Ukraine: Die Lage wird noch unübersichtlicher und gefährlicher

Welche Erklärung auch immer für das schon oft befürchtete Geschehen am Staudamm zutrifft, in jedem Fall zeigt es, dass die Eskalation weiter geht - und noch schlimmer: Ich befürchte, dass die Fäden den Führungen beider Seiten entgleiten könnten, so dass nichts mehr an Eskalation ausgeschlossen werden kann.

IMAGO / UPI Photo

Der Österreichischen Rundfunk (ORF) meldet, russische Truppen hätten nach Angaben des ukrainischen Militärs den Kachowka-Staudamm im russisch kontrollierten Teil der Region Cherson gesprengt: „Das Ausmaß der Zerstörung, die Geschwindigkeit und die Menge des Wassers sowie die wahrscheinlichen Überschwemmungsgebiete werden derzeit geklärt“, schrieb das Kommando Süd.

Der Bürgermeister der Stadt Nowa Kachowka widersprach der russischen Nachrichtenagentur Ria nach der Sprengung des Staudamms. Er berichtete von Schäden durch Artilleriebeschuss. In russischen und ukrainischen sozialen Netzwerken kursierten zahlreiche Beiträge, wonach der am Fluss Dnipro liegende Damm zerstört worden sei.

Ein Twitter-account der sich sehr regelmäßig und pro-ukrainisch zur Ukraine äußert, wahrscheinlich selbst Ukrainer ist und womöglich in der Ukraine lebt, setzte heute mehrere Tweets ab:

Der ORF hatte auch geschrieben: „Das Reservoir (der Stausee) versorgt die Halbinsel Krim mit Wasser wie auch das besetzte AKW Saporischschja. Weitläufige Überschwemmungen würden befürchtet.“ Dazu der Tweet von @BrennpunktUA:

Zu Überschwemmungen twittert @BrennpunktUA dies …

… und mit persönlichem Familienbezug:

Dann kommentiert @BrennpunktUA militärisch und politisch:

Dass die Ukraine und ihre Unterstützer dies so sehen und auch sehen wollen, ist nicht überraschend. Unsereins kann das nicht beurteilen und selbstverständlich schließe ich auch nicht aus, dass ukrainische und/oder russische Artillerie die schwere Beschädigung des Staudammes verursacht hat – oder eine Sprengung, die keine russische sein muss.

Entgegen des Berichts von exxpress.at ist das AKW Saporischschja flußaufwärts des Kakochwa-Dammes wohl zu weit entfernt, um ernsthaft betroffen zu sein. Wie das mit dem Damm weiter geht, steht allerdings in den Sternen.

Selbst das gut informierte Spahn-Team weiß noch nicht viel, wenn ich von dort höre, es handle sich wohl um ein Ablenkungsmanöver als auch eine Verzweiflungstat der Russen, denen, insbesondere auf eigenem Territorium nördlich der Ukraine, das Wasser bis zum Hals stehe. Aber dazu gebe es nur sehr dünne Verlautbarungen.

Welche Erklärung auch immer für das schon oft befürchtete Geschehen am Staudamm zutrifft, in jedem Fall zeigt es, dass die Eskalation weiter geht – und noch schlimmer: Ich befürchte, dass die Fäden den Führungen beider Seiten entgleiten könnten, so dass nichts mehr an Eskalation ausgeschlossen werden kann.


Was die Nachrichtenagentur dts meldet, dürfte den allgemeinen Nachrichten-Tenor in den Westmedien wiedergeben:

Kachowka-Staudamm in Cherson gesprengt

Cherson (dts Nachrichtenagentur) – Der Kachowka-Staudamm im russisch kontrollierten Gebiet der Region Cherson in der Ukraine ist offenbar gesprengt worden. Das geht aus übereinstimmenden Medienberichten hervor. Der Schaden am Staudamm sei verheerend und die Reparaturen mit einem Neubau zu vergleichen, sagte der Leiter der örtlichen Verwaltung, Vladimir Leontyev, der russischen Nachrichtenagentur Tass.

Die International Atomic Energy Agency (IAEA) sehe aktuell keine akuten Risiken für die nukleare Sicherheit des nahe gelegenen Atomkraftwerks Saporischschja, hieß es weiter. Aufgrund der Explosion wird der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Dringlichkeitssitzung des Nationalen Sicherheitsrates der Ukraine abhalten, teilte der Sicherheitsratssekretär Olexij Danilow auf Twitter mit. Eine Vielzahl an Ortschaften sind wohl betroffen, Tausende Menschen müssen evakuiert werden.

