Die größten Wendehälse beim Atomausstieg

Der eine spricht von der „dümmsten Energiepolitik der Welt“, der andere von einem „schwarzen Tag“. Doch viele der Politiker, die der Kernenergie nachweinen, haben sich früher weggeduckt, gewähren lassen oder waren sogar aktive Unterstützer des Atomausstiegs.

© IMAGO - Collage: TE

Es gibt sie, die radioaktiv strahlenden Krokodilstränen. Dass die Grünen dem 15. April entgegenjauchzen, darf keinen überraschen; sie eifern diesem Ziel seit Jahrzehnten entgegen. Anders sieht es bei den Parteien aus, die nun behaupten, schon immer für einen Weiterbetrieb gewesen zu sein, oder nun zumindest den Ausstieg beklagen – obwohl sie diesen mitgetragen haben. TE stellt fünf Personalien vor.

#6 Christian Dürr

Christian Dürr ist der Fraktionsvorsitzende der FDP im Deutschen Bundestag. Auf Twitter beklagt er: „Die beste Option wäre der Weiterbetrieb der Kernkraftwerke gewesen. Dafür gibt es leider keine Mehrheit. Die zweitbeste Option ist es, immerhin nicht sofort mit dem Rückbau zu beginnen. So sind wir auf mögliche Energieengpässe in der Zukunft besser vorbereitet.“

Schöne Worte. Doch sie haben wenig Substanz. Als die CDU/CSU-Fraktion am 31. März einen Gesetzesentwurf in den Bundestag einbringt, der eine Laufzeitverlängerung vorsieht, lehnen die Vertreter der Ampel-Koalition geschlossen ab. Neben der Union stimmt auch die AfD zu. Insgesamt stimmen 247 Abgeordnete für, 397 Abgeordnete gegen die Laufzeitverlängerung. Hätten die anwesenden 79 Abgeordneten der FDP für eine Laufzeitverlängerung gestimmt, wäre diese Abstimmung 326 zu 318 ausgegangen – eine knappe Mehrheit für die Kernkraft. Christian Dürr hat an diesem Tag wie fast alle seine Kollegen gegen eine Verlängerung gestimmt. Nur Nicole Bauer enthielt sich.

#5: Friedrich Merz

Der CDU-Chef beklagt immer wieder den Ausstieg und setzt sich für längere Laufzeiten ein. Es gebe im Ausland kaum jemanden, „der Verständnis dafür hat, dass Deutschland in der größten Energiekrise seit Jahrzehnten drei sichere, CO2-freie Anlagen der Energieerzeugung abschaltet und dafür wieder auf Kohle und Gas setzt“.

Doch wie so häufig bleibt auch dieser Appell von Merz höchstens halbherzig. Denn schon im Dezember 2022 hatte der Sauerländer in einer Schaltkonferenz gesagt, dass ein Weiterbetrieb der Atomkraftwerke wegen fehlender Brennstäbe nicht möglich sei. Der Ausstieg im April sei also endgültig. Auch das ist wieder ein typisches Merz-Manöver: Obwohl Merz im Grunde weiß, dass es nicht geht, stellt die CDU dennoch einen Antrag am 31. März, die Kraftwerke weiterlaufen zu lassen. Glaubt er nun daran, oder doch nicht?

#4: Wolfgang Kubicki

Wer laut poltert, muss auch einstecken – das gilt auch für den Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Kubicki. Er warnte vor dem „dramatischen Fehler“, den der Atomausstieg bedeute, spottete über die „dümmste Energiepolitik der Welt“, wie sie das Ausland nennen würde. Die Abschaltung der Kernkraft werde „schmerzhafte ökonomische und ökologische Konsequenzen haben“, konstatierte der FDP-Mann.

