Wie der weitreichende Skandal auf der Documenta zeigt, ebnet das Aufkommen der Identitätspolitik einer neuen Form des Antisemitismus in Deutschland den Weg. Von Daniel Ben-Ami
Wie konnte ein Land, das sich dazu entschlossen hat, seine Nazi-Vergangenheit aufzuarbeiten, Millionen von Euro ausgeben, um eine Ausstellung zu sponsern, die unverhohlen antisemitische Bilder enthielt? Um die Peinlichkeit noch zu vergrößern, eröffnete der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Ausstellung, und der Besuch des Bundeskanzlers Olaf Scholz war geplant.
Über den Charakter der antisemitischen Bilder sollte niemand einen Zweifel hegen. Viele von ihnen würden gut zu Nazi-Deutschland passen – und das ist nicht als Übertreibung gemeint. Dazu gehört ein Großgemälde mit dem Titel „People’s Justice“ von Taring Padi, einem anderen indonesischen Kollektiv, das ursprünglich im Jahr 2002 produziert wurde. Es enthält zwei besonders abscheuliche Bilder. Das eine zeigt einen Mann mit Schläfenlocken und Reißzähnen, der einen Hut mit einem Nazi-SS-Emblem trägt. Das andere zeigt einen Soldaten mit einem Schweinskopf und einem Helm, auf dem „Mossad“ (Israels Auslandsgeheimdienst) steht. Nach der Empörung über die Bilder wurde das Exponat zunächst verdeckt und dann entfernt.
Halbherzige Entschuldigungen
Einen ähnlichen Standpunkt vertrat das Kollektiv Taring Padi. In einer von der Documenta veröffentlichten Erklärung hieß es: „Wir bedauern zutiefst, in welchem Ausmaß die Bildsprache unserer Arbeit People’s Justice so viele Menschen beleidigt hat. Wir entschuldigen uns bei allen Zuschauer*innen und Mitarbeiter*innen der documenta fifteen, der Öffentlichkeit in Deutschland und insbesondere der jüdischen Gemeinde. Wir haben aus unserem Fehler gelernt und erkennen jetzt, dass unsere Bildsprache im historischen Kontext Deutschlands eine spezifische Bedeutung bekommen hat.“ Mit anderen Worten: Nicht die mörderische Gesinnung des Antisemitismus an sich wurde als Problem gesehen, sondern die Empfindlichkeiten der Deutschen und insbesondere der Juden.
Hinzu kommt, dass viele der Ruangrupa-Organisatoren öffentlich die Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS) gegen Israel unterstützt haben. Diese Bewegung gibt zwar vor, sich für die Beendigung der „Unterdrückung der Palästinenser durch Israel“ einzusetzen, doch endet sie regelmäßig mit Boykottaufrufen gegen einzelne israelische Künstler. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass sich unter den mehr als 1500 ausstellenden Künstlern kein einziger Israeli befindet, obwohl an zeitgenössischen israelischen Künstlern kein Mangel herrscht.
Trotz der Geschichte
Dies alles wirft die Frage auf, wie der Antisemitismus in einer hochkarätigen und öffentlich finanzierten Kunstausstellung eine solche, signifikante Präsenz haben konnte. Dies ist im heutigen Deutschland, das sich ausdrücklich im Gegensatz zu seiner Nazi-Vergangenheit definiert, besonders brisant.
Aber wenn überhaupt, dann vertiefen diese Reaktionen das Dilemma eher, als dass sie es lösten. Auf offizieller Ebene lehnt Deutschland den Antisemitismus nach wie vor entschieden ab, was in den meisten Fällen zweifelsohne richtig ist, und doch hat es ihm am Ende irgendwie Vorschub geleistet.
Das deutsche Vorgehen lässt sich auch nicht durch ein prinzipielles Festhalten an der künstlerischen Freiheit erklären. Man könnte argumentieren, dass der antisemitische Charakter der Darstellungen zwar anerkannt, die Bilder aber aus Gründen der freien Meinungsäußerung dennoch ausgestellt werden sollten. Aber auch das war hier nicht der Fall. Als der antisemitische Charakter von „People’s Justice“ mit Verspätung erkannt wurde, wurde er schnell vertuscht und die Bilder dann abgehängt. Irgendwie scheint sich die deutsche politische Klasse im Versuch, eine solche Ausstellung zu ermöglichen, verrannt zu haben, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein.
Als die Bundesrepublik Deutschland 1949 im Schatten des Zweiten Weltkriegs gegründet wurde, definierte sie sich als Gegenpol zu ihrem nationalsozialistischen Vorgänger. Sie sollte, im Gegensatz zu ihrem mörderischen und diktatorischen Vorgänger, ein freier Staat sein. Ihre Gründer verstanden, dass sie dem Antisemitismus entgegentreten müssen, während das Nazi-Regime ihn bis zu seinem bestialischen Endpunkt befördert hatte.
Sicherlich gibt es Probleme mit der Art und Weise, wie die Bundesrepublik konstituiert ist. Ihr ausgeklügeltes System politischer Kontrollen und Gegengewichte wirkt wie eine Kontrolle des demokratischen Entscheidungsprozesses und der Souveränität. Das offizielle Engagement im Kampf gegen den Antisemitismus ist weitgehend instrumentell: Es diente wesentlich dem Aufbau der Legitimität des deutschen Nachkriegsstaates und war weniger ein wirklich selbstloser Akt. Dennoch erschüttert und entsetzt das Schreckgespenst des Antisemitismus im Allgemeinen die derzeitige Politikergeneration in Deutschland.