Beide Kriegsparteien weisen sich gegenseitig die Schuld an der Sprengung zu. Laut dem britischen Militärgeheimdienst kam es unterdessen in den letzten 48 Stunden zu einer erheblichen Zunahme der Kämpfe an zahlreichen Frontabschnitten, auch an solchen, die seit mehreren Monaten relativ ruhig waren. Gleichzeitig habe die Fehde zwischen der Wagner-Gruppe und dem russischen Verteidigungsministerium ein beispielloses Ausmaß erreicht, heißt es im täglichen Lagebericht aus London.

Zum ersten Mal hat Wagner-Besitzer Jewgeni Prigoschin behauptet, die Armee habe vorsätzliche, tödliche Gewalt gegen Wagner-Einheiten eingesetzt. Nach einer Auseinandersetzung habe Wagner wahrscheinlich einen Brigadekommandeur der russischen Armee festgenommen, so die Briten. Die meisten Streitkräfte Wagners seien inzwischen aus Bachmut abgezogen worden.

Da es Russland an Reserveeinheiten mangele, werde die Frage, inwieweit Wagner weiterhin auf das Verteidigungsministerium reagiert, ein Schlüsselfaktor für den Konflikt in den kommenden Wochen sein, heißt es weiter.


Dass die Wirkung der materiellen Staudammzerstörung politisch und vor allem auch propagandistisch weit streut, zeigt diese historische Aufladung:

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Kommentare ( 75 )

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Teiresias
1 Jahr her

Der Staudamm war unter russischer Kontrolle. Die Flutung hätten die Russen auch einfacher durch Öffnen der Schleusen erreichen können – mit der Option, die Schleusen wieder zu schliessen, wenn man es für nützlich erachtet. Die strategische Konsequenz aus der Sprengung ist, daß beide Seiten auf absehbare Zeit keine grösseren Offensiven in der Region durchführen können. Damit wird der Krieg zeitlich herausgezögert. Das nützt zunächst einmal den USA, die für die Ukraine eine Luftstreitmacht aufbauen wollen und dafür Zeit brauchen. Der katastrophale Verlauf der ukrainischen Offensive im Norden (ca. 4000 Tote in 3 Tagen) zeigt, wie wichtig Luftüberlegenheit bei Kampfhandlungen in… Mehr

Joe X
1 Jahr her
Antworten an  Teiresias

Nein, durch Öffnen der Tore hätte eben nicht der gleiche Effekt erzielt werden können. Mal abgesehen davon, dass zumindest einige der Tore beschädigt wurden, als die Straße über die Stauanlage zerstört wurde, kann der See dadurch (laut Wikipedia) nur von der maximalen Stauhöhe von 16 m auf minimal 12,6 m abgesenkt werden. Um eine maximale Flutwelle und das komplette Leerlaufen des Sees zu erreichen, muss man die Staumauer zerstören.
Auch die mediale Aufmerksamkeit und die mutmaßlichen Ziele Terrorisieren der Bevölkerung und Ablenkung von etwas anderem lassen sich nur durch eine spektakuläre Sprengung erreichen.

Kassandra
1 Jahr her

Nicht zum aktuellen Geschehen ein Interview mit dem Schweizer Analysten Jacques Baud, der in seiner Einschätzung u.a. die Schwäche der westlichen Gesellschaft beschreibt: https://schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-international/hintergruende-und-elemente-des-ukraine-krieges.html
Vieles, was er erläutert, scheint bedenkenswert – gerade weil es bei uns nicht vorkommen, nicht angesprochen und schon gar nicht diskutiert werden darf. Wie ist es dazu gekommen, dass wir nicht mehr frei über alles sprechen können, was geschieht – wir aber verpflichtet werden, alles mitzumachen, indem wir zahlen?

Hummi
1 Jahr her

Mich erinnert das alles an den Anschlag auf N2 ! Da auch dieser Krieg irgendwann zu Ende gehen wird , ob das unsere Kriegsgailen im Land nun wollen oder nicht , wird dann die Wahrheit an das Licht kommen ! Gespannt darf man dann sein wieviele sich dann plötzlich wie nach Corona aus dem Staub machen und von alle dem was sie aktuell sagen und schreiben nichts mehr wissen wollen ! Für mich ist klar das dieser Krieg keine Sieger hat und er früher oder später mit einem Waffenstillstand endet !

Last edited 1 Jahr her by Hummi
Mikmi
1 Jahr her

Der Schuldige steht schon fest, für mich wird es immer unglaubwürdiger.
Eine Flutwelle, erst 10-12 m, dann 5 m und nun muss ich in den Nachrichten sehen, die Verkehrsschilder schauen noch 1 m aus den Wassermassen.
Ich denke, ein Ukrainer würde die Bilder sofort richtig deuten, alles sehr schmutzig, diese Berichtserstattung. Erinnert mich an Italien, die angebliche Dürre im Norden.

