Die Erfindung des inneren Wächters

Unser Wertesystem wird auf den Kopf gestellt: Freiheitsliebe gilt als „vulgär“, Diktatur wird denkbar, Verbote zum Geschenk des Staates an seine Bürger. Wie kam die Freiheit so unter Beschuss? Wer sind die Heckenschützen? Eine vorläufige Schadensbilanz – von Jürgen Schmid

@ Alexander Wendt

Vor Corona forderten klimabewegte Demonstranten der Fridays-for-Future-Szene: „Verbietet uns endlich etwas!“. Der freiheitseinschränkende Maßnahmenstaat erfand einen „vulgären“ Freiheitsbegriff, der allen unterstellt wurde, die auf grundgesetzlich verbriefte Rechte pochten; „Freiheit“ wurde zum Unwort des Jahres 2022 gewählt.

Jetzt, im ersten Nach-Corona-Frühling, bläst der Freiheit endgültig eisiger Sturmwind entgegen. Der MDR insinuiert, „‚Freiheit‘“ (in Anführungszeichen!) werde „zulasten des Klimaschutzes instrumentalisiert“ – von „Rechtsextremen und Rassisten“. Bei Suhrkamp heißt die Alternative: „Freiheit oder Leben?“, das Gebot der Stunde: „Verbot und Verzicht“. Zu Corona-Zeiten äußerte der Autor Thomas Brussig in der Süddeutschen Zeitung komplett ironiefrei, der Staat möge bitte „mehr Diktatur wagen“.

Im Klimakampf titelte die progressiv transformationsgesinnte Wochenzeitung Der Freitag schon 2019 „Öko-Diktatur? Ja, bitte!“.


In erstaunlich kurzer Zeit schafften es die heutigen „Sinn- und Heilsvermittler“ (Helmut Schelsky), das eindeutig negativ konnotierte Wort ‚Diktatur‘ und die Realität dahinter positiv, den bisher überwiegend positiv gefärbten Freiheitsbegriff dagegen negativ aufzuladen. Das Gefährliche an dieser Taktik, das eigentlich Unsägliche Schritt für Schritt akzeptabel zu machen, liegt in dem psychologischen Mechanismus der Gewöhnung. Wer beim ersten Mal noch zusammenzuckt ob der Ungeheuerlichkeit der Forderung, hat es beim zweiten Mal eben schon einmal gehört. Seine erste Aufregung über die Zumutung stumpft im Gewöhnungsmodus ab – und damit auch seine Widerstandskraft.

Zu erzählen ist in diesen grundstürzenden Zeiten die Geschichte einer aufhaltsamen Verächtlichmachung und Umcodierung des zentralen Wertes in einem Rechtsstaat zugunsten einer vor allem klimaideologisch begründeten Verbotsfreiheit.

Offene Verächter, wenige öffentliche Verteidiger

Die Einschläge kommen immer näher. Von „Bock auf Verbote“ (Fridays for Future) über „Covidioten“ (Saskia Esken) und „Freiheitsrauner“ reicht die Skala bis zu einem Tweet aus Berlin von Monika Herrmann – nach eigenen Angaben „Grüne Xhain * Vorsitzende KoPoFo“ –, der den vorläufig extremsten Punkt des illiberalen Vormarschs markiert: „Das Vokabular der @fdp beschränkt sich auf 2 Worte: Freiheit und Eigenverantwortlichkeit – beides Synonyme für eine unsolidarische egoistische Gesellschaft. Kein überlebensfähiges Konzept.“

Mäßigende Stimmen gegen den anschwellenden Freiheitsentzugsrausch nach dem Muster Monika Herrmanns und anderer gibt es nur noch selten. Einer dieser leiseren, abwägenden Töne wird von Kai Möller angeschlagen, Verfassungsrechtler an der London School of Economics. In einem Welt-Gastbeitrag mit dem thesensetzenden Titel: „Von Maske bis Klima – Warum es nötig ist, gegen Sicherheit zu argumentieren“ stellt er seine Ansicht über ein gesundes Verhältnis von Freiheit und Zwang zur Diskussion.

