Israel verteidigt seine Demokratie: Justiz-Reform verschoben

Die Demonstranten in Israel sind keine Anarchisten, wie Premier Netanyahu behauptet, sondern das Volk, das die Demokratie schützt. Die regierenden Kopf-durch-die Wand-Politiker haben nicht verstanden, dass in dem jungen Judenstaat Einheit oft wichtiger ist als Rechthaben.

IMAGO / NurPhoto
Demonstranten gegen die Regierung von Benyamin Netanyahu in Tel Aviv, 27.03.2023

Israel hat in den letzten 75 Jahren vier Angriffskriege abgewehrt, behauptet sich fast täglich gegen Terror und tödliche Anschläge, aber der seit drei Monaten stattfindende politische Bruderkrieg ist wohl die größte Bedrohung seit der Staatsgründung. Hunderttausende gehen seit 12 Wochen jeden Samstagabend auf die Straße, jetzt hat die Gewerkschaft auch noch einen Generalstreik ausgerufen. Es sind keine „Anarchisten“, wie die Regierung behauptet. Es ist das Volk gegen Ministerpräsident Benyamin Netanyahu und seine 6. Regierung, bestehend aus seiner Likud-Partei, die mit National-Religiösen und Orthodoxen koaliert. Israel verteidigt gerade seine schwer erkämpfte Demokratie.

Netanyahu hat die zweifelsfrei demokratischen Wahlen am 1. November gewonnen. Aber das berechtigt ihn und seine Koalitionäre noch lange nicht, im Hauruck-Verfahren die unabhängige Gerichtsbarkeit, eine Säule der Demokratie, zu entmachten. Die Reform mag teilweise berechtigt sein, aber sie muss von einer breiten Mehrheit auch außerhalb des Parlaments getragen werden. Genau das Gegenteil ist der Fall: Vom Staatspräsidenten über Wirtschaftskapitäne bis hin zum Militär und Ex-Geheimdienstchefs werden die geplanten Änderungen der Gerichtsbarkeit, vor allem die Art und Weise der Durchsetzung, abgelehnt. 

Im 75. Jahr eine geschriebene Verfassung
Israels Demokratie in Gefahr: Nach Krisen wurde es immer besser
Netanyahu hat jetzt die berühmte Salomon-Parabel aus der Bibel für sich in Anspruch genommen und das Gesetz, das diese Woche im Parlament hätte durchgeboxt werden sollen, auf die Sommer-Sitzung vertagt. Er weiß, warum. Das Land befindet sich im Generalstreik und hätte ihn fortgesetzt. In den nächsten Wochen feiert Israel den Auszug aus Ägypten von vor 3200 Jahren, gedenkt der zahlreichen Opfer aller Kriege und Terroranschläge und hätte allen Grund den 75. Wiedergründungstag zu bejubeln. 

All das muss in den Hintergrund treten, weil einige Jung-Dynamiker, die ihre Macht breitbeinig ausnutzen, glauben, sie müssten Israel vor seinen höchsten Richtern retten. Die Neuankömmlinge im Ministerrang stammen zumeist aus Judäa und Samaria, besser bekannt als Westbank. Sie haben keinen Bezug zur weltoffenen, liberalen Lebensart im Großraum Tel Aviv und sind drauf und dran, Israel einzugrenzen und zu seinem Nachteil grundlegend zu verändern.

Netanyahu lässt sie gewähren, denn sie sichern sein Ministerpräsidenten-Amt. Das braucht er dringend, denn der General-Staatsanwalt sitzt ihm wegen Korruptionsaffären seit vier Jahren im Nacken. Jetzt haben ihm die Koalitionsparteien ein Gesetz geschenkt, das ihn vorerst vor einer gerichtlichen Absetzung schützt. Als Gegenleistung gibt es hohe Budgets für Schulen, in denen fast ausschließlich die jüdische Bibel gelehrt und das Wahlvolk in Judäa und Samaria ausgiebig unterstützt wird. Israel gehört aber mit jährlichen 58.000 US-Dollar Pro-Kopf-Kaufkraft zu den reichsten Ländern. Verdient wird das Geld eben in jener weltoffenen, liberalen Welt. Verteidigt wird es auch mehrheitlich von dort. Denn die Bibel-Studenten sind weitgehend vom Militärdienst befreit. 

