Carolin Emcke würdigte mit ihrer Rede in der Frankfurter Paulskirche nicht nur überzeugend den Geist des Grundgesetzes. Sie bewies vor allem auch, wie erstaunlich wenig der liberal-konservative Flügel der Republik inzwischen zur Widerrede fähig ist.
Wenn die Frankfurter Paulskirche für Deutschland mehr ist, als nur ein klassizistisches Gemäuer mit protestantischer Vergangenheit, sollte man die Reden, die darin gehalten werden, mit ernster Miene zur Kenntnis nehmen. In dem rundlichen Sakralbau kamen im Mai 1848 immerhin zum ersten Mal die deutschen Märzrevolutionäre zusammen, um über Deutschlands Einheit in Freiheit und Demokratie zu beraten. In Frankfurt wurde damit das Fundament sowohl der Weimarer als auch der Bonner und Berliner Republik gelegt. Wie bekannt ist, scheiterte die Revolution letztendlich dennoch am Widerstand des preußischen Königs.
Als am Sonntag dort der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen wurde, durfte man freilich nicht die Fortführung der gescheiterten Revolution erwarten. Wozu auch? Spätestens mit der Verabschiedung des Grundgesetzes und allerspätestens mit der Wiedervereinigung kann man hinter der Mission der Märzrevolutionäre einen großen grünen Haken setzen. Das Komitee wurde zu der Verleihung freilich auch nicht von Umwälzungsaspirationen geleitet. Der Selbstanspruch besteht eher darin, das über die Jahre an Demokratie und Freiheit Erreichte zu hegen und zu pflegen. Eine wichtige Aufgabe, gerade in Zeiten, in denen die gesellschaftliche Polarisierung Höchstgrade erreicht, Staatsvertreter jeder Coleur mit Gewalt rechnen müssen und die Zahl extremistischer Straftaten gewaltig in die Höhe schießt.
Mit Carolin Emcke hat der neunköpfige Stiftungsrat dafür eine passende Person gefunden. Ihr bisheriges Schaffen widmete sie als Reporterin für mehrere Zeitungen den Kriegs- und Krisenregionen der Welt, schrieb Bücher gegen Gewalt und Rache, für Versöhnung und Dialog, und führte in ihrer jüngsten Erscheinung ein klares Plädoyer „Gegen den Hass“, der unsere liberale Gesellschaft von innen bedrohe.
So viel Kuscheln …
Die Dankesrede darf man als Zusammenfassung oder Fortführung ihres bisherigen Einsatzes würdigen. Emcke bemühte sich, die Begriffe und Modi derjenigen, die sich vom demokratischen Pluralismus zugunsten von Hass abgewandt haben, zu entschlüsseln. Wer pauschal bestimmte Kollektive abwerte, wie etwa „die Juden“, „die Moslems“ oder „die Homosexuellen“, der nimmt den damit angesprochenen Personen ihre Individualität, ihre ganz persönlichen Eigenschaften und gefährdet ein freiheitliches Miteinander. Ja, er macht sie zu Objekten, die man frei von Empathie und Anteilnahme, auch von menschlicher Würde, ausgrenzen könne.
Entkleidet man die Rede von ihrer dekonstruktivistischen Ummantelung, bleibt ein überzeugendes Plädoyer für Menschenrechte, Liberalismus und Diversität. Im Prinzip eine Bekräftigung des Grundgesetzes im Vokabular der Frankfurter Schule. Die Verleihung und die Rede waren also insofern Ereignisse, unter die so gut wie jeder gute Demokrat seine Unterschrift setzen könnte.
Mehr noch als eine schöne Würdigung des Grundgesetzes, müssen die Worte allerdings Balsam auf der Seele des politischen und publizistischen Linksliberalismus gewesen sein. Denn: Die Rede kommt fast ohne Kollektivbegriffe aus. Emckes ganze Intention besteht darin, Kollektivismen in ihre Einzelteile zu zerlegen, von humanistischer Warte zu begutachten und Fehlbenutzung anzuklagen. In den Teilen der Öffentlichkeit, die mit Wörtern wie „Nationalstaat“ oder „Leitkultur“ nichts anfangen können, aber unter dem Druck der Flüchtlingskrise argumentativ in Bedrängnis geraten sind, erfreut sich ein solcher Debattenbeitrag freilich höherer Beliebtheit. Aus „Deutschland“ und „Abendland“ wird so ein liberal-demokratischer Rahmen für eine offene Gesellschaft der Einzelteile, die gut ohne gemeinsame Zuschreibungen auskommen können.