Möller konstatiert: „In Deutschland weiß anscheinend niemand mehr, wozu Freiheit eigentlich gut sein soll.“ Erfrischend an den Einlassungen des regelmäßigen Gastautors in der Welt ist sein Blick als Deutscher von außen auf seine alte Heimat, wo sich breite Massen der Bevölkerung völlig anders verhielten als in seiner Wahlheimat London, wo beispielsweise die deutsche „Maskenobsession“ (Möller) nicht nur nicht vorkam, sondern aus britischer Sicht als typische German Angst galt.

Das Grundgesetz, so argumentiert der Jurist, lege schon in Artikel 2 eigentlich ein „Bekenntnis zur Freiheit“ ab: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“. Bei einer Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit folge daraus: „Sicherheit ist wertvoll nur insofern, als sie eine Voraussetzung für die Persönlichkeitsentfaltung ist, ein Mittel zum Zweck“. Seinen Landsleuten, die nicht mehr wissen, wozu Freiheit gut sein soll, schreibt Möller ins Stammbuch: „Wir brauchen Freiheit, um unsere Persönlichkeit zu entfalten.“ Sein politisches Fazit: „Es spricht einiges dafür, die Balance von Freiheit und Sicherheit in Deutschland in Richtung Freiheit zu verschieben.“ Kai Möllers Wort in der Mentalitätsmachthaber Ohr. Denn nichts weniger als die Tendenzverschiebung in umgekehrte Richtung bahnt sich gerade den Weg.

Allerdings zeichnet Möller gleich im ersten Satz das Thema etwas zu grob: „Corona, Tempo, Klima: Die Deutschen sehen Freiheit zunehmend skeptisch.“ „Die Deutschen“ in ihrer Gesamtheit? Oder wenigstens Mehrheit? Nein. Eher überschaubare, aber gut organisierte Interessengruppen sehen das so. Womit wir zur Antwort auf die Frage kommen, wer die Freiheit schlechtredet, und über welche Stationen der lange Weg zu „verbietet uns endlich etwas“ und „nicht überlebensfähige Freiheit“ führte.

Zunächst zum Wer: Es sind die üblichen Verdächtigen aus der grünen Partei und grünaffine Sonstige, die bevorzugt für den Staat arbeiten, bei regierungsnahen und -finanzierten Stiftungen (etwa der Amadeu-Antonio-Stiftung, gegründet von Anetta Kahane, einer DDR-erprobten Freiheitsexpertin) oder Denkfabriken (etwa das steuergeldfinanzierte Zentrum LibMod, das unter „Gegneranalyse“ allerlei nichtgenehme Publikationen auflistet), dazu andere „zivilgesellschaftliche“ Institutionen aller Art, wozu man nahezu den gesamten Kulturbetrieb zu zählen hat; nicht zu vergessen die halbamtlichen Textkopier- und Regierungsverlautbarungsorgane (früher als Presse bekannt), die heute ebenfalls existentiell am Tropf der Staatsfinanzierung hängen, all die neuen Narrativschaffenden und Mentalitätsmachthaber, dazu noch die Wohlmeinenden, die offenbar den ganzen Tag auf Twitter verbringen und dort im Schwadronieren die große Freiheit zu finden hoffen, die sie meinen. Kurzum, es handelt sich um ein Milieu, dessen Angehörige wirklich nicht wissen, wozu die Freiheit gut sein soll, vor allem die Freiheit der anderen. Für diese Kaste prägte Michael Klonovsky einmal den Sammelbegriff der „Bolschewoken“.

Mit ihnen kehrt die alte Formel von Friedrich Engels zurück, wonach es sich bei der wahren, richtig verstandenen Freiheit um die „Einsicht in die Notwendigkeit“ handle. In dem bereits erwähnten Kommentar der ARD-Anstalt MDR hieß es kürzlich anklagend: „Von vielen Menschen werden Veränderungen oder politische Notwendigkeiten unter Verweis auf die eigene ‚Freiheit‘ abgelehnt.“

Der lange Marsch weg von echter Freiheit

Um eine solche Aussage oder die von Monika Herrmann aus dem Jahr 2023 überhaupt verstehen zu können, müssen wir eine längere Strecke in den Blick nehmen. Wann kamen auch in modernen Demokratien die Stimmen auf, die Freiheit unter die Vormundschaft einer Notwendigkeit stellten? Was trieb die Abwägung von Freiheit und Grundrechten gegen angebliche Notwendigkeiten voran? Es lässt sich ein Muster erkennen: Diese Abwägung erhielt mit jeder Krise, mit jedem behaupteten Ausnahmezustand einen neuen Schub. Deshalb hier eine kurze Skizze der Wegmarken der vergangenen zwei Jahrzehnte. Sie haben eine Gemeinsamkeit: Jedes Mal lautet die Formel Krieg/Kampf gegen XY.

