Corona-Politik: Nur wer zurückblickt, erkennt die Fehler

In dem Sammelband „Pandemiepolitik – Freiheit unterm Rad“ sezieren siebzehn Autoren aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen die deutsche Corona-Politik – und deren Langzeitfolgen für die Gesellschaft.

Vor einigen Wochen trat die Premierministerin der kanadischen Provinz Alberta Danielle Smith vor die Kameras, um für die autoritäre Corona-Politik der Vergangenheit um Verzeihung zu bitten. „Es tut mir zutiefst leid für jeden“, so Smith, „der aufgrund seines Impfstatus in unangemessener Weise diskriminiert wurde. Es tut mir sehr leid für jeden Regierungsangestellten, der wegen seines Impfstatus entlassen wurde, und ich heiße sie willkommen, wenn sie zurückkommen wollen.“

Die Regierungschefin blieb bis jetzt die einzige Politikerin, die ausdrücklich um Entschuldigung bat. In Deutschland klingen die Stellungnahmen der Verantwortlichen etwas anders. Kürzlich erklärte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer vor Bürgern, es sei tatsächlich zu Fehlern gekommen: „Es war nicht notwendig, Kindergärten und Schulen zuzumachen, die Bundesnotbremse war nicht notwendig. In dieser Zeit sind sehr, sehr viele Ungerechtigkeiten passiert, es gab sehr viele Entscheidungen, die man heute anders treffen würde. Das kann man nicht ungeschehen machen. Aber man kann offen darüber reden.“ Um dann zu empfehlen, jetzt „ein stückweit nach vorn zu leben, und vielleicht auch nicht so gegenseitig aufzurechnen“.

Ungerechtigkeiten ereigneten sich also im tiefsten Passiv, Entscheidungen fällte ein Kollektiv mit der Bezeichnung man. Und überhaupt sollte beispielsweise ein Krankenpfleger, der gekündigt wurde, weil er sich nicht impfen lassen wollte, den anonymen Verantwortlichen verzeihen, die ihm dann ihrerseits großzügig vergeben.

Sollen impliziert Können
Freiheit und Wissenschaft
Der Sammelband „Pandemiepolitik – Freiheit unterm Rad?“ hält sich ausdrücklich nicht an die Empfehlung, gefälligst nach vorn zu schauen. Er bietet mit Essays von siebzehn Autoren die bisher gründlichste Retrospektive zur deutschen Corona-Politik.

Der Reiz des von Sandra Kostner und Tanya Lieske herausgegebenen Bandes liegt darin, dass die Autoren aus sehr unterschiedlichen Perspektiven die staatlichen Maßnahmen der vergangenen zwei Jahre betrachten, aber auch das Verhalten von Medien und Wissenschaft.

Ohne Rückblicke lässt sich für Gegenwart und Zukunft nichts lernen. In der Textsammlung schreiben mehrere Philosophen und Historiker, zwei Ökonomen, ein Jurist, ein Pädagoge und ein Theologe. Ihre Themen fächern sie weit auf. Eine gern gebrauchte Formel von Politikern, die ähnlich wie Kretschmer argumentieren, lautet: Mit dem Wissen von heute würden sie nicht noch einmal so entscheiden, also Lockdowns verhängen oder Ungeimpften erklären, sie seien „raus aus dem gesellschaftlichen Leben“ (Tobias Hans).

