Seit Jahrhunderten tut die Geschichtswissenschaft so, als seien die Erzählungen der Bibel reale Geschichte. Dabei gilt: Verfüge ich nur über eine Quelle, dann ist das so, als verfüge ich über keine Quelle. Was aber ist Fakt, was Fabel? - TE-Autor Tomas Spahn ist in diesen Tagen plötzlich und unerwartet verstorben. Wir bringen seine Kritik in mehreren Teilen.
Ist, wie viele Theologen meinen, zum Alten Testament tatsächlich alles gesagt? TE-Autor Tomas Spahn ist anderer Auffassung. Seine Grundkritik: Seit Jahrhunderten tut die Geschichtswissenschaft so, als seien die Erzählungen der Bibel reale Geschichte. Dabei gilt: Verfüge ich nur über eine Quelle, dann ist das so, als verfüge ich über keine Quelle. Was aber ist Fakt, was Fabel? Der Politikwissenschaftler und Historiker ging dieser Frage über einen Zeitraum von mehreren Jahren beharrlich nach. Sein Vorgehen veröffentlichte er in einem Gesamtwerk von rund 1.200 Seiten unter dem Stichwort „Das Biblikon-Projekt“. Für TE stand er einem langen Gespräch beim morgendlichen Wecker von Holger Douglas zur Verfügung. Gleichzeitig lieferte er ein Textversion für TE, die das Vorgehen und die Ergebnisse in spannender Weise zusammenfassen. Die Ergebnisse sind geeignet, alles, was wir bislang über die Bibel und über die Entstehung des Monotheismus zu wissen glaubten, auf den Kopf zu stellen.
TE veröffentlicht die Zusammenfassung als Serie. Lesen Sie heute Teil 1:
Die offizielle Geschichte in der Bibel
Zahlreiche Bücher im Regal – von den eher unterhaltsamen Werken der timeLife-Edition bis hin zum dtv-Geschichtsatlas, einem ständigen Begleiter seit der Schulzeit, stellten die im Tanach beschriebene Geschichte des Volkes Israel nicht in Frage. Es galt als gesichert, dass die Vorfahren der Israeli, die beispielsweise besagter dtv-Atlas als „Israelitische Stämme“ bezeichnet, irgendwann um die Mitte des zweiten Jahrtausends vor der Geburt Christi zum Ende der Mittleren Bronzezeit im Zuge der aramäischen Wanderung von Mesopotamien nach Palästina umgesiedelt waren. Es galt als gesichert, dass die Nachfahren dieser Auswanderer nach einem längeren Aufenthalt in Ägypten um 1250 vc erneut nach Palästina ziehen, um ihrer unerträglichen Situation unter den Pharaonen zu entfliehen.
Auf diesem Zug trifft Mose den Gott Israels, Jahwe. Dieser schließt mit Mose und seinem auserwählten Volk einen ewigen Bund, den h‘bérjt. Um 1200 vc soll es zum Zwölf-Stämme-Bund gekommen sein, der im Konflikt mit den philistäischen Küstenbewohnern sein göttliches Recht auf Cisjordanien durchzusetzen sucht.
Kurz vor der Jahrtausendwende lässt sich Saul zum König proklamieren. Nach seiner Niederlage gegen den philistäischen Erbfeind übernimmt Sauls Sohn Esbaal das Königsamt, während David mit Jahwes Segen in Hebron die Königsherrschaft über den Süden übernimmt. Er vereinigt die Kleinstaaten Juda und Israel und begründet so das davidische Großreich. Nach erfolgreichen Kämpfen gegen die dort siedelnden und in den umliegenden Regionen lebenden Völkern wird Jerusalem zur Hauptstadt als Verwaltungssitz und Glaubenszentrum des großisraelischen Reichs.
Die Nachfolge des David tritt Salomo an – gemeinsamer Sohn des Reichgründers mit seiner Frau Bathseba. Salomo gilt als der großartigste Herrscher Israels. Er baut die Davidstadt und den Jahwe-Tempel. Er heiratet die Tochter des ägyptischen Pharaos und weitet die Handelbeziehungen seines Reichs bis nach Südarabien aus. Und doch: Auch Salomos Wirken ist nicht nur von Erfolg gekrönt. So verliert er die aramäischen Provinzen und kann nicht verhindern, dass das Königreich Edom wiederentsteht.