Der Winzer
1 Jahr her

Schön, dass TE der ukrainischen Propaganda so breiten Platz einräumt. Eine etwas andere Sicht zum Ausgleich bieten dafür die Kollegen von tkp.at: Staudamm in der Ukraine zerstört (tkp.at) Ihrer im Text enthaltenen (Selbst-)Einschätzung ist voll & ganz zuzustimmen: „Unsereins kann das nicht beurteilen und selbstverständlich schließe ich auch nicht aus, dass ukrainische und/oder russische Artillerie die schwere Beschädigung des Staudammes verursacht hat – oder eine Sprengung, die keine russische sein muss.“ Aber warum dann die einseitige Bezugnahme auf ukrainische Quellen und den „Tenor der Westmedien“ ? Ihre Einschätzung wer oder was hinter „dem britischen Geheimdienst“ steht, haben Sie ja vor… Mehr

Wolfgang Schuckmann
1 Jahr her
Antworten an  Der Winzer

Ja, ich kann Ihnen folgen, denn die Fragen sind schlüssig und stringend.
Fragt man sich wer den größten Nutzen aus der Sprengung des Dammes zieht, und denkt dabei an ihre Fragen, dann ist man ein gut Stück weiter auch bei anderen Puzzles dieser Tage. Die Einschätzung es könnte in Kürze ans “ Eingemachte“ gehen, dürfte wohl als Konsequenz sicher sein. Wer’s nicht wirklich glaubt sollte sich warm anziehen, denn der Krieg zieht unübersehbar herauf und wir im Westen des Kontinents werden davon genau so betroffen sein wie andere , die nicht glauben wollen, was sich die Hochfinanz ausgedacht hat.

Joe X
1 Jahr her

Was mich doch sehr irritiert, ist wie sich die Bilder des Damms über den Tag verändert haben. Auf den Bildern, die offensichtlich in der Morgendämmerung aufgenommen wurden, ist ein Loch im Kraftwerk und in der Staumauer (in Flußrichtung rechts vom Kraftwerk) zu sehen. Aber der Damm zwischen Kraftwerk und Schleuse (auf der linken Flußseite) ist in Takt. Hierbei handelt sich nach den Archivbildern nicht um eine Mauer, sondern um einen massiven Damm, der sogar oberhalb und unterhalb etwas Vorland besitzt, auf dem z.T. Gebäude stehen. Auf den Fotos später vom Tag (wenn die Sonne offensichtlich höher steht) ist dieser Damm… Mehr

Roland Mueller
1 Jahr her

Wer davon ausgeht, dass dem Herrn Selenskyj und der ukrainischen Armee das Wasser bis zum Hals steht, liegt vermutlich richtig.

Kassandra
1 Jahr her
Antworten an  Roland Mueller

Wie ist das dann mit denen, die den ganzen Krieg seit Jahren zahlen? Denn die Ukraine waren schon 2014 so gut wie pleite – einen Krieg jedenfalls hätten sie sich dort nie leisten können. Thomas Röper ordnet eindeutig zu und beschreibt auch, dass das nicht der erste Beschuss des Damms wie des Kraftwerkes ist. Die Straße, die als einzige Verbindung am Damm entlang von einer Flußseite zur anderen führt, soll schon länger wegen Zerstörungen nicht mehr genutzt werden können. Dort im Kommentar: „Darüber, dass die Ukrainer den Damm schon mal zerstören wollten, schrieb auch die WashingtonPost im Dezember letzten Jahres… Mehr

Memphrite
1 Jahr her

Genau deshalb haben sich die Russen damals Ende September/ Oktober 2022 aus Kherson und dem westlichen Dnjepr zurückgezogen. Man wusste, sollte der Damm gesprengt werden, wird dieser die Versorgungslage der westlichen Truppenteile für lange Zeit sehr erschweren/ unmöglich machen. Die Überflutung an sich hat für beide Seiten Vor- und Nachteile. Sollten Sie Russen selbst in die Offensive Richtung Odessa (nach der „erfolgreichen ukr. Gegenoffensive) gehen, besteht nun jedenfalls keine Gefahr mehr die Flussübergänge/ Pontonbrücken durch die Sprengung des Damms in Gefahr zu bringen. Schade das nicht über die gleichzeitige „Gegenoffensive“ der ukr. Armee vom 5. Juni detaillierter berichtet wird. Dort… Mehr

89-erlebt
1 Jahr her

Nazi Sprech … wo bleibt die Anklage bei Harbarth & Haldenwang ??

Chris Groll
1 Jahr her

Da möchte ich nur mit zwei Zitaten antworten:
Winston Churchill sagte einmal:

„Im Kriege ist die Wahrheit so kostbar, dass sie immer von einer Leibwache von Lügen umgeben sein sollte.“

Dem US-Republikaner Hiram Johnson wird das Zitat zugeschrieben

„Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit