Ein Tor macht Geschichte: Jürgen Sparwasser wird 75 Jahre alt

Jürgen Sparwasser war ein Held der DDR. Er schoss 1974 das einzige Tor beim einzigen Spiel gegen die BRD. Doch ausgerechnet der Volksheld wurde später zum Volksverräter - an diesem Sonntag wird er 75 Jahre alt.

IMAGO / STAR-MEDIA

Ohne Frage war 1974 das Jahr des Jürgen Sparwassers. Am 22. Juni schoss er in Hamburg das Tor, das ihn berühmt machte. Das 1:0 für die DDR gegen die BRD. Der einzige Treffer im einzigen deutsch-deutschen Länderspiel. Ein Stück Geschichte. Doch darüber mag der Stürmer aus Magdeburg heute, da er 75 Jahre alt geworden ist, nicht mehr gerne reden. Ihm ist ein anderes Tor lieber. Eines, das er ebenfalls 1974 geschossen hat.

Es war das 2:0 gegen Sporting Lissabon. Im Halbfinale des Europapokals der Pokalsieger. Der 1.FC Magdeburg gewann auch später das Finale gegen den großen AC Mailand. Vor 5000 Zuschauern in Rotterdam. Es war der erste internationale Titel eines Teams der DDR. Doch nur wenige sahen das Spiel live. Die Mailänder wollten nicht – die Magdeburger durften nicht. Es war 1974, die DDR das Paradies der Arbeiter – ein Paradies, aus dem zu fliehen gefährlicher war als aus einem Gefängnis.

Sparwasser war ein schneller, kluger und technisch starker Stürmer. Er konnte aber auch im Fünfer auf Abstauber warten wie Gerd Müller. Oder einen unliebsamen Gegenspieler abgrätschen wie Berti Vogts. Bei dem 1:0 gegen die BRD kommen ihm alle Eigenschaften zugute: Der eingewechselte Erich Hamann hat im rechten Halbfeld alle Zeit der Welt und schlägt einen sauberen langen Ball diagonal Richtung gegnerischen Strafraum: Sparwasser kommt von links, nimmt den Ball gegen dessen Flugrichtung an und überläuft dabei den Bremer Horst-Dieter Höttges.

Das Spiel ist viel langsamer als heute. Kein Vergleich. Während Sparwasser den Ball schon einschussbereit vor sich liegen hat, kraxelt Sepp Maier eine, zwei endlos lange Sekunden über den Boden. Dann hat der Magdeburger Erbarmen und haut den Ball zum entscheidenden Treffer ins Netz. Noch zwölf Minuten müssen die Ostdeutschen durchhalten, dann steht der historische Sieg. Es wird das einzige Spiel und das einzige Tor in der Paarung BRD gegen DDR bleiben.

Für die westdeutschen Spieler ist es kein schönes Turnier. Nicht nur wegen der Niederlage gegen den Klassenfeind. Die RAF soll eine Raketendrohung auf das deutsch-deutsche Spiel ausgesprochen haben. Ihre Echtheit wurde nicht bewiesen. Palästinensischer Terror drohte aber zwei Jahre nach den Spielen von München, nordirischer und chilenischer obendrein. Die Spieler wurden in Malente kaserniert, streng bewacht und fast ohne Bewegungsfreiheit.

Die wird auch dem DDR-Team genommen. Von dem sozialistischen Regime. Das fürchtet eine Flucht seiner Bürger, die im Westen bleiben könnten. Das gilt für die Spieler, das gilt erst recht für die 1500 handverlesenen „Touristen“, die zum Spiel nach Hamburg reisen dürfen. Die Tour ist ein Staatsakt der „Staatssicherheit“. Penibel hat ihn die Stasi so vorbereitet, dass es ein Gefangenenausflug war, der nicht wie ein Gefangenenausflug aussah. Fast mit Erfolg. Ein Tourist flieht trotzdem.
Die kümmerliche Kulisse einen Monat zuvor in Rotterdam ist durch die gleiche Furcht des Staates vor dem Weglaufen seiner Bürger geprägt. Die Weltmeisterschaft und das Spiel gegen den Klassenfeind war Prestigesache. Dafür nahm die Stasi den unglaublichen Aufwand in Kauf. Ein Vereins-Wettbewerb war das dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ nicht wert. Mit dem Pokalsieg qualifiziert sich Magdeburg für den Supercup gegen den Sieger des Landesmeister-Pokals: den FC Bayern München. Doch das SED-Regime untersagt den Magdeburgern anzutreten.

Die Spieler sind im sozialistischen System nur Masse. Als Magdeburg den Pokal der Pokalsieger gewinnt, erhält der Verein eine Prämie von 250.000 Franken. Das Geld schlägt sich ein sozialistischer Funktionär unter den Nagel. Als Prämie für die erfolgreichen Spieler gibt es – alles zusammengerechnet – nichts. Zwei Jahre nach dem Erfolg schasst der Staat den Magdeburger Erfolgstrainer und sportlerichen Ziehvater Jürgen Sparwassers, Heinz Krügel. Die Funktionäre verlangten von ihm, dass er die Mannschaft 40 Stunden die Woche trainieren lässt. Krügel hielt das für Quatsch. Er wurde drei Mal DDR-Meister, drei Mal DDR-Pokalsieger und eben Sieger des Europapokals. Doch im Sozialismus hat die Partei immer recht – auch wenn sie Unsinn beschließt.