Nach dem Tode des Salomo zerfällt das Reich in zwei Teile. Das Südreich Juda mit der Hauptstadt Jerusalem wird vom Sohn und dynastischen Thronerben des Salomo namens Rehabeam regiert, während im Nordreich Israel Jerobeam das Sagen hat. Letzterer nimmt seinen ersten Regierungssitz in Sichem, dann in Thirza und Pnuel, schließlich in Samaria. Die alten Heiligtümer Dan und Bethel werden zu königlichen Kultstätten erhoben.
Fast zweihundert Jahre gehen die beiden Kleinreiche getrennte Wege. In Israel kommt es zur Herrschaft des Militärführers Omri und seines Sohnes Ahab. Diese führen die phönizischen Kulte in Israel ein, was gleichzeitig eine Abkehr vom ewigen Bund mit Jahwe bedeutet. Erst um 840 vc kommt es unter Jehu, einem Abgesandten des Propheten Elisa, zur Restitution des Jahwe-Glaubens – und zur Vernichtung der Omriden-Dynastie. Jehu leistet Tributzahlungen an Assyrien. Zwei Propheten mit den Namen Amos und Hosea verkünden als Vertreter der „reinen Jahwe-Religion“ den Untergang des Reiches Israel, der 722 vc mit der Zerstörung Samarias durch den Assyrer Sargon 2 Wirklichkeit wird. Die Bewohner Israels werden zu einem Großteil nach Medien und Mesopotamien umgesiedelt. Was in Israel verbleibt, vermischt sich mit ebenfalls zwangsumgesiedelten Nordsemiten, hieraus entsteht das Volk der Samariter.
Im Südreich Juda übernimmt Athalja, Tochter des israelischen Omriden Ahab und der phönizischen Prinzessin Isebeel, die Herrschaft. Als Witwe des Daviden Joram führt Athalja ein tyrannisches Regime ein, rottet das Haus David aus. Sie restituiert nunmehr den Baalsdienst auch in Juda und wird 839 vc selbst Opfer eines Mordanschlags.
Die Nachfolge Athaljas tritt Joas an, dessen Sohn Amazja Tribute an Damaskus zahlt. Es kommt zu einer militärischen Niederlage gegen die Israeliten, die den Tempelschatz rauben. Dann tritt der Prophet Jesaja auf.
Zu dessen Zeit versucht der König Hiskia, dessen Regierungszeit auf 725 bis 697 vc datiert wird, sich mit Unterstützung der Ägypter von Assyrien zu lösen. Sanherib aber siegt über die Ägypter und belagert Jerusalem. Hiskias Sohn Manasse ist erneut von Assyrien abhängig. Manasses Enkelsohn Josia dann gestaltet nach dem Auffinden eines alten Gesetzbuches das geistliche Leben im Sinne des Jahwe-Kultes um. Er reinigt den Tempel und zerstört alle anderen Heiligtümer.
Jetzt tritt der Prophet Jeremia auf, prophezeit den bevorstehenden Untergang des Südreichs. Thronfolgestreitigkeiten und der Konflikt zwischen Ägypten und Babylonien führen nach eineinhalb-jähriger Belagerung Jerusalems durch Nebukadnezar 2 zur Zerstörung der Stadt. Von 586 bis 538 vc kommt es zur „Babylonischen Gefangenschaft“, die Juden gehen in die Diaspora.
So ist es als historische Tatsachendarstellung nicht nur in dem die Menschheitsgeschichte umfassenden Basiswerk von Hermann Kinder und Werner Hilgemann, dem dtv-Atlas zur Weltgeschichte, zu lesen. In der einbändigen Sonderausgabe des Werkes von 2000 finden sich diese Informationen auf der Seite 37.
Geschichte oder Legende?
Ist die Annahme falsch, dass dieses zumindest im Jahr 2000 noch gültiger Erkenntnisstand der Geschichtswissenschaft war? Warum also sollten diese Tatsachenbehauptungen falsch sein?
Nun – um es vorweg zu nehmen: Fast keine dieser Behauptungen ist historisch korrekt. Es mag irgendwann mesopotamische Auswanderer gegeben haben, die in Palästina siedelten. Ob und was diese jedoch mit dem Volk Israel zu tun haben, ist eine andere Frage.
Es mag auch aus Ägypten kommende Wanderer gegeben haben, die Jahrhunderte später von Ägypten aus durch den Sinai nach Palästina gekommen sind. Es mag sogar sein, dass es eine sagenhafte Gestalt namens Mose gegeben hat, die diesen Zug angeführt haben soll. Die Vorstellung jedoch, dass hier ein Millionenzug hebräischer Sklaven vierzig Jahre durch die Wüste zieht – nichts anderes als eine spannende Erzählung.
