“ geschrieben, der eine andere Richtung einschlägt. Es geht um Vorschläge, die Möglichkeiten von Lehrern, in Teilzeit oder Vorruhestand zu gehen, einzuschränken, und um den Widerstand der Berufsverbände und Personalvertretungen dagegen.
In dieser Auseinandersetzung kommt Heike Schmoll zu dem Schluss, dass die Lehrer sich für die Mehrarbeit entscheiden sollten. Am Ende ihres Kommentars heißt es:
„In der Tat werden nun politische Versäumnisse auf dem Rücken der ohnehin schon belasteten Lehrer ausgetragen. Aber vielleicht kann der eine oder andere Lehrer sich doch durchringen, ein paar Stunden mehr zu arbeiten und dabei die ganze Misere aus der Perspektive seiner Schüler betrachten. Schließlich können die Schüler am wenigsten für die missliche Lage.“
Eine Art „Schüler-Rettungseinsatz“?
Die Argumentation des Textes ist von allgemeinerer Bedeutung und sie ist auch sehr aktuell: Angesichts der sich immer weiter zuspitzenden Probleme an den Schulen sollen die Lehrer den Blick auf die betroffenen Schüler konzentrieren und sich für ein „Helfen“ entscheiden. Es lohnt sich, diese Entscheidung näher zu betrachten, denn sie stellt sich gegenwärtig für viele Berufstätige auf sehr verschiedenen Berufsfeldern. Viele Berufstätige, denen ihre Arbeit wichtig ist, kennen den Impuls, den Menschen zu helfen. Oft dominiert er am Anfang einer Tätigkeit. Aber die Berufstätigen machen dann die Erfahrung, dass Arbeit im Rahmen eines Berufs mehr ist als „helfen“.
Damit diese Arbeit – hier die Bildungsarbeit – gelingt, müssen Bedingungen erfüllt sein: materielle und institutionelle Bedingungen. Wenn an den Schulen und in den Klassenräumen unhaltbare Zustände herrschen, die ein regelmäßiges, alle Schüler erfassendes Lehren und Lernen verhindern, gibt es vielleicht hier und da Hilfe im Einzelfall, aber keine Bildungsarbeit. Alles, was mühsam aufgebaut wird, wird im Handumdrehen zunichte gemacht. Das ist heute sehr weitgehend die Realität an den Schulen. Die katastrophalen Ergebnisse bei den Grundfähigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen, die an deutschen Schulen seit längerer Zeit beobachtet werden, sind der Beleg. Nach Jahrzehnten immer neuer Bildungsreformen werden die Kernaufgaben einer schulischen Bildung immer weniger erfüllt.
Man muss inzwischen von einer Zerrüttung des deutschen Bildungssystems sprechen. Angesichts dieser Zustände im Bildungssystem, die sich trotz aller Kritik immer tiefer in das System hineingefressen haben, kann der Rückzug der Lehrer aus der Arbeit – 47 Prozent sind auf Teilzeit – nicht als eine zunehmende „Faulheit“ den Lehrern zugerechnet werden. Es ist eine Antwort auf eine unhaltbare Situation, und sie wird oft von Lehrern gegeben, die lange Zeit mit viel Einsatz versucht haben, den Bildungsauftrag der Schule zu erfüllen. Warum sollten sie sich jetzt für einen Noteinsatz, der nichts an Zuständen ändert, zur Verfügung stellen?
Die Überlastung der Bildungsarbeit
Der gegenwärtige Rückzug der Lehrer aus der Bildungsarbeit ist nicht Ausdruck irgendeiner Bequemlichkeit, die mit „gutem Willen“ zu überwinden wäre. Eine solche Darstellung erweist sich als völlig schief, wenn man sieht, wie ehemals normale Klassen mit allen möglichen Problemfällen geflutet wurden – Problemfälle, die weder bereit noch in der Lage sind, mehr als 10 Prozent des Unterrichts zu verfolgen, und die zugleich einen Großteil der Aufmerksamkeit der Lehrer in Beschlag nehmen. So stehen die normal interessierten Schüler gar nicht mehr im Fokus des Unterrichts. Statt Zuwendung erfahren sie eher Abwendung des Lehrers.