Doch die Sache hat einen Haken. Denn Kubicki hat wie sein Kollege Christian Dürr bei einem Antrag zur Laufzeitverlängerung diesen abgelehnt. Zur Erinnerung: Mit einer CDU/CSU-FDP-AfD-Mehrheit wäre die Laufzeit am 31. März bis Ende 2024 verlängert worden. Doch Fraktionsdisziplin hatte wie immer die Oberhand gegenüber pragmatischer Politik und dem freien Gewissen des Abgeordneten bei der Abstimmung. Bei einem ähnlichen Antrag aus dem Juli 2022 hatte Kubicki sich wenigstens noch zu einer Enthaltung durchringen können.

#3: Jens Spahn

Spahn macht in diesen Tage Furore. Bei n-tv bezeichnet er den 15. April als „schwarzen Tag“ für den Klimaschutz. Er fordert eine Laufzeitverlängerung bis 2024. Sogar den Neubau von Atomkraftwerken wollte er nicht ausschließen. Zuletzt appelliert er gar an die FDP, den Atomausstieg in der Regierung zu verhindern. „Denn die FDP hat ja recht – und da, wo sie recht hat, wollen wir sie ausdrücklich unterstützen.“

Ratschläge aus der Opposition an die Regierung. Da kann man natürlich fragen: Wie lange ist eigentlich die letzte CDU-Regierung her? Und welche Rolle spielte Spahn in dieser? Die CDU hat das Land seit dem Beschluss des Atomausstiegs kontinuierlich regiert. Aber nun, da sie nicht mehr an der Macht ist, sollen es andere richten? Gab es für Spahn zuvor keine Möglichkeit, das Thema anzusprechen?

Es ist nicht das einzige Mal in seiner Karriere, in der Spahn seine politische Vergangenheit von sich wegschiebt. So wenig, wie wir von Spahns Verantwortung während der Corona-Krise hören, so wenig hören wir von seiner Verantwortung für den Atomausstieg. Dabei gab es doch mal eine CDU/CSU-FDP-Koalition – nämlich damals, als der Atomausstieg beschlossen wurde. Von fünf Ausnahmen abgesehen, stimmte die Union durchweg für den Atomausstieg am 31. Dezember 2022. Von den 513 Abgeordneten, die damals für das Ende der Kernkraft in Deutschland stimmten, war einer – Jens Spahn.

#2: Markus Söder

Wie heißt es so schön: ein Mann, ein Wort – ein Söder, viele Worte. Der bayrische Ministerpräsident steht heute an vorderster Front in der Schlacht um Isar 2. Neuerlich gilt es, den norddeutschen Furor mit bajuwarischer Stärke zu verteidigen. Das letzte Wort, so poltert der verhinderte Prinzregent, sei noch nicht gesprochen. Der AKW-Ausstieg sei eine „absolute Fehlentscheidung“. Es handele sich um eine „energiepolitische Sünde“ und „reine Willkür“.

An dem Bild ist nicht nur schief, dass Söder Franke, und kein Bayer ist; denn Söder war einer der schärfsten Befürworter des Ausstiegs im Jahr 2011. Die FDP, die in Bayern gerne längere Laufzeiten durchgesetzt hätte, setzte er unter Druck, drohte gar mit Rücktritt als damaliger bayrischer Umweltminister, wenn der Ausstieg nicht im Jahr 2022 stattfinde. Die Süddeutsche Zeitung berichtet von den Verhandlungen zwischen CSU und FDP in Bayern im Mai 2011, die in einer Zerrüttung enden, weil Söder kompromisslos mit dem Koalitionspartner umgeht:

„Der Auftritt an diesem Tag ist eine einzige Provokation von Markus Söder. Der Umweltminister der CSU hat sich für diese wichtige Sitzung des bayerischen Kabinetts eine grüne Krawatte umgebunden. So gibt sich Söder seit dem Reaktorunfall von Fukushima, grün bis zum Hals. […] In dieser aufgeheizten Stimmung meldet sich Teilnehmern zufolge Markus Söder zu Wort, und wirft der FDP vor, Politik gegen Mehrheiten zu machen. Und dann wird er an diesem Vormittag noch sehr deutlich. Sollte sich Bayern auf einen späteren Zeitpunkt für den Atomausstieg als 2022 festlegen, habe ‚dies tiefgreifende Konsequenzen‘ für das Kabinett und auch für ihn ‚ganz persönlich‘.“

