„Auch die mediale Figur Uwe Tellkamp ist eine Fiktion“

Jeder Satz von ihm wird abgeklopft, jeder Kontakt beäugt, jeder Text auf Skandaltauglichkeit überprüft. Jetzt liegt der neue Roman des Dresdner Autors Uwe Tellkamp vor: „Der Schlaf in den Uhren“. Tichys Einblick sprach mit ihm über Rezensenten und seinen Blick auf die Zukunft

Tichys Einblick: Nach 14 Jahren legen Sie nun wieder einen großen Roman vor – begleitet von einem Medientusch: Ohne eine Zeile davon zu kennen, warnten mehrere Halbprominente Ihren Verlag, ihn zu veröffentlichen. Als er erschien, schrieb ein Feuilletonredakteur über die „cognacfarbenen Lederschuhe“, die Sie bei Ihrer Lesung in Dresden trugen. Bildet das alles nicht eine Art Begleitroman zu Ihrem Roman? Wie gefällt er Ihnen bisher?

Uwe Tellkamp: Die von mir an diesem Abend getragenen Lederschuhe sind rot, an einigen Stellen altersgerecht und belastungsbedingt nachgedunkelt, ein changierendes Rot also. Der Tomatenfrosch hat in grafischen Abbildungen dieses Rot, auch einige Kröten, als Warnfarbe; man muss ja bei sich bleiben. Zu diesen Schuhen hatte ich in Dresden übrigens rote Socken mit kleinen Vampirabbildungen getragen. Die sah der Feuilletonmitarbeiter nur nicht so gut. Das heißt, noch weniger gut als die Schuhfarbe. Einen Cognac dieser Schuhfarbe kenne ich jedenfalls nicht. Vielleicht ist es eine Vampirmarke? Der Begleitroman zum „Schlaf in den Uhren“ trägt wechselnde Titel, etwa: „Der Schlaf der Uhren“, „Das Schaf und seine Spuren“, sowie „Das Penner:in“, der wohl das Wesen am besten trifft.

Sie sind der wahrscheinlich am besten observierte Autor in Deutschland: Jede Äußerung von Ihnen wird abgeklopft, jeder Kontakt beäugt, jeder Text auf Skandaltauglichkeit überprüft. Fühlen Sie sich damit wohl, eine ganz und gar öffentliche Person zu sein?

Virtuoses Romanwunder
„Ist es tot, das Biest?“ oder Der politische Vernichtungskampf der Literaturkritik
Da ich aus dem Geschlecht der Unterweltwesen stamme, steht mir ein Begleiter zur Verfügung, der dankenswerterweise auch als mein Pressesprecher auftritt. Der ist es, den Sie bei Lesungen sehen und hören können. An ihm machen sich all die öffentlichen Mutmaßungen fest. Mit dem Mann, der inzwischen händereibend in seinem Schreibstübchen sitzt und an seinen Garnen weiterspinnt, hat mein Pressesprecher nur flächenweise zu tun – wobei diese Fläche ziemlich genau der einer Gesichtsmaske entspricht.

Sie machen sich lustig über die Medienschaffenden.

Auf vieles kann man nur mit kabarettistischen Mitteln reagieren. Die Buchpremiere fand in Potsdam statt, in der Villa Quandt – ein Gebäude übrigens mit interessanter Geschichte, dort befand sich bis 1990 die Zentrale der KGB-Auslandsspionage in der DDR. Neben vielen interessierten Lesern saßen dort auch Redakteure, die mich schon länger liebevoll begleiten. Die Fontane-Gesellschaft, die heute in der Villa sitzt, hatte nichts Eiligeres zu tun, als zu erklären, dass sie nur im gleichen Haus sitzt, aber nichts mit meiner Lesung zu tun hat. In einer Erklärung der Gesellschaft hieß es: „Wir stehen für ein Miteinander von Regionalität und Internationalität, für eine freundliche Multikulturalität und für Diversität. Eine Veranstaltung mit Herrn Tellkamp passt aus unserer Sicht nicht zu diesem Selbstverständnis.“ Der Buchhändler, der die Lesung dort organisierte, hatte die Idee einer sogenannten Einlaufmusik. Als wir in den Saal kamen, trug er einen Ghettoblaster auf der Schulter und spielte „Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord“. Ich weiß gar nicht, ob die Rezensenten das auch in ihre Texte eingeflochten haben.