Und das liegt nicht an den Lehrern. Sie sehen sich in diese Rolle gedrängt und haben es gar nicht in ihren Händen, diese Situation zu ändern. So versuchen sie, diese Situation irgendwie zu überstehen und ein Minimum an Unterricht durch Zugeständnisse zu erkaufen. Und sie reduzieren ihre Stundenzahl – als Antwort auf eine Unterrichtskrise, in der die Grundbedingungen von Bildungsarbeit nicht mehr gegeben sind. Wenn dann Forderungen nach Mehrarbeit erhoben werden, reagieren sie mit einem gerechten Zorn. Sie sehen sich „an der Front“ und wollen nicht verheizt werden. Mit einem genüsslichen Streben nach „Work-Life-Balance“ hat das nichts zu tun.
Die Aushöhlung der Bildungsarbeit
Es gibt noch einen anderen Aspekt der Krise: In Deutschland absolvieren über 50 Prozent eines Jahrgangs eine höhere Schulbildung, die dann zum Hochschulbesuch führt. Aber zugleich beobachtet man einen Mangel an praktisch-technischen Hochschulabsolventen (in den MINT-Fächern). Und es gibt, elementarer noch, riesige Nachwachsprobleme bei den verschiedensten Facharbeiter-Berufen. Deutschland hat eine Arbeitskrise. Aber man lenkt – schon auf der Ebene des Schulbesuchs – den Großteil eines Jahrgangs weg von einer beruflichen Fachausbildung.
Man entfremdet ihn einem Berufsbereich, der für Deutschland lebenswichtig ist. Dieser Prozess beruht auf einer Entwertung des fachlichen Wissens – durch die Konkurrenz eines aufgeblähten Sektors von angeblich „höherer“ Bildung. Doch die höhere Bildung unserer Gegenwart ist zu einem erheblichen Teil eine Scheinbildung, in der Fachwissen durch generalisierende Themen und moralisierende Urteile ersetzt wird. Das entwertet die Unterrichtssituation und die Rolle der Fachlehrer. Anstelle von Bildungsarbeit tritt ein bloßes Begleiten von „selbsttätigen“ Schülern. Es gibt also eine künstliche Aufblähung und innere Aushöhlung der höheren Schulbildung und eine gigantische Verschwendung von Bildungsressourcen – sowohl bei Lehrern (ohne Fachautorität) als auch bei Schülern (die sich selbst überlassen sind). Auch diese zunehmende Scheinhaftigkeit höherer Bildung hat zum stillen Rückzug vieler Lehrer geführt.
Schulwende und Wärmewende
Das Bildungssystem ist seit Jahrzehnten eine hoffnungslose Dauerbaustelle, auf der mit großen Abrissmaßnahmen und noch größeren Zukunftsvisionen alle möglichen „Wenden“ probiert wurden. Die Ergebnisse sind verheerend. Wenn man die theoretische Gläubigkeit und praktische Ahnungslosigkeit sieht, mit der in diesen Tagen die „Wärmewende“ auf das Land losgelassen wird, fühlt man sich fatal an die Schulwende erinnert. Und man hat ein Modell, wie ein Land seine ganz realen Errungenschaften doch verspielen kann.
Und nun soll es bloß „Lehrermangel“ sein
Heike Schmoll bezieht sich in ihrem Kommentar auf eine Erfahrung in Hessen im Frühjahr 2022, als es darum ging, Flüchtlingskindern, die wegen des Kriegs in der Ukraine nach Deutschland gekommen waren, Unterricht anzubieten. Dieser Appell an das Helfen fand einigen Widerhall. Doch Schmoll versucht nun, diesen Mehrarbeits-Hebel für eine Linderung der kritischen Situation an den Schulen insgesamt einzusetzen: „Wenn in anderen Ländern ähnlich hohe Deputatserhöhungen unter den pädagogisch professionell ausgebildeten Lehrern möglich wären, ließe sich der Lehrermangel zwar nicht beheben, aber erheblich lindern.“
Die zornige Reaktion vieler Lehrer erklärt die FAZ-Bildungsexpertin damit, dass sie nicht die Folgen von Fehlplanungen der Kultusminister tragen wollen: „Viele Betroffene sind deshalb so wütend, weil sie nun für die Kurzsichtigkeit der kultusministeriellen Planung büßen sollen.“ Man sieht, wie mit der Kritik an „Kurzsichtigkeit“ und „Planung“ das Problem verharmlost wird. Vor allem verfehlt die Behauptung, es gehe bloß um „Lehrermangel“, völlig die unhaltbaren Bedingungen der Bildungsarbeit. Würde man mehr Lehrer an die Front schicken, würden auch sie an den Bedingungen, die sie in der Schulrealität antreffen, scheitern.
