Goethe hinterließ Neunkirchen nur wenig schmeichelhafte Worte

Warum bekam Johann Wolfgang von Goethe in Neunkirchen trübe Gedanken? Städte sind ihre Straßen und Gebäude, aber auch die Menschen, die sie prägen. Und ihre Geschichten. Diese stellt TE in der Serie „Stadtgesichter“ vor. In dieser Folge geht es um die wenig freundlichen Worte des Dichterfürsten Goethes über Neunkirchen/Saar.

IMAGO / Becker&Bredel
Eine Gedenktafel an einem Haus in der Neunkircher Irrgartenstraße erinnert an Goethes Aufenthalt in Neunkirchen

Johann Wolfgang von Goethe hat Neunkirchen/Saar besucht. Eigentlich ist er eher drumherum geritten. Eine weise Entscheidung. Die Stadt zu betreten kann einen nämlich frustrieren.

Der Saarländische Rundfunk hat vor einigen Jahren sein Sendegebiet aus der Luft gefilmt. Entstanden ist eine Dokumentation, die Leute und Sehenswürdigkeiten des kleinsten Flächenlandes in Deutschland vorstellt. Fünf von sechs Landkreisen sind zu sehen – nur Neunkirchen nicht: Die Saarschleife, die Keltenfunde, das Schloss – das Schöne findet sich woanders – Neunkirchen war das Leverkusen des Saarlandes, heute ist es das Gelsenkirchen.

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Das Umland. Ja. Das Umland Neunkirchens ist schön. Viel Grün, Weideland und die Reste von Wäldern machen Spaziergänge lohnenswert. Um Neunkirchen herum. In die Stadt reinzugehen kann indes frustrierend sein. Legendär war die Bahnhofskneipe. Kaum ein Ort in der Republik kannte so eine hohe Dichte an Tagesalkoholikern. Die Bahn hat sie mittlerweile geschlossen und durch einen Kiosk mit einem kleinen Bistro ersetzt. Wobei das Schließen fest zur jüngeren Neunkircher Geschichte gehört.

Schon früh hatte sich herumgesprochen, dass es sinnvoller ist, um Neunkirchen herum zu reisen, als sich zu tief in die Stadt zu wagen. Johann Wolfgang von Goethe war hier. 1770. Als Straßburger Student. Er besuchte das Schloss Jägersberg, das kurz danach zerstört wurde. Es beeindruckte ihn, wie sich die Stadt in den Berg reinpresste. Er hinterließ der Nachwelt auch ein Zitat:

„Hier, mitten im Gebirg, über einer waldbewachsenen finsteren Erde, die gegen den heiteren Horizont einer Sommernacht nur noch finsterer erschien, das brennende Steingewölbe über mir, saß ich an der verlassenen Stätte lange mit mir selbst und glaubte niemals eine solche Einsamkeit empfunden zu haben.“

Es sind keine heiteren Worte Goethes. Ja nicht einmal freundliche. Der Bergbau rund um Neunkirchen interessierte ihn, die Eisenverhüttung ebenfalls. In seiner späteren Weimarer Zeit sollte er versuchen, sie nachzuahmen. Wenn auch mit wenig Erfolg. Nicht viele deutsche Autoren beschäftigten sich vor dem Naturalismus mit der Arbeitswelt. Neben Goethe eigentlich nur Heinrich Heine und Georg Büchner. Die Deutschen schrieben lieber über die Grazie griechischer Götter und über verhexte Feen in tiefen Wäldern. Um Neunkirchen herum hätten sie sich wohlgefühlt. Die Stadt selber hätte sie gegruselt.