Haben Sie denn die Besprechungen noch nicht gelesen?

Die meisten nicht. Sie rezensieren ja vor allem den Autor und kaum das Buch.

Was treibt Ihre Rezensenten und Beobachter Ihrer Meinung nach an?

Pädagogik. Der Uwe ist noch bildungsfähig. Ich frage mich tatsächlich ab und zu: Was treibt diese Leute? In den Medien werden offenbar Figuren gebraucht, die zwar Namen und Gesicht real existierender Personen haben, ansonsten aber völlige Erfindungen sind. Susanne Dagen vom Buchhaus Loschwitz, in dem ich gelesen hatte, geistert seit Jahren als Anführerin eines riesigen rechtsintellektuellen Netzwerks durch die Presse, eines Netzwerks, das von den Dresdner Elbhängen bis Berlin Mitte reicht und kurz davorsteht, die Republik zu kippen. Zur nächsten Lesung wollen wir am Buchhaus ein Schild mit der Aufschrift „Die Kaderschmiede“ aufstellen. Die Erzählung von einer Buchhändlerin, die nur zur Tarnung Bücher verkauft, und in ihrem Häuschen in Wirklichkeit rechte Kader schmiedet – das ist durchaus eine Art Literatur. Auch die mediale Figur „Uwe Tellkamp“ ist eine Fiktion.

Gab es besondere Höhepunkte in Ihrem Verhältnis zu den Medien?

Eines der wichtigsten Bücher der Gegenwart
Der vollkommen sichere, gesunde und glückliche Zustand der Welt
Es gibt wiederkehrende Fragen. Eine dieser FAQs lautet (ich zitiere sinngemäß aus dem Fragenkatalog einer Nachrichtenagentur): „Warum hat es so lange gedauert?“ Auf diese sehr wichtige Frage wendet mein Pressesprecher die ganze Liebe seiner Antworten. Hier das Muster, an dem sich alle bedienen dürfen: „Meine Musen waren Klimaleugner*innen und mussten durch die Schwurbelwüste nach Canossa ziehen, um erleuchtet zu werden. Dabei sind sie leider megaloman geworden und lagen ungeimpft auf Intensivstationen rum, waren also unsolidarisch. Aber jetzt, mit dem Segen der Kirchentage, ist ja wieder genug Toilettenpapier da.“

Ihr neuer Roman spielt in dem fiktiven Stadtstaat Treva, der sich als riesiges Labyrinth erweist. Warum haben Sie die Familiengeschichte des „Turm“ nicht weitergesponnen?

Die Garne waren abgerissen, Dornröschen bitter aus dem Schlaf geküsst. Der Text musste anders weiterwachsen, modernere Spindeln und Webtechniken eröffneten Spinn- und Transparenzkampagnen. Wer eine direkte Fortsetzung des „Turm“ erwartet, wird sicherlich enttäuscht sein. Wer etwas über Machttechniken erfahren will, findet im „Schlaf in den Uhren“ vielleicht etwas für sich.

Bleiben wir einmal bei dem Labyrinth, in das Sie den Leser schicken: In dem Labyrinth, von dem aus ein Geheimdienst den ganzen Staat steuert, denken Mitarbeiter über die Wiedereinführung von Stahlfedern und Sütterlinschrift nach, sie benutzen Schreibmaschinen. Müssen Sie die Gegenwart erst einmal verlassen, um davon erzählen zu können?