In besonderem Maße verblüffend ist die Übernahme der Gotteserscheinung im Sinai in das Geschichtswerk. Denn selbst, wenn man gewillt wäre, den Tanach als historisch verbürgtes Werk zu verstehen – Gottes Offenbarung oder der Bund mit Jahwe sind religiös motivierte Behauptungen, die in einer sachlichen Geschichtsdarstellung bestenfalls dann etwas zu suchen hätten, wenn sie unzweideutig mit diesem kultischen Bezug verknüpft und in ihrem Wahrheitsgehalt entsprechend eingeschränkt werden. Der dtv-Atlas zur Weltgeschichte jedoch übernimmt sie als Tatsachen – und er steht damit nicht allein.
Ohne jeden Zweifel war die Region Palästina schon in der Antike ständig von mehr oder weniger großen, kriegerischen Konflikten geprägt. So mag es auch Sagengestalten gegeben haben, denen die Namen Saul, Esbaal, David und Salomo zugewiesen wurden. Doch die diesen Personen zugeschriebenen Fakten verfügen über nicht mehr Wahrheitsgehalt als der englische König Artus und der deutsche Held Siegfried. Denn historisch verbürgt ist davon so gut wie nichts. Wenn es überhaupt historische Nachweise für die oben geschilderte Geschichte gibt, dann reduzieren sich diese auf Bruchteile der im dtv-Atlas dargebrachten Märchenstunde.
Nur wenige bestätigte Figuren und ein untergegangenes Reich
Ja, es gab in Palästina einen Herrscher, dem der Name Jehu zugeordnet werden kann. Dieser war, glauben wir zeitgenössischen Chroniken, als ein Kleinkönig in der Region Palästina gegenüber Assyrien tributabhängig. Aber das war es dann auch, was zu dieser Person als verbürgt anzunehmen ist.
Es gab einen judäischen Herrscher, der in den assyrischen Annalen als Hilkia bezeichnet wird. Er befand sich in einem Konflikt mit Sanherib, war Vasall der damaligen Hegemonialmacht. Sanherib selbst bestätigt seine Existenz und dessen einmaligen Versuch, sich von der Herrschaft der Großmacht zu lösen. Sehr viel mehr ist jedoch auch zu dieser Person nicht verbürgt. Letztlich muss diese Figur nicht einmal den Namen Hilkia, dessen hebräisches Original als chéléqéjah zu transliterieren ist, getragen haben. Denn diese Bezeichnung steht für nichts anderes als „ein Starker von Jah“.
Zutreffend ist: Das Gemeinwesen Israel ging um 720 vc unter. Mit einer gemeinsamen jüdischen Geschichte jedoch hatte es nichts zu tun. Und es war zu diesem Zeitpunkt auch schon lange nicht mehr unabhängig, sondern ein von den Assyrern abhängiger Vasallenstaat, in dem die Herrscher in Ninive weitgehend nach eigenem Gusto schalteten und walteten. Die Zerstörung Israels ist die Konsequenz wiederholter Versuche der Vasallen, sich aus der Abhängigkeit zu lösen. Sargon 2, Herrscher über Assyrien, löste diese Differenzen auf die damals übliche Art und Weise.
Historisch belegte Tatsache ist auch, dass das Kleinreich Juda um 587 vc unter dem Ansturm der Babylonier verschwand. Ob es aber Thronfolgestreitigkeiten und der Kampf zwischen Ägypten und Babylonien waren, die, wie der dtv-Atlas vermittelt, zu diesem Untergang führten – nichts anderes als Interpretation ohne verbürgtes Faktenwissen.
Religion ist keine Wissenschaft
Alles in der Schilderung dieses Geschichtswerks außer dem als verbürgt Bezeichnetem ist Märchenstunde und lässt sich, wenn überhaupt, nur über den hermeneutischen Plausibilitätsbeweis als wahrscheinlich annehmen. Doch all das war mir noch nicht bewusst, als ich zur Jahreswende 2006/2007 nc beim deutsch-französischen Fernsehsender arte auf die vierteilige Dokumentation „La bible dévoilée“ stieß. Dennoch unterstrich die Dokumentation in vielerlei Hinsicht Annahmen, die sich bei mir über die Jahre eher bruchstückhaft herauskristallisiert hatten.