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Gruselig kann Neunkirchen immer noch sein. Einige der ersten Verhaftungen von Mitgliedern der „Sauerland-Gruppe“, islamische Terroristen, fand in Neunkirchen statt. Der Niedergang der Montanindustrie hat die wirtschaftliche Existenz vieler Deutschstämmige ruiniert. Aber sie hat auch Menschen, die ein warmes Heimatland verlassen haben, um im kalten Deutschland reich zu werden, um ihre wirtschaftliche Existenz gebracht. Der Frust, der in der Neunkircher Bahnhofskneipe zu Hause war, lässt sich nur bewältigen, wenn man die Kneipe einfach schließt. Vertreiben lässt er sich kaum.

Wie im Ruhrgebiet haben die Verantwortlichen der Stadt versucht, sich ein neues Image zu geben. Um fair zu bleiben: Was sollen sie auch anders machen? So feiert sich Neunkirchen selbst als „Musicalstadt“, organisiert rund um das Thema Veranstaltungen. Doch um ehrlich zu bleiben: Publikum aus New York oder London abziehen tut das nicht. Nicht mal aus Offenbach. Die Macher sind schon froh, wenn sich jemand aus dem 40 Kilometer entfernten Kaiserslautern auf ein Konzert verirrt.

Andere Projekte verliefen erfolgreicher. Das Saarpark-Center zieht durchaus die lokale Kundschaft an. Wobei die Anreise bevorzugt mit dem Auto erfolgt. Das gibt den Kunden die Möglichkeit, in der abgeschlossenen Glitzerwelt des Einkaufszentrums bleiben zu können – und sich den Rest der Stadt nicht ansehen zu müssen. So wie die Attraktion Bliesterasse, die eigentlich nur in die Landschaft gespuckter Beton ist. Im Alten Hüttenareal sind ein Kino und Gastronomie angesiedelt. Für Nah-Erholer ist Neunkirchen durchaus eine kleine Insel in der Ödnis des Saarlandes.

Für Neunkirchen bedeutet das Hüttenareal eigentlich mehr als Brandenburger Tor, Potsdamer Platz oder Friedrichstraße für Berlin zusammen. Kohle, Eisen und Stahl waren alles in Neunkirchen. Deswegen hat sich an dieser Stelle eine Stadt in die Berge gefressen und auch nur deswegen sind heute noch rund 45.000 Übriggebliebene da. Mitunter etwas frustriert vielleicht.

Bereits hunderte Jahre vor Christi Geburt bauten die Menschen rund um das heutige Neunkirchen Kännelkohle ab. Es gilt als der älteste Steinkohlebergbau in Deutschland. Das Eisenwerk Neunkirchens wurde bereits 1593 gegründet – vor dem 30-jährigen Krieg, vor Ludwig XIV oder Lessing. Auch vor Goethe, der das Werk respektierte, obwohl sein Anblick ihm schlechte Laune bereitete.

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Sein Anblick prägte für hunderte Jahre das Leben der Neunkircher. Nahezu von überall aus waren die Hüttenanlagen zu sehen. Vor allem aber vom Stummplatz aus, dem kleinen Zentrum Neunkirchens. Ebenso bestimmend wie drohend wie das Wohnhaus in „Psycho“ thronte das Werk mit seinem Wasserturm über den Menschen unter dem oft trüben Himmel. Der Smog in den 80er Jahren in Neunkirchen konnte sich durchaus mit dem über Berlin oder dem Ruhrgebiet messen. Doch das Eisenwerk schloss 1982. Seitdem stirbt Neunkirchen. Es ist noch nicht verwest, aber es müffelt. Zwischendrin hatte die Stadt Deutschlands höchste Arbeitslosenrate. Obwohl seitdem viele Subventionen von Bund und Land geflossen sind, haben sich die Daten nie wirklich gebessert – ebenso wenig wie das Lebensgefühl.

Immerhin schrieb die Borussia aus Neunkirchen einmal Fußballgeschichte. Wie Bayern München war sie 1963 kein Gründungsmitglied der Bundesliga. Der DFB bevorzugte die renommierteren Vereine 1.FC Saarbrücken und 1860 München. Doch nach der ersten Saison hätten die Bayern aufsteigen können. Aber die Borussia spuckte dem späteren Weltmeister und Rekordmeister in die Suppe. Das entscheidende Spiel in München gewannen die Saarländer 2:0 und zogen statt der Bayern in die Bundesliga ein. Den ersten Treffer erzielte Günter Kuntz, der Vater des späteren Europameisters Stefan Kuntz.