Die katastrophalen Defizite beim Lesen, Schreiben und Rechnen sind so nicht zu beheben. Bei Schmoll erscheinen die Zustände an den Schulen als eine Art Zwischentief, als ein Konjunkturproblem bei der Lehrerversorgung. Die geforderte Mehrarbeit der Lehrer erscheint als eine bloße Überbrückungsmaßnahme, aber es gibt kein rettendes Ufer. Der jetzt vorgeschlagene Noteinsatz wird bald zu einer neuen Normalität erklärt werden. Das Retten wird zum Dauerzustand. Die Devise „Den Schülern helfen“ ist daher eine falsche Grundentscheidung in einer kritischen Situation.
Ein schwieriger, aber notwendiger Rückzug
Die Lehrer sollten auf ihrer Entscheidung für eine Reduzierung ihrer Arbeitszeit oder für den vorzeitigen Ruhestand beharren. Sie haben diese Entscheidung nicht böswillig getroffen. Sie haben sie sich auch nicht leicht gemacht, sondern schweren Herzens getroffen. Und es gibt etwas fundamental Richtiges in diesem Rückzug. Es ist ein Rückzug aus einer Arbeit, die durch bildungsfremde Ideen und leistungsfremde Reformen entwertet und zerstört wurde.
Deutschland braucht in diesen Zeiten die Fähigkeit zum Rückzug aus einem falschen, sinnlosen und aussichtslosen Tun. Je mehr versucht wird, über das ganze Land unter Berufung auf „unsere Ziele“ eine große Mobilmachung zu verhängen, wird genau diese Fähigkeit gebraucht. Der Rückzug aus vielen Arbeitsfeldern, der ebenso wie der Rückzug aus Investitionen gegenwärtig zu beobachten ist, ist ein Akt des Selbstschutzes. Aber er macht auch für Andere den Ernst der Lage fühlbar. Dafür muss der Rückzug gar nicht total sein. Man muss nicht gleich auswandern. Es gibt immer noch manches richtige Tun im falschen. Der Satz „Bleibe im Land und nähre dich redlich“ kann so verstanden werden.
In der neuzeitlichen Geschichte waren Korrekturen von Irrwegen oft von solchen Rückzügen begleitet. Sie bildeten gewissermaßen ein Grundgrollen im Land, das durch keine Mobilmachung mehr zu bewegen war. Bis dann irgendwann die Kraft zu einer großen, ausdrücklichen und vor allem dauerhaften Korrektur da war.
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Die Schule krankt an mehreren Stellen. Vor allem ist es die Überfrachtung mit lern- und lebensuntüchtigen Schülern, die weder im Elternhaus noch im Kindergarten gelernt haben, sich zu benehmen und aufmerksam zu sein. Dann wird die Grundschule nicht mehr als Grundlagenschule genutzt, in der Lesen, Schreiben, Rechnen im Vordergrund stehen, sondern Wohlfühlpädagogik ohne Leistungsanspruch. In der weiterführenden Schule ist das größte Problem die Inklusion und die Einbindung der Migranten ohne Deutschkenntnisse. Diese Schüler ziehen soviel Arbeit und Kraft auf sich, daß für die anderen nichts übrigbleibt; man schämt sich als Lehrer, daß man jene links liegen läßt, die nicht unbedingt… Mehr
Die meisten Lehrer unterstützen einen links-günen Kurs! Sie sind in der Mehrzahl linien- und systemtreu! Noch mehr Unterricht, heißt, noch mehr Indoktrination und links-grüne Ideologie! Für mich ist das garantiert keine Alternative!
Gerade und aktuell auf youtube gesehen:
Freie Privatschulen zulassen oder genossenschaftlich organisieren , den Rest regelt der Markt . Übrigens vielen Dank Herr Held für die beiden letzten Absätze , man darf nicht flüchten um nicht zu verlieren , es reicht wenn man dem Elend ein gutes Vorbild und eine bessere Alternative entgegenhält , der Feind von allem Schlechten ist bekanntlich das Bessere .