Im „Krieg gegen den Terror” nach dem Anschlag auf das World Trade Center 9/11 hieß es bekanntlich: „Our way of life, our very freedom came under attack“. Die Regierung George W. Bushs reagierte darauf mit dem Patriot Act (2001) und nachfolgend dem Domestic Security Enhancement Act (2003). Die innenpolitische Antwort auf die Freiheitsbedrohung, der sich das Imperium Americanum durch islamistischen Terrorismus ausgesetzt sah, bestand damals (auch) in einer Einschränkung von Freiheits- und Bürgerrechten im Namen von Freiheit und Sicherheit – damals noch heftig kritisiert durch Linke wie Noam Chomsky, hierzulande etwa von Juli Zeh und Ilija Trojanow. Beim europäischen Verbündeten der USA, in der Bundesrepublik Deutschland, zeigte sich seinerzeit ein zwar weniger martialisches, aber durchaus ähnliches Bild im „Krieg gegen den Terror“, der die Begründung für die Vorratsdatenerfassung lieferte. Im Vergleich zu späteren Einschränkungen fielen die Restriktionen damals allerdings noch moderat aus.

Krieg gegen das Virus (Emmanuel Macron): Fast drei Jahre lang, von März 2020 bis hinein ins Jahr 2023, ging der Staatsräson Sicherheit gegen Ansteckung über alles, auch über alle sonstigen Grundrechte (so lautete etwa die Habermas-Position vom Herbst 2021). Kritiker dieser Freiheits- und Grundrechtseinschränkungen, vom ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Hans-Jürgen Papier bis zum Journalisten der Süddeutschen Heribert Prantl, mussten sich als „Corona-Leugner“ oder „Freiheitsrauner“ beschimpfen lassen, die einer egoistisch-unsolidarischen „Vulgärfreiheit“ huldigten. Wer meinte, gerade in Krisenzeiten müssten die Grundrechte verteidigt werden, dem wird von den Soziologen Caroline Amlinger und Oliver Nachtwey in ihrem durchaus programmatischen Suhrkamp-Band „Gekränkte Freiheit“ ein „libertärer Autoritarismus“ unterstellt, also ein angeblich autoritäres Erzwingen von Freiheit, der man aber misstrauen sollte. Die Autoren verwerfen darin jegliche Kritik an den Grundrechtseinschränkungen der Corona-Jahre „als völliges Phantasma, als reine Wahnvorstellung“. Diejenigen, die sich den Autoren zufolge an den vulgären Freiheitsbegriff klammern, „grollen“, „murren“, sind „trotzig“ und „regressiv“. Alles in allem: Sie verhalten sich kindisch, weil sie die Notwendigkeit nicht einsehen.

Krieg gegen Putin: Nach dessen Angriff auf die Ukraine und all den Sanktionen und Waffenlieferungen des Wertewestens unter Einschluss Deutschlands wurde von Politik und den meisten Medien auch innenpolitisch zur Verteidigung aufgerufen, wobei die Verteidigung wieder auf Einschränkung hinauslief. Das begann vergleichsweise harmlos und ein bisschen einfältig mit der Forderung nach einem „Freiheitstempo“ auf der Autobahn, dem Vorschlag von Ex-Bundespräsident Joachim Gauck, „für die Freiheit zu frieren“ und nur noch kurz zu duschen, führte aber auch zur klammheimlichen Verschärfung des Volksverhetzungstatbestandes. Nach der Neufassung von Paragraph 130 macht sich jetzt strafbar, wer Völkermorde sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen „öffentlich leugnet oder gröblich verharmlost“, wenn das „geeignet ist, zu Hass oder Gewalt aufzustacheln und den öffentlichen Frieden zu stören”.

