Michael Wolffsohn hat seinen Klassiker „Ewige Schuld?“ überarbeitet und neu herausgegeben. Die Lektüre lohnt sich auch für Leser, die das Original schon kennen. Der Historiker arbeitet heraus, wie der Holocaust die Geschicke der Bundesrepublik beeinflusst hat – und immer noch beeinflusst.
Die deutsche Geschichtsschreibung ist oft unzulänglich. Zumindest, wenn es um das Dritte Reich geht. Das kommt von der bundesdeutschen Lebenslüge: Nach der war Adolf Hitler ein Verrückter, der aus dem Nichts auftauchte und das Land okkupierte mit nichts mehr an seiner Seite als ein paar radikalen Helfern. Die nahmen sich aber gegen Ende des Krieges das Leben oder wurden in Nürnberg erhängt – und alles war gut.
Die Unzulänglichkeit der deutschen Geschichtsschreibung zeigt sich etwa, wenn es um den „Totalen Krieg“ geht. Der wird meist überbetont, weil er in das Bild des okkupierten Landes passt. Was indes gerne weggelassen wird: Die englische Wirtschaft hat schon Jahre vor der deutschen all ihre Ressourcen auf den Krieg umgestellt und dafür herangezogen. Es ist mehr als handwerkliches Versagen, dies wegzulassen. Es ist ein Stützgerüst für die Legende von Adolf Hitler, dem verrückten Einzelnen, und seinen paar radikalen Helfern, die das Land okkupierten.
Würde die Geschichtsschreibung anerkennen, dass die Nazis viel länger Rücksicht auf die Befindlichkeiten des Volkes genommen haben als die demokratischen Briten, dann müsste sie anerkennen, dass es dafür einen Grund gab. Das hieße wiederum einzugestehen, dass die Nazidiktatur eben doch vom Volk getragen wurde. Ebenso wie ihre Verbrechen. Denn Holocaust bedeutet, dass Menschen die Deportation vorbereitet haben. Dass Menschen die Juden von ihren Häusern zum Bahnhof getrieben haben. Dass Menschen an der Rampe in Auschwitz selektiert haben. Dass Menschen im Lager die Gefangenen quälten, ausbeuteten und schließlich, dass Menschen im Lager die Gefangenen systematisch töteten. Hitler allein hätte das nicht anrichten können – auch nicht mit ein paar radikalen Helfern an seiner Seite.
Das wirft eine Frage auf: Lohnt es sich, das neue Buch zu kaufen, wenn man „Ewige Schuld?“ in den Auflagen von 1988 oder von 1993 schon gelesen hat? Die Antwort lautet eindeutig: ja. Denn Wolffsohns Eingriffe sind nicht nur kosmetischer Natur. Er hat alte Kapitel ergänzt und komplett neue eingefügt. Dabei widerspricht er mitunter bewusst dem, was er in den ersten beiden Versionen formuliert hat. Das tut der Historiker im Sinne der Wissenschaft: „Mich reizt Selbstkritik, sie schreckt mich nicht ab. Sie zeigt einem nämlich, bar jeder auch sich täuschenden Taktik, ob, wie und warum man sein Denken und Fühlen verändert hat.“
Die Ausgabe ist lesefreundlich gehalten. So sind die neu eingefügten Stellen blau dargestellt. Das erleichtert dem Leser die Textgenese ungemein. Auch verzichtet der Wissenschaftler auf überbordende Quellenangaben oder Fußnoten und verweist dabei lediglich auf die Werke, in denen er diesen wissenschaftlichen Dienst geleistet hat. Das macht „Ewige Schuld“ zu einem Werk, das sich an eine breite Leserschaft wendet.
Das betrifft auch und vor allem die Sprache. Wobei die gefällige Sprache für Wolffsohn mehr als ein Kompromiss für seine Leserschaft ist. Verständlich zu schreiben ist Wolffsohns Haltung. Das Land des C-Worts, des N-Worts, des M-Worts oder des Z-Worts hat es sich abgewöhnt, Dinge beim Namen zu nennen. Dahinter steckt die Attitüde, sich am liebsten abzuducken, wenn es unbequem wird. Wolffsohn nennt beim Namen, spricht von Juden und vermeidet Wortungetüme wie „deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, die sich in guter Absicht in die deutsche Sprache eingeschlichen haben.