Söder rechtfertigt sich. Die Welt habe sich verändert. „Das zwingt uns, alte Entscheidungen zu überdenken“, sagt Söder. Auch das ist eine Parallele zu Jens Spahn. Dass man auch Verantwortung für vergangene Entscheidungen – nicht nur beim Atomausstieg – tragen könnte, das kam Söder damals wie heute nicht in den Sinn. Wer dauernd falsche Entscheidungen trifft, die er revidieren muss, ist möglicherweise für ein so hohes Amt ungeeignet, hätte aber eine Karriere als hervorragende Windfahne in Aussicht.

#1: Christian Lindner

Er profiliert sich seit Monaten als vermeintlich rationaler Leuchtturm der Ampel, der am liebsten wollte, wenn er denn nur könnte. Im September letzten Jahres forderte der FDP-Chef einen Weiterbetrieb der drei verbliebenen Meiler bis 2024 – nachdem seine FDP einen Antrag der CDU/CSU zum Weiterbetrieb bereits einmal abgeschmettert hatte. Auch am 31. März votierte Lindner wie Dürr und Kubicki gegen den CDU/CSU-Antrag, obwohl es numerisch für eine Verlängerung gereicht hätte, hätten die Liberalen dem Antrag zugestimmt.

Was Lindner zur Nummer 1 macht, ist aber nicht nur das aktuelle Verhalten und seine größere Verantwortung als FDP-Parteichef und Bundesfinanzminister. Denn Lindner war – wie heute oftmals vergessen – als Generalsekretär eine beteiligte Kraft hinter dem Atomausstieg 2011. Es war Lindner, der als einer der ersten bei der FDP lospreschte.

Kurz nach den verlorenen Landtagswahlen im März 2011 erklärte er, dass die damals vorübergehend stillgelegten Atomkraftwerke endgültig stillgelegt werden müssten. „Eine Übertragung von Reststrommengen auf jüngere Meiler solle es nicht geben. Das sei ‚politisch nicht vorstellbar und nicht wünschenswert‘“, zitiert der Spiegel Lindner damals. Und weiter: „Lindner sprach sich für eine sofortige Vereinbarung mit der Atomindustrie aus, in der die Abschaltung der AKW verbindlich festgeschrieben wird. Jetzt müsse ‚rasch Rechtssicherheit‘ geschaffen werden.“

So viel Forschheit sorgte in der FDP, die damals noch zögerte, für Aufsehen. Es kam nicht bei allen Liberalen gut an. Vize-Bundesvorsitzende Walter Döring wies den erst 32 Jahre alten Generalsekretär zurecht: „Was Lindner da über Nacht verkündet hat, einfach mal ein Atomkraftwerk abschalten, das ist doch Kokolores. Das ist einfach nur Ausdruck von Planlosigkeit.“ Am Ende setzte sich der Regierungskurs durch. Die FDP stimmte im Sommer 2011 fast geschlossen für den Ausstieg ab. Darunter auch: Christian Lindner.

Und wenn Sie immer noch meinen, dass Lindner nicht die Spitze übernehmen sollte, dann überzeugt sie vielleicht dieses Video vom 6. Januar 2022:

Anzeige

Unterstützung
oder

Kommentare ( 69 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

69 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
F. Hoffmann
1 Jahr her

Linda Teuteberg und Frank Schäffler haben ebenfalls gegen eine Laufzeitverlängerung gestimmt.