Gegenwart ist „hier unten“ nur eine der betretbaren Etagen. Hier unten gibt es mehrere Zeiten nebeneinander, und wer den A-Passierschein besitzt, kann Mitarbeiter des Seeminenreferats und zugleich des Zeitarbeiterkollektivs sein; er führt Kriegstagebuch im OKW und sieht einen kleinen Jungen namens Meno Rohde im Hotel Lux unter Stalin. Auch eine „Österreichische Correspondenz“ spielt in dem Buch eine Rolle. Die späte DDR hatte viele Parallelen zur Zensurpraxis unter dem Staatskanzler Metternich. Unter ihm gab es bekanntlich auch eine Zentraluntersuchungskommission und die Demagogenverfolgung. In den letzten Jahren der DDR erschien in der weißen Reihe von Reclam ein Buch von Heinrich Hubert Houben: „Hier Zensur – wer dort? Der gefesselte Biedermeier“ über die Zensurpraxis in der Metternich-Ära. Die Veröffentlichung dieses Buchs in der DDR war vermutlich ein erfolgreicher subversiver Streich. In dem Romanlabyrinth gibt es allerdings nicht nur Schreibmaschinen, sondern auch hochkomplexe künstliche Intelligenz.

Über größeren Teilen des Romans scheint die Musik des „Rosenkavalier“ zu schweben, besonders die Arie der Marschallin, in der es heißt: „Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. /Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie.“ Spielt dieser Hofmannsthal-Text eine besondere Rolle für Sie?

Klassiker neu gelesen
Heimito von Doderer: „Die Dämonen“
Ein Onkel von mir, ein Musiker, hatte mich öfter in sein Musikzimmer geholt, wo er seine Plattensammlung hatte, und mir dort auch den „Rosenkavalier“ vorgespielt, eine Aufnahme mit der Staatskapelle Dresden, dirigiert von Karl Böhm, mit Marianne Schech als Marschallin. Es war vor allem diese Arie, die mich damals ungeheuer beeindruckt hatte. „In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegeln da rieselt sie“ – in meiner Erinnerung heißt es auch: „Hinter den Tapeten rieselt sie wie Sand“. Die Zeile kommt zwar in dem Hofmannsthal-Original nicht vor, aber das  – die imaginäre Zeile wie das Original – entsprach ziemlich genau dem Agoniegefühl des Erstickens in der späten DDR. Dieser Text spielt auch in den Roman hinein. Zu der Figur Anne wird dort der „Operative Vorgang Marschallin“ angelegt.

Der Befund vieler Rezensenten lautet: Tellkamp will eigentlich beweisen, dass die Bundesrepublik sich in eine große DDR verwandelt hat. Wie würden Sie jemandem, der nichts von der deutschen Geschichte weiß, die Gesellschaftsform beschreiben, in der Sie leben?

Als Blendwerk, rein architektonisch gesprochen.

Im „Schlaf in den Uhren“ kommen sehr viele Charaktere vor, die es als ihre Aufgabe sehen, die Gesellschaft zu ihrem Besten zu lenken. Können Sie diese Figuren im realen Leben verstehen? Oder bleiben sie Ihnen völlig fremd?

Es gibt natürlich diesen abgründigen Aspekt. Die Geheimdienstarbeit ähnelt der des Lektors durchaus, nur lesen diejenigen, die dort tätig sind, eben Menschen und nicht Bücher. Meno Rohde kommt bei dieser Tätigkeit seine Ausbildung als Zoologe entgegen, die Fähigkeit, Arten zu unterscheiden und vor allem kleine Abweichungen von der Norm zu erkennen. Beim Schreiben habe ich mich auch manchmal gefragt, welcher Kollege für welche Tätigkeit im Labyrinth infrage kommen könnte.

Sie haben von ihrem Roman als „Botanisiertrommel“ gesprochen. Erkennen sich die Vertreter des Medien- und Politikbetriebs wieder, die hier literarisch bearbeitet auftreten?

Das Geschrei höre ich als Schmerzenslaute, wie sie ein Zoologe beim Aufnadeln seiner Objekte vernehmen mag.

Aber Insekten leben doch nicht mehr, wenn sie aufgespießt werden.