Das Zitat stammt aus dem neu eingefügten Kapitel zur Rolle Willy Brandts in der deutschen Israelpolitik und in der deutschen Judenpolitik. Das Kapitel demontiert das Bild des Säulenheiligen der Friedenspolitik, das vom Nobelpreisträger in Deutschland weithin herrscht. Wolffsohn zeigt schonungslos auf, wie Brandt den palästinensischen Terror durch eine Kompromissbereitschaft gefördert hat, die längst das Stadium der Selbstaufgabe erreicht hatte – und wie Helmut Schmidt diese Politik dann später korrigierte.
Wolffsohn geht schonungslos mit Brandts Rolle um. Aber er verurteilt den Kanzler nicht. Er zeigt ihn als jemanden auf, der im deutschen Spannungsverhältnis stand zwischen Geschichtspolitik einerseits und Real- beziehungsweise Tagespolitik andererseits. Gerade in Zeiten des Kalten Krieges war diese bitter notwendig.
Die Bundesrepublik hatte unter den Nato-Nationen die Aufgabe, die arabische Welt an ihr Lager zu binden und von dem des Kommunismus wegzuhalten. Diese Rolle kam West-Deutschland deshalb zu, weil es in der arabischen Welt einen guten Ruf hatte.
Und um die Dinge im Sinne Wolffsohns beim Namen zu nennen: Es war Hitler, der in der arabischen Welt einen guten Ruf hatte. Realpolitik sei notwendigerweise zynisch, schreibt Wolffsohn – und in der arabischen Welt war der Malus der „Ewigen Schuld“ Deutschlands ein Bonus. Wenn Brandt also erst spät Israel besuchte, erst spät den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden empfing und palästinensischen Mördern so weit entgegenkam, dass sich schon über Tatbegünstigung reden lässt, dann ist das den Zwängen der Zeit geschuldet.
Der neuen Auflage von „Ewige Schuld?“ ist ein Vorwort von Ahmad Mansour beigefügt. Der Psychologe sucht nach den Gründen für den – nicht nur in Deutschland – immer wiederkehrenden Antisemitismus. Und er warnt davor, ihn im Verhalten der Juden zu suchen: „Antisemitismus ist die Pathologie der Antisemiten. Und zwar ausschließlich.“ Genau wie Wolffsohn im Haupttext findet Mansour eine Erklärung dafür, warum der Staat der Juden für viele ein Feindbild ist. Warum Israel selbst und vor allem für die deutsche Linke ein Feindbild ist: Während Deutschland nach dem Holocaust den Weg gegangen ist, so Wolffsohn, nie wieder Täter sein zu wollen, und dies bis über die Grenze zur Selbstaufgabe trieb.
Währenddessen ist Israel den Weg gegangen, nie wieder Opfer sein zu wollen. Diese Perspektive zu übernehmen, fällt vielen schwer. Vor allem deutschen Linken, die gerne ihr Denken in weltweiten Kontexten verorten, aber oft nur die Perspektive einer knieenden Ameise haben. Oder wie es Mansour formuliert: „Die Meinung der Menschen zum Thema Israel scheint so fixiert zu sein, dass die Toleranz für Ambiguität auf der Strecke bleibt.“
Genau das ist die Stärke Wolffsohns: die Bereitschaft zur Ambiguität. Die Bereitschaft, Dinge nicht zu schildern, wie sie sein sollten, sondern wie sie sind, in all ihrer Widersprüchlichkeit. In Zeiten des Haltungsjournalismus ein selten gewordenes Gut. Vor allem deswegen lohnt es sich, „Ewige Schuld?“ zu kaufen und zu lesen – selbst wenn man die erste oder zweite Auflage schon im Bücherschrank stehen hat.
Michael Wolffsohn, Ewige Schuld? 75 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen. LMV, Klappenbroschur, 304 Seiten, 24,00 €.
Sie müssenangemeldet sein um einen Kommentar oder eine Antwort schreiben zu können
Bitte loggen Sie sich ein
Der Bundespriester Steinmeier sorgt schon dafür, dass die Deutschen nicht vergessen, eine Kollektivschuld zu tragen. Egal was auf der Welt passiert.
