Die Ukraine hat nicht nur dunkle Tage, sie hat vor allem ein lichtes Leben, kesse Jugendliche, große Opern und auch andere Seiten. Und dann kommt: „Hide and Seek“. Eine Kritik von Torsten Kurschus.
Der Achtteiler wird ausgewiesen als Mystery-Thriller. Doch das ist er nicht. Mit ihrer Serie in düsterer Gräue aus der ukrainischen Filmschmiede schuf Produzentin und Regisseurin Irina Gromozda 2019 ein must see für Freunde der kurzen Spannung und langen Auflösung. Wir besprechen das hier etwas abstrakt, da ich jede Vorwegnahme des Inhalts so empfinde, als würde die Spannung angezapft. Die aber soll trotz Rezension erhalten bleiben.
Atmosphäre und Linie der Kriminalgeschichte haben viel von einer modernen Agatha Christie. Auch erinnert das Set an die immer regnerischen Augenblicke und den Nebel der Blossom Lane im zwielichtigen England des Sherlock Holmes. Assoziativ fühlt man sich alternativ wie auf einem Schrottraumschiff bei Star Trek oder in „Das Letzte Land“ (2019) von Marcel Barion. Das ist so gewollt und passt in unseren Moment.
Bemerkenswert zudem, dass es Hermes Synchron in kurzer Zeit gelungen ist, eine exzellente deutsche Synchronisation zu realisieren. Ungewohntes Lob deshalb an dieser Stelle auch ausnahmsweise einmal für das ZDF. Die Serie in dieser hervorragenden Fassung zu diesem Zeitpunkt zu platzieren, ist mehr als eine Geste. Vor allem auch, weil hier die Ukraine vor dem Überfall aus dem Blick kritischer Kreativer aus dem Land selbst heraus ungeschönt in den Focus des Betrachters gerückt wird.
„Hide and Seek“ zeigt komplexe Milieus. Das sollten Krimis immer. Die Frage, „Wer ist der Mörder?“, wurde längst schon durch komplexe Handlungen und Sprünge zwischen den Zeitsträngen abgelöst.
Als Zuschauer muss man bei dieser Fülle mithalten können. Doch das gilt heute als Standard. Kriminalgeschichten wollen, wenn sie Anspruch geltend machen, gesellschaftliche Bilder zeichnen, die tiefer gehen. Die Regisseurin schafft es, diese Bilder in einen bedrohlich dunklen Rahmen zu setzen. Der modernen Machart mit ihren kurzen Einblendungen als Erinnerung oder Aussicht gelingt es, Situationen zu treffen und den Zuschauer immer dichter in das Netz der Abgründe hinein zu weben.
„Hide and Seek“, auf deutsch Versteckspiel, setzt genau auf diese Karte. Dabei ist wirklich alles drin, was zu einem spannungsreichen Stück gehört: Gute Ermittlungsarbeit bei verwirrenden Verstrickungen und menschlichen Typografien in all ihrer Vielschichtigkeit. Der Faktor Mensch liegt hier außerhalb der ukrainischen Kathedralen, einer 2019 boomenden Landwirtschaft und der einst mächtigen und wichtigen Luftfahrtindustrie. Es geht um die Tiefe mehrdimensionaler Charaktere in einem trotz allem grau überdeckten Land.
Zur Handlung:
Auf mysteriöse Weise verschwinden Kinder in einer ukrainischen Industriestadt. Das klingt wie eine banale US-Story. Aber das ist es nicht – es wird konkreter.
Heldin ist eine Hauptkommissarin mit dem Namen Varta Naumova. Dieser Name bedeutet ungefähr: neue Wahrheit. Meisterlich gespielt von Yuliah Abdel Fattakh. Eine Heldin, hier rothaarig, feurig und zugleich so unnahbar kühl wie die unwillkommene Wirklichkeit. Fattakh spielt eine bis zur Emotionslosigkeit entillusionierte, dem Autismus nahe Kriminalistin, die im System aneckt und ständig Grenzen überschreitet. Dabei hat sie es mit klugen, aber immer auch zwielichtig wirkenden Kollegen zu tun. Es sind im Grunde gute Kerle, aber irgendwie hat jeder irgendetwas mit wem auch immer in der Seitentasche, was keinen etwas angehen soll: „Habt ihr nicht mehr genug korrupte Polizisten?“ fragt ein Dealer treffsicher bei einer Geldübergabe. Auch Naumova, die Heldin, ist als unterkühlte Göttin der Handlung alles andere als eine eindimensionale Gestalt. Doch zu Beginn der Serie tritt sie genauso auf.