Damit wurden unbestimmte Rechtsbegriffe in ein Meinungsäußerungsgesetz aufgenommen. Was ein Kriegsverbrechen ist, entscheidet normalerweise ein internationales Gericht. Die Gesetzesverschärfung führte die Koalition ohne Ankündigung und parlamentarische Diskussion durch und spannte sie mit einer sachlich völlig verschiedenen Änderung des Bundeszentralregistergesetzes zusammen. Sie tat also alles – und zwar erfolgreich –, um sie weitgehend unbemerkt durchzubekommen. Auch hier erhoben sich die kritischen Stimmen nicht nur von einer politischen Seite, sondern sowohl von linken wie auch liberalen Publizisten und Juristen.

(Um übrigens nicht falsch verstanden zu werden: Nicht der Autor dieser Zeilen meint, „wir“ befänden uns im „Krieg“ gegen Putin, sondern eine feministische Außenministerin. Ebenso verwendet der Autor den Namen des russischen Präsidenten Wladimir Putin als empirisches Zitat. Hinter dem Feindbild „Putin“ entmaterialisiert sich im medialen Dauergewitter langsam aber sicher der real existierende Mensch dieses Namens.)

Kampf gegen rechts: Dazu zählt der Vorstoß von Innenministerin Nancy Faeser, das Beamtenrecht durch eine Beweislastumkehr dahingehend ändern zu wollen, dass jeder verdächtig ist, solange er selbst nicht seine Unschuld nachgewiesen hat, aber auch das Meldeportal für „antifeministische Vorfälle“, angebunden bei der Amadeu-Antonio-Stiftung und finanziert aus dem Etat von Bundesfamilienministerin Lisa Paus. Denn „Antifeminismus“, ein fast unendlich dehnbarer Begriff, wird ebenfalls unter „rechts“ subsumiert. Unter dieser Kampfformel betreibt auch das Land Berlin etliche steuerfinanzierte „Register“, die alles Mögliche sammeln – selbst den Hinweis auf eine Biologin, die darauf besteht, dass nur zwei biologische Geschlechter existieren.

In dieses Feld gehört ein Passus in dem geplanten Selbstbestimmungsgesetz, der in Zukunft selbst die „fahrlässige“ Ansprache einer Person mit dem falschen, also nicht von ihr gewählten Geschlecht bestrafen soll. Die Grünen erklären ganz offen, damit eine „Verweigerungshaltung“ sanktionieren zu wollen.

Kampf gegen den Klimawandel: Hier müssen mehr Freiheitsrechte für höhere Ziele abgetreten werden als auf allen anderen Gebieten. Für die „Letzte Generation vor den Kipppunkten“ – und nicht nur die – stellt der Klimakrieg einen Endkampf dar, in dem es um alles geht. Deshalb lautet deren Antwort darauf, welches Opfer die Freiheit in diesem gerechten Streit bringen muss: jedes denkbare. Es geht nur noch ums nackte Überleben der Menschheit – so erklären es die Klimakrieger. Nur ist im Klimakampf erstmals nicht mehr das Leben der bereits Lebenden das oberste Schutzziel, sondern das von künftigen Generationen. (Dass dieselben Ideologen gleichzeitig CO2-einsparende Kinderlosigkeit fordern, damit der Planet für unsere Kinder überleben kann – worauf dann, ginge es nach ihnen, gar niemand mehr da wäre, der von ihrer Klimarettung profitieren könnte – gehört zu den offensichtlichsten Widersprüchen dieser Bewegung.)

Nur so ist die Eskalation des Twitter-Mob nach der wiederholten Berlin-Wahl zu verstehen mit Forderungen danach, dass nur noch die wählen dürfen sollten, die die Zukunft auch erlebten. Die „Totalherrschaft der Gegenwart“ (Botho Strauß) war gestern, heute sind wir schon einen Schritt weiter. Klimakämpfer leben und denken nur noch in der und für eine imaginierte Zukunft, die allerdings einer vor über dreißig Jahren vorübergehend untergegangenen Gesellschaftsordnung verblüffend ähnelt.