Der Philosoph Markus Riedenauer fragt deshalb in seinem Essay: Wie stand es um das Wissen von damals? „Wissen“, meint er, „wird zunehmend verwechselt mit Information und mit dem Zugriff auf Daten.“ Zur Wissenschaft gehörte es zumindest früher selbstverständlich, Erkenntnisse immer nur als vorläufig und als Teil des Ganzen zu nehmen, zu dem immer auch ein sehr ausgedehntes Gebiet des Nichtwissens gehört. Verbindet sich der unreflektierte Anspruch des Wissens auch noch mit dem Wahren und Guten, so Riedenauer, entstehe eine wissenschaftlich verbrämte Hybris: „Ein neuer moralischer Dogmatismus ersetzt die Kraft des besseren Arguments.“

Wider die Gründungsidee Wilhelm von Humboldts
Ist die Wissenschaftsfreiheit nun bedroht – ja oder nein?
Gerd Morgenthaler, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Siegen, befasst sich damit, wie sich Politiker gern mit der Berufung auf ein Kollektiv namens „die Wissenschaft“ gegen Kritik immunisieren – und wie diese Praxis, nicht mehr abzuwägen und sich zu korrigieren, zu einer Erosion im verfassungsrechtlich vorgesehenen Machtgefüge führt. Und zwar, wie Morgenthaler schreibt, nicht nur in der Corona-Politik, sondern schon vorher in der Euro- und Migrationspolitik.

Der Ökonom Robert Obermeier, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Passau, führt die Denkfallen vor, in die Politiker geraten, wenn sie jedes Risiko vermeiden wollen und sich dabei an Worst-Case-Szenarien orientieren. Andere Autoren untersuchen die Verengung der Debattenräume (zu beobachten ebenfalls nicht nur in der Auseinandersetzung über den Sinn der Maßnahmen als Teil der Corona-Politik).

Herausgeberin Sandra Kostner, Historikerin an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch-Gmünd, prägt in ihrem Beitrag den Begriff des „gesellschaftlichen Long Covid“, also den Verwerfungen und Verirrungen im Verhältnis zwischen Staat und Bürgern, die vermutlich auch bleiben, wenn selbst in Deutschland die letzten Maßnahmen gegen das Virus verschwinden. Individuelle Freiheit verwandelt sich in diesem neuen autoritären Denken zur Bedrohung des Allgemeinwohls, als dessen Hüter sich Amtsinhaber verstehen, und Grundrechte zu milden Gaben, die der Staat zugesteht oder entzieht. „Diese Haltung befördert einen Staat“, so Kostner, „der in seinen Bürgern keine mündigen Individuen, sondern unmündige Schutzbefohlene sieht, deren Freiheitsgebrauch er durch detaillierte Verhaltensanweisungen reglementieren muss.“

Kostner, die auch zu den wichtigsten Köpfen des „Netzwerks Wissenschaftsfreiheit“ zählt, setzte sich in der Vergangenheit auch mit den Folgen der Identitätspolitik auseinander. Der Wissenschaftlerin, geboren 1974 in Calw, verdanken die Leser nicht nur diesen Sammelband, sondern auch das Hermann-Hesse-Zitat im Titel.

In einer idealen Welt würden sich sämtliche Bundes- und Landespolitiker und auch die meisten Medienmitarbeiter „Pandemiepolitik – Freiheit unterm Rad“ zulegen, schon in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse.

Nach der Beteuerung in den vergangenen dreißig Monaten, die Maßnahmen der Corona-Politik seien alternativlos gewesen, begehen die meisten Angehörigen des politisch-medialen Komplexes mit ihrer Vorwärts-und-Vergessen-Forderung gerade den nächsten Fehler nach exakt dem gleichen kollektiven Muster.


Kostner / Lieske (Herausgeber), Pandemiepolitik – Freiheit unterm Rad? Eine interdisziplinäre Essaysammlung, ibidem, 206 Seiten, 24 €.