Stephan Lindemann
1 Jahr her

Selbst die „Reserve“-Option der FDP ist ein reines Täuschungsmanöver. Mit den alten Brennstäben lassen sich die Reaktoren nach Herunterfahren nicht mehr anfahren. Robert Habeck hat hier durch die Absage an Westinghouse, die 2022 neue Brennstäbe angeboten hatten, Fakten geschaffen. Erst nach Beschaffung neuer Brennstäbe ließen sich die Reaktoren wieder anfahren.

andrea
1 Jahr her

Durch Beeinflussbarkeit, Gedächtnisschwäche und Irrationalität gespeistes Wahlverhalten der Massen.

Peter Silie
1 Jahr her

Hätte ein Unternehmen so schlechtes Personal, wäre es längst Geschichte. Aber mit einem ganzen Land kann man es ja machen. Ob nach der Katastrophe Sorge dafür getragen wird, daß nur vernünftiges Personal in die Politik gelangt?

Kraichgau
1 Jahr her

Leute,wählt DEUTSCH!
das heisst,nicht SPD/CDU/FDP/GRÜN/ROT etc….es heisst,national zu wählen,damit es national interessierte Politik endlich wieder GIBT

Monika Vogel
1 Jahr her

Warum ist für viele so schwer zu verstehen, dass nur die AfD zu ihrem Wort steht und das nicht nur zum Thema Abschaltung der AKW? Warum glauben immer noch so viele an das Totschlagargument des manipulativen ÖR und der Altparteien, die AfD sei rechtsextrem? Wo sind dafür die eindeutigen Belege? Irreführende Fehldeutungen zählen nicht. Wie viele kennen die faktenbasierten Reden, die Vorschläge und das Abstimmungsverhalten der AfD-Abgeordneten ob im Bundestag oder in den Landtagen? Warum wählt die Mehrheit immer wieder diejenigen, die die Probleme bereiten anstatt einer jetzt 10 Jahre bestehenden Oppositionspartei endlich eine Chance zu geben, ihre Kompetenz zu… Mehr

Lindy59
1 Jahr her
B. Kraempfert
1 Jahr her

Die FDP hatte zwei Möglichkeiten:
Zustimmung aus „Fraktionszwang“ (man stimmt gegen die eigene Überzeugung).
Ausstieg aus der Koalition („lieber nicht regieren, als schlecht regieren“).
Entscheidung: Durch Fortführung der Ampel ist die FDP verantwortlich für den finalen Atomausstieg und andere Fehlentscheidungen.
Jetzt bleibt der FDP nur noch die „schwarze Null“ während die „Sondervermögen“ auf der linken Spur einfach überholen.
Das sind Abende, an denen Kubicki vielleicht an seinen Platz an der Sonne außerhalb der Berliner Blase nachdenkt.

jorgos48
1 Jahr her
Antworten an  B. Kraempfert

Ob die FDP die kommende Bundestagswahl überlebt? Irgendwann kapiert der schuftende Bürger wer sich die Taschen mit seinen Steuern füllt. 136000€ p.a. für das Aufhübschen unserer Bundesaußenministerin. Das ist Größenwahn, Leben wie die Grossfürsten im Absolutismus.

JuergenR
1 Jahr her

Bei solchen Politikern, wie den oben genannten, ist das Lügen Teil ihres politischen Programms. Wieso haben viele Wähler nur ein so kurzes Gedächtnis?

Nibelung
1 Jahr her

Ja wo sind sie denn die Verteidiger der ehrbaren und vernünftigen Bürger, die auf sie gesetzt haben im falschen Glauben und nun ihr Waterloo erleben müssen, wenn sie das überhaupt noch auf die Reihe kriegen, wenn man weiß, welche Altersgruppe sie noch wählt, wo ich zwar auch dazu gehöre, aber schon immer das verteidigt habe, was von innen heraus kommt und niemals abgewichen bin, die anderen aber schon und das ist leider ein böses Verhängnis. weil sie nicht mehr mithalten können und ihre Ruhe haben wollen, was man auf Feiern jeglicher Art bis zum Erbrechen hören kann. Wenn man den… Mehr