Damals thronte das Ellenfeld-Stadion fast genauso stolz über der Stadt wie das Eisenwerk. Heute ist es eine verfallene Quasi-Ruine. Beim letzten Besuch des Autors dieses Textes im Herbst 2019 bot es noch eine Pinkelrinne in der Besuchertoilette. Falls sie seitdem nicht modernisiert wurde, dürfte sie bald unter Denkmalschutz stehen. Wer über die einst schöne, heute verfallene Tribüne des Ellenfeld spaziert, bekommt jedenfalls trübe Gedanken. Wie einst Goethe auf den Hügeln rund um Neunkirchen.

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Kommentare ( 17 )

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Hegauhenne
1 Jahr her

Da möchte doch dringend etwas Erfreulicheres beitragen.
Goethe in Thayngen und Schaffhausen, wo wir erfreuliche 21 Jahre unseres Arbeitslebens verbringen durften. ?
https://www.shn.ch/leben-leute/nostalgie/2018-07-12/wie-die-region-schaffhausen-johann-wolfgang-von-goethe
Und einen schönen Sonntag noch allen Tichy-Lesern!

Norbert Gerth
1 Jahr her

seien sie gewiss, Neunkirchen ist dem gesamten „Deppenland“ zwischen Rhein und Oder nur ein wenig voraus gegangen.

chez Fonfon
1 Jahr her

Zumindest war Neunkirchen noch bis vor zehn Jahren eine ehrliche, wenn auch etwas heruntergekommene Arbeiterstadt, in der man hauptsächlich Neunkircher platt schwätzte, was immerhin für eine gewisse Heimeligkeit in den Kneipen und Geschäften sorgte. Man war eine große, wenn auch verarmte Familie mit gemeinsamen Erinnerungen ans Stahlwerk und die damit verbundenen Katastrophen wie etwa die Explosion des Gasometers. Und in besagter Suffbude am Bahnhof wurden wenigstens keine Frauen belästigt, sondern „noch e Pils und mir aaa noch e Pils“ bestellt. Und Frauen mussten keine Angst haben, abends durch den Plättchesdohle zu gehen. Doch mit der Verbundenheit geht es seit 2015… Mehr

Juergen P. Schneider
1 Jahr her

Hab in der Nähe dieser öden Stadt einige Jahre lang gearbeitet. Dort möchte man nicht tot über dem Zaum hängen, geschweige denn leben.

vinkd
1 Jahr her

Leider ist NK nicht nur das Gelsenkirchen, sondern auch das Kreuzberg des Saarlandes. Ich habe 1975 mein Abi dort gemacht, kenne als bahnreisender Schüler auch das damalige Umfeld mit Bahnhofskneipe. Im Vergleich zu dieser Zeit gibt es heute dort nur noch selten öffentlich Leute, die man von der Sprache her versteht. In meiner damaligen favorisiertn Disco ist heute das Bestattungsunternehmen OSIRIS (!), ganz nahe bei Goethe, aber heute kann man da nur aus dem Irrgarten fliehen. Der Hauptgrund für den Schlamassel liefert wieder einmal die Politik. Die Saar-CDU hat schon in den 70ern versäumt, moderne Industrie (wie z.B. Siemens, die… Mehr

LM_978
1 Jahr her

In Ottweiler geboren, habe ich in Neunkirchen bis zum 16.Lebensjahr meine Jugend verbracht.
Teils harte Worte.
Aber leider nicht ganz unwahr.
Man merkt davon aber nur, wenn man weggegangen ist, und Anderes kennengelernt hat.
Man darf den Leuten nicht anlasten, dass sie es nicht versuchen würden. Klar ist aber auch: wer etwas erreichen will, der zieht meist weg.
Das Thema Kohle und Stahl war schon Geschichte, als ich vor 39-30 Jahren dort in der Schule war.