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Kommentare ( 60 )

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60 Comments
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Astrid
1 Jahr her

Ihre Geschichte geht noch weiter. Die ständige Testerei der alten und wehrlosen Menschen und zum Schluss der Impfzwang. Wer noch halbwegs klar bei Verstand war, musste sich trotz allem spritzen lassen, damit er den Heimplatz behielt.Eine Freundin aus der Altenpflege hat mir damals berichtet, dass die Tochter, die ihre Mutter besuchte nachdem diese die zweite Spritze erhalten hatte und die dritte (Booster) verweigerte folgendes sagte: „Wenn du die dritte Spritze nicht nimmst, holen wir dich Weihnachten nicht zu uns, dann kannst du hierbleiben.“ Ein weiterer Fall, war eine Tochter, die vor der Corona-Krise ihre Mutter täglich besuchte und sie zum… Mehr

Alf
1 Jahr her

begehen die meisten Angehörigen des politisch-medialen Komplexes mit ihrer Vorwärts-und-Vergessen-Forderung gerade den nächsten Fehler nach exakt dem gleichen kollektiven Muster?

Fehler.?
Alle Politdarsteller und Corona-treiber werden weiter nach vorne blicken. Irgendwo auf diesem Planeten wird sich doch ein Corona-Ereignis finden lassen, der medial aufgepushed werden kann, etwas, das sich für die Beibehaltuing der Panikmache verwenden läßt.
Das beste Beispiel ist China oder sind
Meldungen wie diese

Neue Corona-Variante erstmals in Niedersachsen nachgewiesen

Variante XBB 1.5. in Labor nachgewiesen.

Experten: Variante wird sich hier durchsetzen.

Wie schnell Ausbreitung geht, lässt sich nicht prognostizieren

https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/neue-coronavirus-variante-in-niedersachsen-nachgewiesen-102.html

Corona wird nie aufgearbeitet werden. Da sind sich alle Darsteller einig.

elly
1 Jahr her

der Graben zwischen jung und alt, den Greta und ihre FFF Jünger aufgerissen haben, wurde durch Corona massiv verbreitert und vertieft. Das ist auch nicht mehr zu kitten. Die Alten plärren nicht in die Kamera „How dare you“, aber sie sollten es. Die Eltern haben sich nicht vor ihre Kinder gestellt, im Gegenteil viele Eltern ließen ihre Kinder impfen. Natürlich nur für die Alten, sagen sie. Der Riss durch die Gesellschaft ist groß. Nachdem immer mehr PolitikerInnen von Zusammenhalt und unterhaken schwadronieren, muss es schon sehr arg um unsere Gesellschaft stehen.

Last edited 1 Jahr her by elly
Dat Heindel
1 Jahr her

Da es eine Plandemie, mit einem unbrauchbaren Test der sich PCR nannte, kann es kein verzeihen geben.
Denn was uns noch immer angetan wird, die Worte die Taten und die Ziele, sind so abgrundtief böse, dass mich immer wieder die breite Akzeptanz schockiert.

Wir haben in der Verwandtschaft drei Menschen nach den Spritzen unerwartet und plötzlich verloren. Und ich werde angefeindet, weil ich den Zusammenhang zur Spritze machte. Die Verantwortlichen haben ganze Arbeit geleistet, das Land ist tief gespalten.

Julie Krefeld
1 Jahr her

Das Wissen um die Gefährlichkeit war im Mai/Juni 2020 Streeck/Gangelt und spätesten im Oktober mit der Ioannidis Metastudie gegeben… Das Wissen um den Masken Schwachsinn im Bezug auf respiratorische Viren lange vorher

ketzerlehrling
1 Jahr her

Im Zurückblicken sind die Deutschen zwar Weltmeister, siehe drittes Reich, aber gelernt und begriffen haben sie nichts. Wieso sollte dies bei Corona anders sein?

GefanzerterAloholiker
1 Jahr her
Antworten an  ketzerlehrling

Bin viermal geimpft. Habe nur einmal Corona gehabt und das nach der zweiten Impfung.“
„Und Deine Tumoroperation?“
„Das ist was anderes. Die Impfung war ein voller Erfolg. Wir haben nur eine geringe Übersterblichkeit. Denn Corona ist und bleibt gefährlich.“
So blicken sie zurück.
In fünf Jahren werden sie noch sagen, Corona bleibt gefährlich.