Aus positiv mach’ negativ

Eine gesellschaftliche Vereinbarung wird umcodiert. Jeder, der die Freiheit verteidigt, wie Liberale aller Schattierungen sie kennen, gilt also, siehe oben, als unsolidarisch, ja antidemokratisch. Alle, die sozialen Kredit erwerben wollen, arbeiten daran, Freiheit schlechtzureden – und an ihre Stelle etwas zu setzen, das mit der Freiheit, die das Grundgesetz meint, nichts mehr zu tun hat: eine Unmündigkeit, von der sie in Verdrehung aller Werte behaupten, sie wäre die einzig akzeptable Form von Mündigkeit.

Eine weitere Frage drängt sich auf angesichts der Umcodierung von Freiheit: Hätte man dem Bürger im März 2020 gesagt: „Wir entmündigen dich und nehmen dir deine Würde“ – hätte sich dann nicht eine kritische Masse diesem autoritären Ansinnen verweigert? Eine Mehrheit wohl schon. Man musste das Wasser, in dem der Bürger und seine Freiheitsrechte zu Mus verkocht werden, langsam erhitzen. Und den entscheidenden Stoß gegen die Freiheit an einem wunden Punkt der Menschen ansetzen, denen sie entzogen werden soll: mit der Angsterzählung, sie könnten ihr Leben nur retten, wenn sie bereit seien, für die Sicherheit, die nur der Staat ihnen bieten könne, ein wenig von ihren Freiheiten abzugeben. So und nur so konnte es gelingen, derart viele Menschen von der freiwilligen Annahme ihrer Freiheitseinschränkung zu überzeugen.

Hätten die einschlägigen Freiheitsverächter ohne die Corona-Angsterzählung zuvor und die damit einhergehende Konditionierung sofort damit begonnen, die gleichen Freiheitseinschränkungen auch „für das Klima“ zu fordern – niemals hätten so viele Menschen erwogen, sie zu akzeptieren, wie es jetzt tatsächlich der Fall ist.

Dem coronaren Angstregime ist es gelungen, viele Bürger davon zu überzeugen, dass mit der Abgabe gewisser Freiheiten an den sorgenden Staat ihre existentiellen Sicherheitswünsche befriedigt werden. Die Antwort auf die Frage, wie es gelungen ist, so viele Menschen von der freiwilligen Annahme ihrer Freiheitseinschränkung zu überzeugen, liegt – von Hannah Arendt großartig beschrieben – darin, dass es eben nicht nur den vertikalen Druck von oben auf die Bevölkerung gibt, sondern einen nicht kleinen Teil in der Bevölkerung, der sich in der Freiheitseinschränkung wohl fühlt und sie sogar für alle fordert nach dem Motto: Im Freiheitsentzug muss wenigstens Gleichheit herrschen. Mündigkeit bedeutet eben auch eine Last, die manche nur allzu gern an eine Autorität abtreten. Ja, es lässt sich gar eine Angst vor der Freiheit beobachten. Norbert Bolz attestierte in seinem Lagebericht „Die ungeliebte Freiheit“ (2010) eine „Krankheit des Verwaltet-werden-Wollens“.

Den Pferdefuß beschreibt die Soziologie: Individualisierung bedeutet Freisetzung. Freiheit aber gibt es nur als ambivalentes Gut, weil man nicht nur frei sein darf, sondern muss. Nicht mehr die Gemeinschaft gebietet in der Moderne durch ihre Regeln, was gut und was schlecht ist. Der freie Mensch hatte nun selbst in einem bestimmten Rahmen zu entscheiden. Freiheit gebiert paradoxerweise Zwang, sich zu entscheiden. An der Freiheit sind viele gescheitert. Tritt in einer Krise ein Führer auf, der sicheres Geleit durch die Fährnisse des Lebens verspricht, ist die Versuchung groß, sich ihm hinzugeben – jemandem, der den Wanderer an die Hand nimmt, der ihm einen Weg schlägt in den Dschungel alltäglicher Hyperkomplexität, jemand, der vorgibt, Schutz zu bieten gegen alle Risiken. Dieser Führer kann eine Einzelperson sein, aber auch der Staat und sogar die erwähnten Mentalitätsherrscher als Kollektiv.