Antisemitismus und Antiimperialismus
Im heutigen Deutschland gibt es zweifellos eine gewisse Sympathie für die zuletzt genannte Form des Antisemitismus. Das erklärt auch, wieso die Kuratierung der Documenta an das ruangrupa-Kollektiv vergeben wurde. Im Gegensatz zur allgemeinen Darstellung ist dieses Kollektiv eher eine politische als eine künstlerische Organisation. In einem wohlwollenden Artikel in der New York Times, in dem die Gruppe vorgestellt wird, heißt es „Ruangrupa als ‚Künstlerkollektiv‘ zu bezeichnen, ist eine gängige, aber vielleicht irreführende, Vereinfachung. Nicht jeder ruangrupan ist ein konventioneller Künstler; einer arbeitete als Journalist, ein anderer ist ausgebildeter Ökologe, ein dritter ist Wissenschaftler.“ Wahrscheinlich ist es besser, sie als eine Agitprop-Truppe zu sehen, die die Gelegenheit ergriff, mittels der Großzügigkeit der deutschen Behörden ihre politischen Ansichten zu verbreiten.
Ruangrupas Ansatz stellt wahrscheinlich schlechte Kunst dar. Ganz sicher aber führt er zu einer miserablen Politik. Die Anhänger dieser Gruppe würden zweifellos argumentieren, dass sie sich auf die Seite der unterdrückten Völker der Welt – gegen die Übel des Kolonialismus und des Rassismus – stellen. Aber dieser plumpe Ansatz bringt die Sache der Freiheit für die Menschen in den ärmeren Ländern nicht voran. Stattdessen wird er, unbeabsichtigt, zu einem Beispiel für eine andere Form der Heuchelei und des Eiferertums.
Die identitäre Sichtweise trägt dazu bei, die Grundlage für einen neuen Antisemitismus in Deutschland zu schaffen. Unter dem Vorwand, die Vielfalt zu feiern, wird eine neue Opferhierarchie aufgebaut, in der die Juden oft als Schuldige für die Probleme der Welt angesehen werden. Das aber ist wirklich der Antiimperialismus der dummen Kerle und hat nichts mit Selbstbestimmung oder Freiheit zu tun.
Im Original ist der Text von Daniel Ben-Ami auf der Website des Autors und bei Novo erschienen. Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Beppler-Spahl.
[* Hinweis der Redaktion: Dieser Text ist vor dem Besuch von Mahmut Abbas in Berlin erschienen und kann darum das Nichtverhalten von Olaf Scholz bei der gemeinsamen Pressekonferenz am 16. August weder beinhalten noch bewerten.]
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Neutral formuliert: Der linke Westen hat den „globalen Süden“ (der Ausdruck scheint der letzte Schrei zu sein) als Steckenpferd entdeckt. Und in diesem globalen Süden sind einige/viele Staaten islamisch. Und in einigen/vielen dieser Staaten ist Israel / sind die Juden nicht so gern gemocht. Und in diesen Staaten käme niemand auf die Idee „Antisemitismus“ zu rufen. Man bestätigt sich eher gegenseitig, dass man Recht hat. Gleichzeitig gilt bei uns und bei den Linken „Nie wieder“ in Bezug auf die Juden. Das schafft ein Problem, das für jeden offensichtlich ist, aber von niemanden gesehen werden will. Dieses Problem ist auch nicht… Mehr
Zitat: „Dieses Dilemma plagt die deutschen Politiker seit der Eröffnung der 15. internationalen Kunstausstellung Documenta.“
> Na, da bin ich mir aber überhaupt nicht sicher das „dieses Dilemma die deutschen Politiker“ plagt. Wobei man dann im Nachhin -auch- nur an die PK mit Abbas und unseren 24-Prozent „Superkanzler“ Gedächnislückenschscholz denken muß als er während Abbas’s widerlichen Ausfälle schweigend neben diesen stand.
Ich hätte mal unsere Regierungs- und Altpartrien“elite“ hören und sehen wollen, wenn die Documenta von der AfD ausgerichtet worden wäre oder wenn Abbas in Gegenwart eines AfD’lers so antisemitsch ausfallend geworden wäre.
„Dieser plumpe Ansatz bringt die Sache der Freiheit für die Menschen in den ärmeren Ländern nicht voran.“
Gut erkannt! Ich kann mir vorstellen, dass dieses sogenannte Künstler-Kollektiv keinesfalls repräsentativ für Indonesien ist. Eine rasche Internetrecherche nach „Indonesian Art“ fördert jedenfalls ganz andere künstlerische Qualitäten zutage.
Und insgesamt scheint mir Indonesien wahrhaft kein Exempel eines Staates zu sein, welcher durch den bösen, kolonialen Westen an seiner Entwicklung gehindert wird. Die neue U-Bahn von Jakarta jedenfalls (https://de.wikipedia.org/wiki/MRT_Jakarta) braucht keinen Vergleich mit dem U-Bahn-Angebot deutscher Städte zu scheuen.
Zitat:“Sicherlich gibt es Probleme mit der Art und Weise, wie die Bundesrepublik konstituiert ist. Ihr ausgeklügeltes System politischer Kontrollen und Gegengewichte wirkt wie eine Kontrolle des demokratischen Entscheidungsprozesses und der Souveränität. Das offizielle Engagement im Kampf gegen den Antisemitismus ist weitgehend instrumentell: Es diente wesentlich dem Aufbau der Legitimität des deutschen Nachkriegsstaates und war weniger ein wirklich selbstloser Akt. Dennoch erschüttert und entsetzt das Schreckgespenst des Antisemitismus im Allgemeinen die derzeitige Politikergeneration in Deutschland.“ Das System funktioniert nicht wie es gedacht war. Kein Wunder, denn: Das „demokratische“ System der Bundesrepublik ist das übliche parlamentarische System mit wählbaren Parteien, was seit Ende… Mehr
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