So entspricht die Darlegung, dass es für den sagenhaften Zug aus Ägypten keinerlei archäologische Belege gibt, der Unmöglichkeit, einen in die Hunderttausende gehenden Zug von Menschen vierzig Jahre durch die Wüste zu führen. Daraus folgt nach menschlichem Sachverstand die unvermeidbare Auffassung der historischen Unmöglichkeit dieses vorgeblichen Exodus. Es sei denn, man beurteilt die Geschichte nicht unter geschichtswissenschaftlichem Gesichtspunkt, sondern durch die Brille des Gläubigen. Das aber sind zwei recht unterschiedliche Paar Stiefel, denn Glaube als die Wahrheitsannahme einer unbeweisbaren Wahrheitsvermutung heißt Nicht-wissen – und ob ich etwas glaube, ist für die geschichtswissenschaftliche Betrachtung nur insoweit relevant, als aus dem Glauben Einzelner Massenbewegungen entstehen können, die den Ablauf der Geschichte aktiv beeinflussen. Hier gilt in gewisser Weise die Umkehrung der Marxschen Philosophie: Das Sein als Synonym für die Lebensumstände prägt bis zu einem gewissen Maße das Bewusstsein – aber umgekehrt prägt das Bewusstsein als Synonym für die Interpretation der Lebensumstände das Sein in oftmals weit deutlicherer Weise. So wäre die Welt heute ohne Zweifel eine andere, wenn nicht Menschen in ihrem Bewusstsein von der Richtigkeit der Philosophien des Tanach, der Evangelien und des Koran als wahrhaftige Tatsachen überzeugt gewesen wären.
Gleichwohl gilt auch: Die Tatsache, dass ich für eine Annahme keinen Beweis finde, bedeutet nicht, dass die Annahme falsch ist. Als falsch bezeichnen kann ich eine Annahme erst, wenn ich diese Annahme selbst als falsch bewiesen habe. Wobei auch dabei immer noch zu berücksichtigen ist, welches die Ausgangssituation ist, von der aus ein Beweis geführt wird: Die Sicht von der Talsohle mag etwas anderes beweisen als der Blick vom Berggipfel – will sagen: Die Prämissen müssen übereinstimmen. Die hier vorgetragene Kritik richtet sich insofern nicht gegen jene, die an die Erzählungen des Tanach glauben. Sie richtet sich vielmehr gegen jene, die die dort aufgestellten Behauptungen als historische Wahrheit behaupten – solange nicht der empirische Nachweis geführt worden ist, dass es sich um genau dieses handelt.
Archäologische Erkenntnis
Wenden wir uns den Enthüllungen der Bibel zu, die Finkelstein und Silberman als Ergebnisse ihrer archäologischen Arbeit veröffentlicht haben. Überaus spannend war die aus archäologischer Feldarbeit abgeleitete Feststellung, dass Jerusalem zur Zeit der großen Könige David und Salomo nicht anderes gewesen ist als ein unbedeutendes Bergnest. Denn sie bedeutete, dass die entsprechenden Geschichten des Tanach im besten Falle die Tatsachen maßlos übertrieben – was in der erzählerischen Tradition des Nahen Osten nichts Ungewöhnliches ist. Sie könnte aber auch bedeuten, dass die Geschichten von David und Salomo tatsächlich nichts anderes sind als eben Legenden mit dem Wahrheitswert einer Ilias oder eines Siegfriedlieds.
Finkelstein und Silberman nehmen die Geschichten um die beiden frühen Regenten als in ihrem Kern wahre Schilderungen, die jedoch erst im siebten Jahrhundert vc, literarisch überhöht, schriftlich niedergelegt wurden und dann als Master für andere Darstellungen des Tanach herhalten mussten. Sie mögen davon überzeugt sein, dass diese These zutreffend ist – doch bei allem Respekt, den ich beiden Wissenschaftlern zolle: Es kann diese These wiederum auch das sein, was ich oben als Bewusstsein-Sein-Folge beschrieben habe.
Die Legenden von David und Salomo sind die Gründungs- und Legitimationslegende des politischen Judentums und in Folge dessen auch des modernen Staates Israel. Wäre diese Gründungslegende nichts anderes als eine literarische Erfindung – entfiele damit die Basis für Judentum und Judenstaat? Doch von diesen Überlegungen war ich Anfang 2007, als meine intensive Beschäftigung mit der Thematik begann, noch Äonen entfernt. Ganz im Gegenteil mochte ich seinerzeit den Darlegungen der beiden Archäologen gern folgen. Und auch das hat einen eher in der menschlichen Psyche als in der wissenschaftlichen Herangehensweise an eine Materie seine Ursachen. Für jemanden, der an der Universität Geschichtswissenschaft studiert hat, gibt es einen Unterschied zwischen den Geschichten der Bücher Mose und den Darstellungen in den Büchern der Könige und der Chronik. Dieser Unterschied findet seinen Weg ins Denken unterschwellig – es ist auch hier das Sein, dass das Bewusstsein prägt. Oder sollte ich besser von Schein sprechen?