Eine rote Linie gegen illiberale Zeitenwenden

Wenn es gelingt, den Menschen den neuen Begriff von Freiheit – Verbote sind das neue Frei – zu implantieren, wäre damit die Büchse der Pandora für Autoritarismen neuer Art geöffnet, ohne dass noch ein Haltegriff für das immer weitere Abgleiten vom Rechtsstaat ins Autoritäre zu erkennen wäre. Auf dem leergeräumten Feld kann an der Konstruktion des neuen Menschen gearbeitet werden: des neuen woken, also sich selbst gegenüber wachsamen klimagerechten Bürgers, der sich mündig fühlt, weil er glaubt, die Freiheitseinschränkung geschähe in seinem Interesse.

Die Lage auf orwellianisch: Unfreiheit ist Freiheit. Kontrolle schafft Mündigkeit. Richtig verstandene Unmündigkeit ist die hochwertigere Mündigkeit. Verbote sind Ausweis von Liberalität. Handeln unter Zwang ist Eigenverantwortung. Konformismus ist das neue widerständig.

Erst dann, wenn eine Mehrheit diese Umcodierung tatsächlich schlucken und damit buchstäblich verinnerlichen würde, wäre die Freiheit auch als Begriff besiegt.


Jürgen Schmid ist Historiker und freier Autor. Er lebt in München.

Dieser Beitrag ist auch bei Publico erschienen.

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Kommentare ( 59 )

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Rob Roy
1 Jahr her

Nicht mal George Orwell, Franz Kafka und Ephraim Kishon zusammen hätten sich solchen Wahnsinn ausdenken können.

wackerd
1 Jahr her

Jede Hochkultur geht irgendwann zugrunde. Nun ist erstmal Deutschland dran, denn Deutschland geht voran. Der Tanz ums goldene Kalb namens Klima hilft dabei. Covid und Gutmenschentum bei Masseneinwanderung reichen nicht. Aber Klima, das funktioniert bei Kindern und ergrauten Tölpeln. Heute las ich, dass die Durchschnittstemperatur (!!!) der Meere um tödliche 0,1 Grad zugenommen hat. Und in der Regierung machen sich mafiöse Strukturen breit.

Rachel
1 Jahr her
Antworten an  wackerd

Mir erzählte vor kurzem ernsthaft wer, das es in Kürze ja keine Gewässer mehr gibt…. Kein Klima-Kid, ein gestandener Mann….

fatherted
1 Jahr her

Bitte nicht vergessen…diese Leute sind nicht die Mehrheit. Genauso wie FFF nicht die Mehrheit der Deutschen Jugend stellt….oder die „jungen Leute“ der Letzten Generation „die deutsche Jugend“ sind. Das sind alles nur mediale Behauptungen die politisch/ideologisch motiviert sind….

DummUndDuemmerLand
1 Jahr her

„Verbietet uns endlich etwas“ – erst musste ich lachen – voller Bewunderung über dieses genial-ironische Plakat. Bis ich den ersten Artikel-Satz las und begriff, dass das vielmehr bitter ernst gemeint war. Wir haben wohl alle – neben der Bösartigkeit & Skrupellosigkeit der sog. Eliten – die Dummheit der Mehrheit der Menschen unterschätzt, welche sich gut versteckt erst in den (von ‚oben‘ getriggerten) Krisen offenbart und sich insbesondere bei der jüngeren Generation zeigt, die in Schule und Uni noch größeren Gruppenzwängen ausgesetzt sind und noch leichter zu manipulieren sind. ‚Die letzte Generation‘ und ‚FFF‘ darf man daher getrost als ‚Die dümmste… Mehr

Habakuk06
1 Jahr her

Ich habe kürzlich gelesen, dass die heilige Greta in ihrem Klimabuch geschrieben hat, dass die Klimawende nur gelingen könne, wenn der Staat den Bürgern vorschreibt, was er tun darf und was nicht.