Außerdem haben die ideenreichen, risikobereiten Unternehmer der Start-up-Nation-in den letzten 20 Jahren das Trinkwasser-Problem in einem 60-Prozent-Wüstenland mittels Meerwasser-Entsalzungs-Anlagen gelöst und erfolgreich nach Gas vor der Küste gebohrt. Das spült Milliarden in die Staatskasse. Nutznießer dieser Leistungen sind auch die Orthodoxen und National-Religiösen, ohne einen messbaren Anteil an der langwierigen Entstehung vorweisen zu können.

All diese Fronten brechen jetzt auf in einem Land, dessen Bevölkerung aus 70 verschiedenen Kulturkreisen stammt. Solange das Wirtschaftswachstum stimmt und die jeweilige Regierung mit Fingerspitzengefühl regiert hat, konnte alles unter einer Wohlfühldecke gehalten werden. Damit ist es jetzt vorbei. Zu verdanken hat Israel das den sturen, dickköpfigen, Kopf-durch-die Wand-Politikern, die nicht verstehen, vielleicht auch nicht verstehen wollen, dass in einer Demokratie und insbesondere in dem jungen Judenstaat Einheit oft wichtiger ist als Rechthaben.

Das umso mehr, als Israel weitaus ernstere Probleme hat: Der Iran kommt der A-Bombe immer näher und sie ist auf Tel Aviv und Jerusalem gerichtet. Die Terror-Organisationen vor der Haustür warten auf ihre Chance, ein schwaches Israel anzutreffen. Der Krieg in der Ukraine ist auch für Israel eine große Herausforderung, weil Russland in Syrien einen nicht unerheblichen Einfluss ausübt.

Das hat den Ex-Geheimdienstchef (Mossad) Tamir Pardo aktuell dazu veranlasst, live in den TV-Nachrichten zur Hauptsendezeit seine Sorge zum Ausdruck zu bringen: Das sei nicht mehr der Netanyahu, der ab 2010 sein oberster Dienstherr war. Tamir Pardo ist einer von vielen hochrangigen, verdienten Israeli, die für ihr Land jahrelang ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben und diese Sorge öffentlich teilen. Hinter diesem Vorgang steckt eine der wenigen positiven Nachrichten in Israel dieser Tage: Die Demokratie funktioniert – noch. 


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Kommentare ( 13 )

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Aegnor
1 Jahr her

Das was von diesen „Protesten“ nicht vom Ausland von Antiisraeliten wie Soros & Co angezettelt wurde, sind schlicht die demografischen Verlierer der israelischen Gesellschaft zu denen offenbar auch Herr Rosenberg gehört. Diese „linksliberalen, westeuropäischen Juden“ wollen nicht akzeptieren, dass die Zeit, wo sie den Kurs des Landes bestimmten vorüber ist. Die Zukunft Israels gehört den Konservativen/Orthodoxen – und nein, das sind nicht alles arbeitsverweigernde Haredim. Das ist nur ein kleiner Teil.

Ralf Poehling
1 Jahr her

Es kommt selten vor, dass ich mit ihrer Meinung auf Kriegsfuß stehe, Herr Rosenberg, aber hier liegen Sie daneben. Wolffsohn hat bei der Welt eher den Punkt getroffen. Was da in Israel gerade auf den Straßen abläuft, ist in etwa das selbe, wie wenn deutsche Touristen sich in Spanien am Ballermann vollsaufen und daneben benehmen wie bei sich Zuhause. Deutsche Touristen am Ballermann sind keine Spanier und sie benehmen sich auch nicht so, obwohl sie das durch ihre dortige Daueranwesenheit nicht selten meinen. Oder etwas allgemeiner: Die, die da in Israel gerade „protestieren“, führen sich auf wie Europäer im Urlaub.… Mehr

RMPetersen
1 Jahr her

Wie werden denn eigentlich in Deutschland oberste Richter ernannt? In einem transparenten Verfahren, vom Parlament öffentlich befragt und gewählt?
Ach …
Und die von der Regierugnsprtei ernannten deutschen Verfasungsrichter urteilen dann so, daß das Parlament nichts mehr zu sagen hat, zB bei dem sog. Klimaurteil und auch in der Definition Staatsvolk und Staatsbürger.