Die Arroganz der Nachgeborenen
Die Bücher Mose haben, soweit sie nicht reine Gesetzestexte sind, einen erzählenden Charakter. Sie erscheinen wie Literatur. Literarische Werke mögen einen historischen Kern haben; sie mögen sogar als biografische Darstellungen eine in weiten Zügen wahre Geschichte wiedergeben – aber sie wirken dennoch immer wie eine Erzählung.
Die Bücher der Könige und die Chronik dagegen kommen in zahlreichen Passagen als Annalen daher. In der Vorstellung des Historikers gewinnen sie dadurch unterschwellig an historischer Authentizität – es sei denn, ihm kommt zu Bewusstsein, dass es genau dieser Eindruck ist, der gezielt erweckt werden soll. Doch bis es so weit ist, muss das Bewusstsein erst eine bedeutende Schranke überwinden: Die Arroganz der Nachgeborenen.
Es ist kein Privileg der Intellektuellen, sich Anderen überlegen zu fühlen. Es ist die Arroganz des homo industrialis gegenüber dem homo anticus, die unbewusst unser Denken prägt. Ob in Wissen, sozialer Verantwortung oder politischer Kultur – der Mensch der Gegenwart wird sich den Menschen seiner Vergangenheit gegenüber immer in irgendeiner Weise als fortschrittlicher, weiter entwickelt empfinden.
Der Mensch lebte bereits im Bewusstsein der Evolution, als die Kirche die wissenschaftliche Erkenntnis der Evolution nicht zuließ. Er empfindet sich notwendig, wenn nicht zwangsläufig, als seinen Vorfahren gegenüber weiterentwickelt – denn er müsste sich Stagnation eingestehen, wenn es anders wäre. Stagnation aber empfindet die menschliche Psyche zumindest in der Jugend zu Recht als Rückschritt – der Wille nach Fortschritt scheint homo sapiens sapiens, dem modernen Menschen, in den Genen zu liegen – wobei Fortschritt in diesem Sinne nicht auf die industrielle Revolution des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts eingeengt werden darf. Fortschritt kann auch die Weiterentwicklung der geistigen Fähigkeiten, des sozialen Verhaltens oder einfach nur der Durchdringung der Welt sein. Es zeichnet Homo aus, sein Leben lang ein Pubertierender zu sein – ein großes Kind, das alle Möglichkeiten seiner Existenz durchspielen und austesten möchte. Das unterscheidet den Menschen von seinen nächsten Verwandten, den Menschenaffen, die irgendwann erwachsen werden und damit die Phase des spielerischen Probierens final abschließen. Vielleicht sogar ist diese menschliche Eigenschaft am Ende die Einzige, die homo vom Tier unterscheidet.
Da der Fortschrittsglaube jenseits dessen, dass die Industrialisierung den Irrtum mit sich brachte, Fortschritt grundsätzlich technisch begreifen zu müssen, ein prägendes Element menschlichen Bewusstseins ist, führt die individuelle Arroganz vor allem dann, wenn Handlungen umso weiter zurückliegen, dazu, diese als weniger fortschrittlich zu begreifen. Der Steinzeitmensch gilt homo sapiens industrialis als primitiv. Doch ich wage sehr zu bezweifeln, dass er dieses war. Im Rahmen seiner Möglichkeiten war er alles andere als primitiv – und er war überaus innovativ und progressiv. Jüngere Erkenntnisse der Archäologie scheinen diese meine Auffassung mit jedem neuen Fund nachhaltig zu belegen.
Fortschrittlich seit der Steinzeit
Jene, die das Herstellen von Faustkeilen oder Bogen entwickelten und weiterentwickelten, werden sich gegenüber ihren „primitiven“ Vorfahren, die noch mit einer zufällig aufgefundenen Holzkeule auf Beutezug gingen, als nicht weniger fortschrittlich empfunden haben wie der Computerexperte des einundzwanzigsten Jahrhunderts, der beim Blick auf den Scanner mitleidig auf die Scharen von Mönchen herabschaut, die in ihrem uneingeschränkten Dienst an Gott beharrlich bedeutsame Schriften kopierten. Dabei gilt: Der Blick aus der Talsohle ist ein anderer als der vom Berggipfel – auch wenn es eigentlich keinen Unterschied zu geben scheint. Es ist nicht die Leistung, die die Arroganz des Fortschritts begründet, sondern der Weg, wie diese Leistung erbracht wird.
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