Erinnert mich an einen Sketch von Gerhard Polt über die Übernahme der Verantwortung: Da gibt es den Herrn Sittich von der Firma Schilda Response GmbH und Co KG, der gegen Entgelt die Verantwortung für alles und jedes übernimmt, vom Klimawandel bis hin zur Einführung der AKW.
Leider ist das so eine Sache mit dem Entgelt. Im Gegensatz zu Gerhard Polts Sketch wird von der Hampelregierung das Geld dafür noch rausgeschmissen. Benin-Bronzen der Trampoline sind ein typisches Beispiel.
„Würde die Geschichtsschreibung anerkennen, dass die Nazis viel länger Rücksicht auf die Befindlichkeiten des Volkes genommen haben als die demokratischen Briten, dann müsste sie anerkennen, dass es dafür einen Grund gab. Das hieße wiederum einzugestehen, dass die Nazidiktatur eben doch vom Volk getragen wurde.“ Dass die Nazidiktatur „vom Volk getragen wurde“ ist eine Binsenweisheit, die aber doch einer näheren Erläuterung bedarf: solange man vermeintliche wirtschaftliche Fortschritte und epochale Siege auf dem Schlachtfeld leicht propagandistisch präsentieren konnte, sind große Teile der Bevölkerung von dieser Diktatur überzeugt gewesen. Hätten Sie im Juli 1940 frei abstimmen lassen, hätten wohl eher 90 als 80… Mehr
Vom Volk getragen sind aktuell auch die starken sozialistischen Tendenzen in unserer Politik. Denn über unser Bildungssystem und die Wahlen bestimmen sie die Politik. Sie nutzen das Thema Umwelt und jetzt Klima. Judenfeindlichkeit war ja nicht nur in D Thema, vgl. die Dreyfus-Affäre in F. Aber Hitler hat sich die Vernichtung auf die Fahne geschrieben und in D eine gut geölte Maschinerie aufgesetzt. Und dazu braucht es „das Volk“ nicht. Nur ein paar entsprechend aufgesetzte „Menschen“, die wie Mitglieder von RAF oder Antifa gestrickt waren. Schlägertypen finden immer zusammen. „Hätten Sie im Juli 1940 frei abstimmen lassen, hätten wohl eher… Mehr
Natürlich wurde die Nazidiktatur vom Volk getragen. Aber das lag ja auch daran, dass das Volk andauernd und mit sehr hoher Effizienz belogen worden ist. Also etwas, was wir heute auch wieder erleben. Und wieder kriselt es. (Noch) nicht so massiv wie in den 20ern und 30ern des letzten Jahrhunderts, aber wir sind kurz davor. Das kann ganz schnell kippen. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch an anderen Orten. Ich denke da jetzt gar nicht an Russland, sondern gerade an die Türkei. Ein Land im Amokmodus reicht aus, um die Welt in einen Krieg zu stürzen. Verschachtelte Bündnisse… Mehr
Was genau sagt es eigentlich über das Amerikanische Volk aus, das als allerstes Konzentrationslager errichtete. Oder was sagt es über Briten aus, die mit 90% der Welt schon im Krieg standen und die zweiten waren, die Konzentrationslager errichteten, nämlich während der Buuren-Kriege. Oder Masseninterierungen von Deutschen 1919 und Weiterführen der KZ bis 1949 durch die Polen, gefüllt mit Deutschen. Die aktuell gelehrte Geschichte ist die der Siegernationen. Viele Geheimdokumente lagern übrigens in Britischen oder Russischen Archiven und sind Deutschen Historikern nicht zugänglich. Vielleicht wäre das auch mal Thema bei TE. Und ja, ich bin auch der Meinung, dass der Holocaust… Mehr
Ich würde allen Deutschen eher Nolte u.a. empfehlen. Das andere hat sich langsam überlebt. IBM hat übrigens sehr gut von der Arbeit in Ausschwitz profitiert, auch die Hochfinanz in den USA. Tel Aviv profitiert bis heute.