ketzerlehrling
1 Jahr her

Noch hat die Diffamierung der Bevölkerung nicht diesen Effekt wie im Westen, aber das kommt auch noch. Die Bastion der Demokratie im nahen Osten muss fallen und das wird sie, denn Netanjahu ist offensichtlich unantastbar, oder die Opposition ist zu schwach, um geeignete Kandidaten aufzubauen. Ein Jammer, in welchem Zustand die Menschheit ist und das weltweit. Noch mehr Masse, vor allem in den „richtigen“ Regionen, dadurch noch mehr totale Verblödung, noch mehr Absenken des Bildungsniveaus, noch mehr Kriminelle und noch mehr Kanonenfutter für die Möchtegernelite, egal für welchen Zweck.

Berlindiesel
1 Jahr her

Es gibt aber noch eine ganz andere Deutung als die von Godel Rosenberg angebotene. Man sollte ohnehin immer vorsichtig sein und alle Warnleuchten angehen, wenn jemand Demonstationen als „Verteidigung der Demokratie” labeln will. Die Demonstranten in Israel, die Gegen die „Justizreform” demonstrieren, verteidigen nicht „die Demokratie” (die in Israel nicht in Gefahr ist, weil nicht mal die Rechtsorthodoxen sie bestreiten) sondern nur den Linksliberalismus.   Was ich nämlich aus jüdischen Quellen auch lese, ist, dass sich hier ein alter und sich mehr aus demographischen denn politischen Gründen verschärfender Konflikt entlädt, der den Staat Israel seit Anbeginn überformt. Die politische Elite,… Mehr

Peter Klaus
1 Jahr her

Frankreich, Israel: Die Regierung beschließt irgendetwas, den Bürgern gefällt es nicht, sie gehen auf die Straße.
Deutschland: Die Regierung beschließt irgendetwas, den Bürgern gefällt es nicht, sie gehen zur Arbeit.

Axel Fachtan
1 Jahr her

Ein Land und ein Volk, das aufgrund der Feinde in der Nähe in dauerhafter schwerer Bedrängnis ist, verteidigt den Rechtsstaat und die Demokratie gegen die eigenen Regierung. Das ist schon ein Erfolg, an dem sich Deutschland ein Beispiel nehmen kann.
Die Transformation von der Industriegesellschaft zur Flüchtlingsrepublik ist nicht zwingend. Wenn die Mittelschicht hier und jetzt genügend Gegenwehr leistet.

Klaus D
1 Jahr her

In deutschland hätten die porteste nichts gebracht da hier die presse zu 99% hinter der regierung steht. Konnte man jetzt gut bei dem streik sehen wo im vorfeld die medien vom untergang der „welt“ geschrieben haben. Deutschland werde still stehen und nicht werde sich mehr bewegen! Wenn wir es in deutschland nicht schaffen die presse von der politik zu trennen wird es hier weiter die Kopf-durch-die Wand-Politik ala Kohl, Schröder, Merkel und Scholz geben.

EinBuerger
1 Jahr her

Michael Wolffsohn schrieb einen Artikel bei der WELT. Ich habe nur die Überschrift gelesen. Aber ich vermute, dass er es als demographischen Konflikt ansieht. Verschiedene eingewanderte Juden aus anderen Weltgegenden und ihre Nachkommen sehen die Dinge sehr verschieden. Seit Menachem Begin wurde das anfangs linkssozialistische Israel mehr und mehr rechts. Vor allem die orientalischen Wähler, eingewandert aus den islamischen Ländern, haben das bewirkt. Die später eingewanderten russischen Juden haben das noch verstärkt. Auch die ultraorthodoxen Wähler nehmen dank höherer Geburtenrate zu. Ich halte das Ganze für einen Hype. Die Demonstranten sagen sich selbst gegenseitig 24 Stunden am Tag, dass der… Mehr

DeppvomDienst
1 Jahr her

Nur mal als Erinnerung:
Die BRD hat dem jungen Judenstaat weder etwas in Demokratie, noch Alter vorzumachen !