Niklot
1 Jahr her

Neunkirchen, ist das nicht die Heimat des Dachdeckers Erich H.? Dem ist Goethes Einsamkeit zu Kopfe gestiegen, sodass er in die Welt auszog, um selbige nach den damaligen Maßstäben zu verbessern. Alles zum Wohle des Volkes. Er wusste auch noch, wie bei Wahlen die Opposition keine Sitze erhielt und die Einheitsfront gegen den Verschissmus 100 °/• hielt. Er wusste auch, um die Einheit von Wirtschafts-:und Sozialpolitik und konnte erfolgreich den mobilen Indiidualverkeht auf ca. 2000 gefahrene km pro Kopf und Jahr reduzieren. Dieses Paradies verließen nur rund 1000 Menschen pro Jahr. Gibt es eigentlich schon ein Museum? Das wäre doch… Mehr

vinkd
1 Jahr her
Antworten an  Niklot

Ich darf Sie korrigieren. Neunkirchen ist nicht die Heimat des angebotenen Dachdeckers, sondern die Stadt Wiebelskirchen. Da das Saarland räumlich ja recht klein ist, kann man das schon mal verwechseln. Ihre Ausführungen zum Verhältnis Dachdecker /Goethe finde ich wie auch immer ausgeprochen lehrreich. Meinten Sie eigentlich Faschismus (Rechtschreibung?)?

Dieter Kief
1 Jahr her
Antworten an  Niklot

Konstruktiver Vorschlag Niklot – Dachdecker-Erich Museum als „Wachstumsimplus Neunkirchen neu“!!! Isch pflischte aus kurpälzer Perspektive voll bei!

Dieter Kief
1 Jahr her

„Nicht viele deutsche Autoren beschäftigten sich vor dem Naturalismus mit der Arbeitswelt. Neben Goethe eigentlich nur Heinrich Heine und Georg Büchner. Die Deutschen schrieben lieber über die Grazie griechischer Götter und über verhexte Feen in tiefen Wäldern.“ Das ist nicht richtig. Seume, Moritz, Bräker, Gotthelf, Novalis, Marx und Engels, Raabe, Felder, Eichendorff, Freytag, Goehte (!) schreiben alle über die Arbeitswelt. Manche von denen sonst fast nichts. Grimmelshausen auch. Goethes gednaken seien im übrigen nicht trüb gewesen, sondern einfach nachdenklich. Das kommt heute nicht mehr so gut, da der ÖR einen blendende Laune Schirm über Saarland und Palz spreitet. Man soll… Mehr

Scotus
1 Jahr her

Sehr geehrter, lieber Herr Thurnes,
… ein wahrhaft trauriger Artikel, am Samstag Abend.
Da hilft jetzt nur noch ein Spätburgunder aus dem Weingut Petgen-Dahm vom anderen Ende des Saarlandes. Damit lässt sich der Abend nach diesem Artikel dann leidlich ertragen.
Gut, dass Sie nicht durch Friedrichsthal, Sulzbach/Saar, Dudweiler weiter nach Brebach gefahren sind (auch da war Goethe) … sie würden weinen …

eifelerjong
1 Jahr her

“ Seitdem stirbt Neunkirchen. Es ist noch nicht verwest, aber es müffelt“
Da können ja die Ludwigshafener Anschauungsunterricht für ihre Zukunft nehmen. Ist nur etwas über 1 Stunde Fahrzeit mit demAuto.

Dieter Kief
1 Jahr her
Antworten an  eifelerjong

In Lumbehafe müffelt es aber schon immer – außer ewnn es stinkt. – Wegä „dä Annilin“ (=BASF, für nicht Rhein-NeckarSozialisierte)!