Dass von den tatsächlichen Tätern, Mithelfern und Nutzniessern des NS-Regimes [Jahrgänge 1870 – 1915] später keiner dabei gewesen sein wollte, ist erklärlich. Das macht aber alle anderen nicht zu Tätern, Mithelfern und Nutzniessern des NS-Regimes. Es ist mittlerweile wohl eine Generationenfrage, dass manche Jüngere nicht mehr wissen, dass Banken, Industrie, Grossgrundbesitzer, Adel, Generalitäten und Offiziere, Beamte sowie das Kleinbürgertum den Aufstieg des NS-Regimes und seiner Organisationen [SA, SS, NSDAP …] ermöglichten und ihn trugen. Ebenso unbekannt ist dann auch, dass der Terror des NS-Regimes sich zuerst gegen die eigenen Bürger richtete, so dass von der grossen Mehrheit der Bürger kaum… Mehr
Das Erste ist wohl richtig, das Zweite, die Lebenslüge, verstehe ich aber nicht: waren die 68 nicht die mit dem Transparent „unter den Talaren, Muff aus 1000 Jahren“? Genau wie die Graßwurzelgrünen von den K Gruppen unterwandert wurden, wurde die Frage der 68 Studenten nach einer wirklichen Aufarbeitung des 1000 Jährigen Reiches durch aus dem Osten finanzierte Kommunisten nicht systemanalytisch sondern parteikonform beantwortet, zB bei Pahl-Rugenstein (Steinmeier) oder bei Stamokap (Scholz). Und nicht vergessen: U. Meinhof begann als eine der Ersten die Verhältnisse in deutschen kirchlichen etc Heimen aufzuzeigen, die den Geist der schwarzen Pädagogik und der Naziideologie in sich… Mehr
Ist schon komisch, dass diese „Frage der Schuld“ zumindest in meiner Schulzeit (70-ca. 84) überhaupt keine Rolle spielte. Vielmehr ist diese ominöse Schuldfrage erst seit den späten 90’ern so richtig woke, so habe ich das jedenfalls beobachtet. Ebenso stelle ich bis heute fest, dass dieses Thema in der „einfachen“ Bevölkerung nahezu keine Rolle spielt, wobei man zugeben muss, dass es so ziemlich an allen „Aufmachern“ fehlt, die zu einem solchen Gespräch unter den „Schuldigen“ führen würden. Was möchte ich damit sagen? Nun, ich glaube, dass dieses Thema von aussen oktroyiert wird, allerdings stets mit allen Mitteln der Beeinflussung jener, die… Mehr
Man kann nur für etwas schuldig sein, was man selbst zu verantworten hat. Erbschuld gibt es genau so wenig wie den ewigen Anspruch auf Reichtum, nur weil die Vorfahren einmal reich waren. Es gibt aber eine moralische Verpflichtung zur Sensibilität, sowie es auch eine moralische Verpflichtung gibt sich mit seiner Vergangenheit und Zukunft auseinanderzusetzen. Diese Verpflichtung sagt mir, dass es sehr weise war eine Bundeswehr zu installieren, die ausschließlich Verteidigungsaufgaben wahrnimmt. Allen NATO Bemühungen zum Trotz. Es ist nicht die Aufgabe Deutschlands aktiv an kriegerischen Aktionen teilzunehmen.
Ergänzung:
Auch hier wieder nur meine Vermutung: Aber ich glaube, die größte Gefahr Israels liegt in den USA. Bei Demokraten und Linken gibt es eine Bewegung, die Juden als weiß und Palästinenser/Araber/… als PoC definieren will. Und wer die heutige USA kennt, weiß, was das bedeutet. Kein Mensch in den USA möchte heutzutage als weiß gelten.
Und ich glaube: Sollten die USA eines Tages Israel nicht mehr unterstützen, wäre es sehr schwierig für Israel sich zu behaupten.
Ich bin keine Expertin. Aber es scheint mir, dass das mit der „ewigen Schuld“ heute fast alle westlichen Staaten betrifft. Allem voran die hochmoralischen angelsächsische Staaten: Die USA mit der Sklaverei und den Indianern sowieso. Analog Kanada und Australien. Aber auch in GB, wo Churchill „gecancelt“ werden sollte (und vielleicht noch wird?). Überall wird die „Schuld“ dieser Staaten von diesen Staaten selbst demonstrativ hervorgehoben. Mir scheint, dass alles woke, was in der BRD heute geschieht, nichts speziell Deutsches ist, sondern die BRD einfach eine westliche Provinz ist, wohin Entwicklungen aus dem US-Zentrum zeitverzögert auftreten. Vergleichbar mit dem 18. Jahrhundert, wo… Mehr