Irina Gromozda schafft es, alles in diesem von ihr perfekt inszenierten Chaos irgendwie verständlich zu machen. Dabei zieht sie den Zuschauer nach und nach in den grauen Sumpf der Handlung. Es fällt ihm zunehmend schwerer, sich auch nur annähernd zu entscheiden, wohin ihn sein Urteilsvermögen führen soll.
Dem Fern-Seher kommt entgegen, dass sich die Fälle zunächst auf der Serie aufbauen. Trotzdem bleiben sie vernetzt, oder besser: verquickt. Die übermittelte Hoffnungslosigkeit der Betroffenen schreit mindestens einmal aus jeder Szene und wird mit der stets spürbaren Fast-Verzweiflung der Ermittler an allem und vor allem an sich selbst gewürzt. Das schafft ein komplexes und ziemlich dunkles Diorama mit viel Raum für eigene Phantasien und eigenes Denken. Da bleibt für das klassische „der Mörder war wieder der Gärtner“ kein Raum.
Während die Kulisse grau bleibt wie bei Brecht, werden die Gestalten immer klarer. Man sieht Körper, fast wie die Klitschkos. Schöne und intelligente Frauen. Verzweifelte Väter und den ewigen Reiter des Schimmels der Bürokratie. Den Megaspot bilden die Kinder, als Darsteller wie als Dargestellte. Selten zu sehen, sind ihre wenigen Gesten groß und überzeugend und immer mitreißend.
Inmitten dieser Kakophonie hat es Naumova immer auch mit den typischen Machenschaften einer sortierten Gesellschaft zu tun, prallt ab an den Gummiwänden des Alltäglichen, das ebenso ein Teil ihrer selbst wie sie selbst ein Teil davon ist. Der ermittelnde Blick der Polizistin geht so manchmal auch auf Wegen, derer Banalität sie sich nicht erwehren kann, obgleich es doch für den Fahndungserfolg so unerlässlich wäre, sie konsequent zu verlassen.
Hineingestrickt ist die Komplexität des Bösen wie des Unbedarften in eine gewollt öde Industrielandschaft, und doch markiert mit der klaren Vorstellung einer lebendigen Gesellschaft. Es sind Brücken der Handlungen und der Emotionen, fast schon wie ein Spagat am Rande der Überdehnung, die Gromozda schafft – und bei allem eine überragend großartige Dialogregie. Wie immer in jedem gut gemachten Kriminalstück gibt es keine einfachen Lösungen. Auch nicht zum Schluss und vor allem auch nicht in der damals noch fast friedlichen Ukraine des Jahres 2019.
Gleichwohl fehlt dem Zuschauer gefühlt das lokale Kolorit. Zumindest auf den ersten Blick. Doch auch das ist Absicht. Es ist die Ukraine. Aber die Ukraine ist nichts, was nur Ukraine wäre. Sie ist überall. So lautet die Botschaft.
Deshalb auch geht die Kritik von Klaus Möbius, früher NDR, gegenüber dem Autor gänzlich an der Sache vorbei. Ihm sei „der Streifen doch allzu westlich gemacht“, ließ er wissen und offenbart damit seine tief verankerten Vorurteile von einer Ukraine, die eben nicht europäisch, sondern russisch-tatarisch zu sein hat. Heftiger kann man nicht neben der Spur fahren, will man dem Werk der ukrainischen Regisseurin gerecht werden.
„Hide and Seek“ erzählt eine ukrainische Realität. Aber es ist auch die Realität von Bochum, Metz oder Liverpool. Das filmische Grau scheint die Nähe zum Westen Europas zu überdecken, zu verdrängen – und führt dennoch genau in diesen hinein. So hat sich das ZDF mit der Ausstrahlung auf die Suche nach einer Ukraine eingelassen, die anders ist und doch ganz so wie wir. Die Mainzer sind fündig geworden in deren wie in unserem Zwielicht. Das filmische Grau will die Nähe zu Europa scheinbar abdunkeln – und doch verwebt es die scheinbar getrennten Realitäten im genauen Gegenteil. Das, diese Vertrautheit und Fremdheit in einem, aber ist es, was den besonderen Reiz der Serie ausmacht.
Abrufbar in der ZDF-Mediathek.
Torsten A. Kurschus
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