Sparwasser ist in der DDR kein Rebell. Eigentlich. Der Weltmeisterschaft wegen tritt er 1973 in die SED ein. Der WM-Held könnte nach seiner aktiven Karriere ohne weiteres Trainer werden. Doch er bleibt freiwillig Assistent. Er hat keine Lust auf die SED-Treue, die er für den Chefposten demonstrieren müsste. Als dann seine Tochter einen Ausreiseantrag stellt und daraufhin den für den sozialistischen Staat handelsüblichen Psychoterror erlebt, reicht es ihm. Er nutzt 1988 eine günstige Gelegenheit und setzt sich nach einem Altherrenspiel in Saarbrücken ab. Seine Frau befindet sich zu der Zeit ebenfalls auf Westbesuch. Die Staatsmedien der DDR melden, Sparwasser habe sein Team verraten. Es folgt eine kurze Karriere als Co-Trainer bei Eintracht Frankfurt und als Cheftrainer bei SV Darmstadt 98.

Das historische Tor am 22. Juni 1974 ist für Jürgen Sparwasser Fluch und Segen zugleich. Es sicherte ihm einen Platz in der deutschen Geschichte. Es reduziert einen vielschichtigen Menschen und Spieler, aber auch auf eben dieses eine Tor. Andererseits: Eine perfekte Ballmitnahme, ein hoch intelligenter Laufweg, Gedankenschnelle und Ruhe im Abschluss. Wenn man schon auf eine Szene reduziert wird, gibt es schlechtere Szenen.

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Kommentare ( 8 )

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Marco Mahlmann
1 Jahr her

Etliche Fußballer werden mit genau einer Szene verbunden, und bei den meisten ist es Ehre und Anerkennung: ausgerechnet Schnellinger; die Hand Gottes; Brehme unten links; aus dem Hintergrund müßte Rahn schießen; Kahn! die Bayern!; meine Damen und Herren, wenn Sie jemals ein echtes Müller-Tor gesehen haben; nein, nicht im Tor! oder doch?! – usw. usf.

Wilhelm Roepke
1 Jahr her

Toller Artikel!

Paprikakartoffel
1 Jahr her

Vielen Dank! Auch einen solchen informativen und menschenzugewandten Artikel sucht man in den Haltungsmedien meist vergeblich.

H. Priess
1 Jahr her

Ich hab das nicht so richtig in Erinnerung da war ich 14 Jahre alt. Natürlich erinnere ich mich an das Tor von Sparwasser aber es gab hinterher das Gerede, daß dadurch die BRD erst Weltmeister werden konnte denn bei einem Sieg von ihnen wären sie in eine andere, schwierigere Gruppe gekommen. Weiß jemand ob da was dran ist?

Steve Acker
1 Jahr her
Antworten an  H. Priess

das tor von Sparwasser hat die deutsche Mannschaft wachgerüttelt.
Die Vorrunde hatten sie zwar geschafft , aber schwach gespielt und sich grad so durchgewurstelt.
Danach erfolgten Umstellungen und sie spielten viel besser, und gewannnen gegen Jugoslawien, Schweden , Polen.

niezeit
1 Jahr her
Antworten an  H. Priess

Da treffen Sie genau das Richtige: Keiner in West und Ost redete darüber, aber wer die panische Angst der damaligen Bundesrepublik vor den extrem spielstarken Brasilianern jener Ära in den Medien gespürt hat weiß, dass die Niederlage im „Prestigeduell“ den Westdeutschen entgegenkam. Die „DDR“ verlor anschließend knapp gegen Brasilien, die Bundesrepublik wurde Weltmeister. Die alte Bundesrepublik hat sich damals weit professioneller als die heutige verhalten.

Steve Acker
1 Jahr her
Antworten an  niezeit

Brasilien war 1974 nur noch ein Schatten der großen Mannschaft von 1970. Sie haben sich grade sich durchgewurstelt um in die zweite Runde zu kommen. Am Ende nur Turniervierter. Ich bezweifle dass Deutschland wegen ihnen mit Absicht verloren hat. Wenn überhaupt waren die Niederlande eher zu befürchten, dafür hatte Deutschland in der anderen Gruppe die sehr starken Polen als Gegner. Im Focus ist ein Artikel mit dem Titel: „Des Kaisers Revolte führt zum Titel“ . Beschreibt wie Beckenbauer auf den Tisch haute. Danach spielten die Deutschen viel besser als in der Vorrunde. Übrigens: in der WM Quali 1990 wären Deutschland… Mehr

Transpo
1 Jahr her
Antworten an  H. Priess

Für mich hat die BRD aus taktischen Gründen extra verloren. Bei jedem anderen Resultat wäre die BRD Gruppensieger geworden. In der Finalrunde warteten dann:
Argentinien
Brasilien
Niederlande.
Ob sie dann das Finale erreicht hätte, wage ich zu bezweifeln.