horrex
1 Jahr her

Exakt das ist es: „Die Lage auf orwellianisch: Unfreiheit ist Freiheit. Kontrolle schafft Mündigkeit. Richtig verstandene Unmündigkeit ist die hochwertigere Mündigkeit. Verbote sind Ausweis von Liberalität. Handeln unter Zwang ist Eigenverantwortung. Konformismus ist das neue widerständig. Erst dann, wenn eine Mehrheit diese Umcodierung tatsächlich schlucken und damit buchstäblich verinnerlichen würde, wäre die Freiheit auch als Begriff besiegt.“ Aber wer hat je „1984“ gelesen … und auch noch kapiert??? Man findet sie kaum. Wie ich in zahlreichen Gesprächen feststellen musste. Den Titel kennt man … Ende Gelände … Dabei s o l l t e eigentlich diese „Blaupause von …“ zum… Mehr

elly
1 Jahr her

Freiheit bedeutet Verantwortung für die eigenen Entscheidungen. Die Mehrheit im Land hat Angst davor. Verbote nehmen die Entscheidungen ab, also auch die Verantwortung. Und hinterher können dann alle rufen „xy“ ist schuld, wie aktuell alle plärren Merkel ist schuld, die bösen Alten /Boomer sind schuld.
Bequem so ein betreutes Leben, schön aber ist es nicht.

horrex
1 Jahr her
Antworten an  elly

Verantwortung, gar Selbstverantwortung gehört doch längst zun Kanon der Begriffe und Selbstverständlichkeiten die längst „tabu“ längst geächtet sind. Das „Wir“, die quasi Kollektivierung des Geistes, wurde – aus Merkels (sic!) Mund – zur Chiffre, zum Programm (ins Elend). Was zum Ergebnis – längst mühelos feststellbar – hat, dass quasi reflexartig die erwünschte „Vereinzelung“ der Menschen (selbst schon auf den flachen Lande) einsetzte. Damit Krieg unter dem Motto „Jeder gegen Jeden“. Uralt und vergessen der Imperativ: Divide et impera! Was wiederum bedeutet, dass den „Lenkern“ der ganzen Chose (Politik/Medien) ein ein enormes Machtpotential zuwächst. Ein Machtpotential das sie in Form von… Mehr

bfwied
1 Jahr her

Deutschl. hatte keine Revolution, die so genannt werden könnte, aber einen I. Kant, der bitter notwendig war. Nur, wenn man man die heutige Gesellschaft ansieht, müsste er dringends auferstehen! Dass dem so ist, das kann man wohl kaum bestreitbar der dt. Mentalität mit dem Untertanengeist zuschreiben. Daher wird sich auch nichts ändern. Diese Jungen, die Grünen, grünen Alten, sind somit die deutschesten Deutschen, quasi die wiederauferstandenen Kaiser- u. „Feldherr“-Treuen. Der Lackmustest, ich denke, der letzte der Reihe, ist das Heizungsgesetz. Setzen sich die totalitären Rotgrünen mitsamt der grünen FDP durch, dann ist jeder Widerstand in diesem Land absolut umsonst. Dann… Mehr

FKR
1 Jahr her
Antworten an  bfwied

In den Schulen liest man Greta und Luisa, Kant ist ein alter weißer Mann und überhaupt: wo liegt denn Königsberg?

Dr. Friedrich Walter
1 Jahr her

Diejenigen, die „Individualismus“ mit „Egoismus“ gleichsetzen und uns in den Käfig eines „gleichgeschalteten Kollektivs“ zwingen wollen, übersehen geflissentlich (absichtlich???), daß es auch den „kooperativen Individualismus“ gibt. Frei nach „Friedrich dem Großen“ kann jeder seinen persönlichen Lebensentwurf leben („nach seiner Facon selig werden“) und trotzdem kann man gemeinsame Ziele verfolgen und sich gegenseitig unterstützen. Der Wunsch nach „kollektiver Gleichschaltung“ ist das klassische Kennzeiche „totalitärer Kleingeister“, die man mit allen demokratischen Mitteln bekämpfen muß. Im Privatleben der Bürger hat der Staat nichts zu suchen.

Berthold Bohner
1 Jahr her

Ein Zitat von Friedrich von Hayek , dass sich jeder zu eigen machen sollte :
Eine wirksame Verteidigung der Freiheit muß … notwendig unbeugsam, dogmatisch und doktrinär sein und darf keine Zugeständnisse an Zweckmäßigkeitserwägungen machen.“
(Die Ursachen der ständigen Gefährdung der Freiheit, in: Ordo, Bd. 12, Düsseldorf und München 1961, S. 104 – 106)