Es gibt so viele „Journalisten“ (vgl. freierjournalist: „Journalist ist keine geschützte Berufsbezeichnung. Das heiß, dass sich jeder so nennen kann.“) Warum macht sie nicht den Lehrer-Quereinsteiger für Lesen, Rechnen und Schreiben? Oder braucht sie erst nicht-rassistisch transformierte Fächer?
Im übrigen gehört die Dame nach diesem Vorschlag m. E. zu denjenigen, die gegen durch unbegrenzte Zuwanderung verursachten Wohnungsmangel auch das „Zusammen“rücken empfehlen. Gegen Strommangel das Abschalten von Verbrauchern. Gegen staatlichen Geldmangel aufgrund zu hoher Ausgaben das Erhöhen von Gebühren und Steuern etc.
Es gibt so viele „Journalisten“ (vgl. freierjournalist: „Journalist ist keine geschützte Berufsbezeichnung. Das heiß, dass sich jeder so nennen kann.“) Warum macht sie nicht den Lehrer-Quereinsteiger für Lesen, Rechnen und Schreiben? Oder braucht sie erst nicht-rassistisch transformierte Fächer?
Im übrigen gehört die Dame m. E. zu denjenigen, die gegen durch unbegrenzte Zuwanderung verursachten Wohnungsmangel auch das „Zusammen“rücken empfehlen. Gegen Strommangel das Abschalten von Verbrauchern etc.
Sehr gute Analyse. Es ist nicht allein der Lehrermangel, sondern eine jahrzehntelange falsche Bildungspolitik, die nicht mehr weiß, welches Ziel eigentlich erreicht werden soll. Die bedarfsorientierte Ausbildung und das Leistungsprinzip wurde gegen das neue Ziel „Bildung als Menschenrecht“ abgelöst. Aber auch mit diesem ehrenwerten Ziel ist man krachend gescheitert, wenn man sich die hohe Zahl derer anschaut, die keinen Schulabschluss erreichen. Und an den Universitäten hat man nicht den selbständig denkenden Menschen heran gebildet, sondern ein in weiten Teilen akademisches Proleteriat. Ausbildung und Bildung ist nicht primär eine Geldfrage, sondern eine Entschediung darüber, wie ein junger Mensch bestmöglich mit seinen… Mehr
Ich bedaure jedes Kind das heute zur Schule gehen muss…nicht nur wegen der mangelnden Bildungsvermittlung, der maroden Infrastruktur und der demotivierten linken Lehrerschaft…auch wegen der Gewalt und der Bedrohung auf Schulhof und Schulweg. Ne…das möchte ich echt nicht erleben….die Gnade der „frühen Geburt“.
Ja, die typische Lösung genialer Poliker: wir erhöhen einfach das Stundendeputat,ganz einfach.
Einige Zeit später: Huch, wieso gibts denn da so hohe Krankenstände?Und immer mehr burnouts und Frühpensionierungen. Völlig unerklärlich…….
Wer es sich leisten kann, fördert seine Kinder privat. Das deutsche Bildungssystem ist darauf ausgelegt, die Spaltung der Gesellschaft zu vertiefen. Das hat System und ist so gewollt. Wer sich von dem Gerede der „Chancengerechtigkeit“ (was für ein lachhaftes Unwort) einlullen lässt, hat einfach Pech gehabt.
Wer’s in der Schule nicht packt, gibt der Schule die Schuld. Wer’s im ganzen Schulsystem nicht packt, gibt dem Schulsystem die Schuld.
Das stimmt. Unsere Nachbarn (beide Ärzte) haben drei ihrer vier Kinder schon vor Corona in ein Internat „gesteckt“, weil die niedersächsischen Schulen ein Graus waren (sind) und die Leistungen der Kinder immer schlechter wurden.
Die Leistungen der Kinder, die nun die Woche über im Internat und am Wochenende zuhause sind, haben sich seitdem gravierend verbessert.
Da Privatschulen und Internate einen Haufen Geld kosten, kann man wohl mit Fug und Recht behaupten: Staatliche Schulen sind der Garant für Nichtbildung und gute Schulbildung ist nur für reiche Familien zu haben.