Ede Kowalski
1 Jahr her

„„Ein neuer moralischer Dogmatismus ersetzt die Kraft des besseren Arguments.“
Sie haben nur Befehle befolgt, nur das Beste gewollt, Schlimmeres verhindert usw. Der Treppenwitz der Geschichte ist, dass nach Jahren der Nazi-Hysterie bei erst bester Gelegenheit die Nazi-Reflexe und das Nazi-Erbe erneut zur Hochblüte gekommen sind, und keiner will es wahrhaben. Das war sie wieder die Mesalliance von Fanatikern, Hetzern, Mitläufern, Denunzianten, Bütteln, Mördern, Nutznießern und Gläubigen.

Last edited 1 Jahr her by Ede Kowalski
Kassandra
1 Jahr her
Antworten an  Ede Kowalski

Na. Sie haben die Themen gewechselt und manche diametral umgedreht. Heute zieht man nicht mehr in den Krieg – man holt sich die Invasion ins Haus. Auch liefert man Waffen, um ganz andere kämpfen zu lassen. Das Gas dreht man ab statt an – und bei der Injektion setzt man, nach Auslösung größter politisch-medialer Panikmache, auf Freiwilligkeit – während man überfüllte „Züge“ schafft, indem man gleichzeitig ein 9-Euro-Ticket unters Volk mischt. Kunstgegenstände bringt man nach Nigeria – statt welche zu requirieren. Und diesmal schröpft man das eigene Volk durch Energiepreiserhöhung, Inflation und Erbschaftssteuer, um der eingereisten Masse daraus dauerhaft Tribut… Mehr

humerd
1 Jahr her

„Um dann zu empfehlen, jetzt „ein stückweit nach vorn zu leben, und vielleicht auch nicht so gegenseitig aufzurechnen“.“ sorry, aber genau das wird doch weiterhin nur allzu gerne verwendet. Noch immer gilt das Narrativ die Jungen hätten ganz besonders arg für die Alten verzichtet. Ein ausgefallener Club- oder Discobesuch wird höher bewertet, wie der ausgefallen Bingo Nachmittag im Pflegeheim. Die Isolationshaft und das Besuchsverbot der Pflegeheimbewohner und Patienten in Kliniken wird tot geschwiegen. Niemand fragte die Alten, ob sie das denn wollten. Ich kennen keinen in meinem Bekanntenkreis, alle Ü65er, die Schulschließungen gewollt haben. Ab 60 Jahren wurde die Bevölkerung… Mehr

Robert Tiel
1 Jahr her

Abgewickelt.
Land und Volk werden abgewickelt.
Das haben Sarrazin, Sieferle und andere schon früh erkannt.

Robert Tiel
1 Jahr her

Korrigieren Sie mich:
Das „ Infektionsschutzgesetz“, das all die Maßnahmen legitimierte, ist mE immer noch geltendes Recht.
Auch ganz ohne Infektion.
Das ist der wirkliche Skandal.

humerd
1 Jahr her
Antworten an  Robert Tiel

Das Infektionsschutzgesetz wurde am 12. Mai 2000 vom Deutschen Bundestag mit Zustimmung des Bundesrats am 20. Juli 2000 als Art. 1 des Gesetzes zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften (Seuchenrechtsneuordnungsgesetz – SeuchRNeuG) beschlossen und trat am 1. Januar 2001 in Kraft.
Soweit ich weiß ist aber die sogenannte Bundesnotbremse nicht mehr in Kraft. Diese hatte eine Befristung.

Ede Kowalski
1 Jahr her
Antworten an  Robert Tiel

„Das ist der wirkliche Skandal.“
und darum kein Vergeben! Kein Vergessen! Keiner der Volksvertreter die sich angemaßt haben die körperliche Unversehrtheit der Bürger in Frage zu stellen und die dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt haben, gehören in das Parlament eines freiheitlich demokratischen Rechtsstaat.