… war selbst Gauck zu viel
Der Einwand, der hier von der anderen Seite des politischen Spektrums kommen müsste, trug überraschenderweise Joachim Gauck vor. Bei seiner Tischrede zur Eröffnung des Festessens nach der Preisverleihung fragte der Bundespräsident höflich bei Emcke nach, ob sie ihm, aus ihrer Warte, denn eine Definition der Nation liefern könne. Denn, wenn man, wie Emckes ehemaliger Mentor Jürgen Habermas, nur von Verfassungspatriotismus spreche, was bleibt dann noch an positiven Bestimmungen des deutschen Staatsvolks? Wenn sich Kollektivbegriffe per se ins völlig Heterogene und Individuelle auflösen, welches Recht gibt es dann, in Nationalstaaten, ja sogar in Staatenbünden zu hausen? Kann unsere Gesellschaft wirklich allein von dem Gedanken leben, „Vielfalt nicht nur zu tolerieren, sondern zu feiern“? Was bleibt jenseits von Diversity und Grundrechten? Denkt man die Ausführungen Emckes zu Ende, gibt es schlussendlich keine „Deutschen“ mehr, die sich von anderen liberalen Demokratien unterscheiden könnten. Jede über-individuelle Übereinkunft unterhalb des Weltstaates wäre im Prinzip illegitim. Das mag ja keine unbeliebte Forderung sein, nur realistisch ist sie wenig. Gerade Joachim Gauck, als Präsident eines solchen Kollektivs – den Deutschen –, müsste dann um sein Amt bangen – oder sich bei der UNO bewerben.
Gerade an dieser Stelle wird der blinde Fleck jenes links-liberalen Konsenses, den Emcke in ihrer Rede so eindrucksvoll auf den Punkt brachte, offenkundig. Wer politische Gemeinschaften nur von Minderheiten oder gar Individuen her denkt, vergisst nur allzu leicht, warum sich ein loser Personenkreis überhaupt als demokratische Nation begreifen sollte. Mehr noch als die Übereinkunft über gewisse verfassungsrechtliche Regeln steckt hinter jeder funktionierenden Demokratie eine latente Zuschreibung zu einem nationalen Kollektiv, einer gemeinsamen Kultur, Sprache, Geschichte und Verbundenheit. Diese muss ja keinesfalls ethnisch definiert sein, nur auf irgendetwas muss die „liberale, säkulare, offene Gesellschaft“, wie Emcke sie nennt, errichtet werden. Gerade wer das Wort des „Einwanderungslandes“ redet und über die Integration nicht schweigt, der darf die Hinzugekommenen nicht nur als Individuen mit Grundrechten betrachten, sondern auch als Bürger, die zum tragenden Teil der kulturell-politischen Gemeinschaft werden müssen. Nur so gelingt der Zusammenhalt einer Nation. Nur so bleibt eine territoriale Demokratie funktionsfähig.
Liberalkonservative Lücke unübersehbar
Dass dieser Widerspruch kaum zu vernehmen war, weder in den bürgerlichen Feuilletons nach der Rede noch in den sonstigen politischen Auseinandersetzungen, kann man als Schwäche des bundesdeutschen Nachkriegskonservatismus deuten, der nicht mehr imstande ist, seine Begriffe und Staatsbetrachtungen öffentlichkeitswirksam zu platzieren. Denn die Kritik, von der hier nur Andeutungen vorgenommen wurden, ist ja keinesfalls neu. Schon 1976 formulierte der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde das Grundproblem des liberalen, säkularen Staates. Er nennt das Unternehmen „liberale Demokratie“ ein Wagnis, dessen Erfolg davon abhängt, „dass sich die Freiheit, die der Staat seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert“. Kurz gesagt: Weil kein König oder Kaiser mehr Loyalität erzwingen kann, lebt die Demokratie vom demokratischen Zusammenhalt der Bürger – und dieser speist sich maßgeblich aus der Bereitschaft zu Moral, Tugend und kulturellem Gemeinsinn. Gerade diese Erkenntnis steht dem Verständnis Emckes und des ihr zugewandten Milieus entgegen: Abgrenzende Kollektivbegriffe werden dort attackiert, nicht positiv besetzt.
Doch zwischen der politischen Gesichtslosigkeit Angela Merkels und den neu-rechten Tönen der latent fundamentaloppositionellen AfD findet der bisherige bundesrepublikanische Liberalkonservatismus keinen Halt – weder in Zeitungen, noch in Parteien. Denn er glaubt weder daran, dass man mal eben hunderttausende Menschen aus fremden Kulturkreisen nachhaltig integrieren könne, noch, dass der Bezug auf ethnisch-völkische Kategorien irgendein Heil wäre. Der liberalkonservative Posten ist weitgehend verloren. Ob nun verlassen oder bewusst zerstört: Zu einem Bekennerschreiben, das Wellen schlägt wie Emckes Rede, ist er scheinbar derzeit nicht fähig. Undenkbar, dass in der Paulskirche, diesem bedeutenden Ort der deutschen Demokratie, ein bedeutender Intellektueller, jenseits von „Willkommenskultur“ und „Rechtspopulismus“, kritische Töne zur Lage der Nation anstimmte, die breite Rezeption und wohlwollende Resonanz finden würden.
So kommt es, dass Carolin Emcke mit ihrem Vortrag und dem begeisterten Kopfnicken, das sie auslöste, nicht nur ein wichtiges, von der linksliberalen Seite kommendes Plädoyer für den Geist des Grundgesetzes hielt. Sie bewies gleichsam unbewusst, wie schwach, verkommen und intellektuell ausgetrocknet der liberalkonservative Gegenpart der Republik mittlerweile ist. So sehr, dass sogar der Bundespräsident für ihn einspringen musste.
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