Houellebecq öffnet die Büchse der Pandora
Lass uns mit der Liebe beginnen, jetzt, wo alles zu Ende geht
Das ist nicht unbedingt so. Manche werden nur betäubt, aber sie sind noch am Leben, wenn sie genadelt werden. Im Zoologischen Museum von St. Petersburg gab es übrigens einen Präparator namens Motschulski, dessen persönliche Handschrift darin bestand, möglichst dicke Nadeln in irgendeiner Richtung durch die Käfer zu treiben. Manche zerstörte er mit dieser Methode. Die besten Exemplare nadelte er nicht fürs Museum, sondern behielt sie für sich.

Aber so gehen Sie im Roman nicht vor?

Wer weiß?

Gibt es auch reale Personen, die lachen können, wenn sie sich in einer Romanfigur wiedererkennen?

Das kommt auf die Person an. Sie selbst kommen übrigens auch vor.

Jaja, als armer Redakteur der Trevischen Nachrichtenagentur und Mitarbeiter der Tausendundeinenachtabteilung … Erste Vorleseerfahrungen haben Sie nun bereits gesammelt. Wird im Publikum gelacht?

Wenig. Die Zeitungen sagen, dem Pressesprecher des Tellkamp fehle es an Humor, und was in den Zeitungen steht, erst recht was das 1. und 2. Trevische Fernsehen sagt, ist schließlich faktengecheckt und gegengelesen; es besitzt diverse Qualitätsstempel. Auch muss man aufpassen, mit wem gelacht werden würde, wenn man lachen würde. Es könnte zu Kontaktgelächter kommen. Wie heißt es bei Günter Grass? „Wer hier lacht, macht Verdacht / dass er aus Gründen lacht.“

Bei Ihnen gibt es lange verfremdete Passagen, aber auch – in der Chronik des DDR-Zusammenbruchs – fast dokumentarische Abschnitte. Betätigen Sie sich ganz nebenbei, wie schon im „Turm“, als Historiker?

Sendung 23. Juni 2022
Tichys Ausblick Talk: „Wie geschwächt ist unsere Demokratie?“
Fabian Hoffmann, der Ich-Erzähler, ist Mitarbeiter der Chronik, wenn er nicht im Seeminenreferat Seeminen prüft und auf Karten einträgt. Als Mitarbeiter der Chronik hat er hin und wieder Anfälle von Berufsehre. Diese dokumentarischen Passagen sind Realitätsinseln im großen fiktiven Strom des Romans, oder eher Sandbänke. Ich merke, dass dieses Wissen über die Endzeit der DDR und die Übergangszeit versinkt. Es weiß zum Beispiel kaum jemand, welche Bedeutung Arnold Vaatz für die Wiedergründung Sachsens hatte. Er hatte großen Anteil daran, damals Kurt Biedenkopf hier zu installieren; er hatte zusammen mit einigen anderen auch einen großen Einfluss auf die Verfassung, die das Land damals bekam. Im öffentlichen Gedächtnis fehlt mittlerweile auch der Abschnitt zwischen dem 18.  März und dem 3. Oktober 1990, in dem die erste frei gewählte Volkskammer das Land in der allerletzten Phase sehr geprägt hat. Meinungsfreiheit, Organisationsfreiheit, das wurde nicht vom Westen geschenkt, sondern schon vor der Vereinigung im Osten erkämpft und in Gesetzesform gebracht.

Haben Sie schon einmal daran gedacht, auszuwandern?

Das tue ich nahezu jeden Tag. Ich wandere „nach unten“, in den Berg, in die Labyrinthe und zu den Akten. Dort atmen schweigend andere Zeiten.

Das heißt, das Romanprojekt, in dem der „Turm“ und „Der Schlaf in den Uhren“ nur Teile bilden, geht weiter?

Ich hatte den Verlag gefragt, ob er bereit ist, das ganze Projekt zu machen. Das war er. Ja, von mir aus geht es weiter.

Ohne die Bücher in eine Reihe stellen zu wollen: Dave Eggers entwirft in „Every“ das Bild einer fürsorglichen Überwachungsdiktatur, Michel Houellebecq in „Vernichten“ ein Frankreich mit einer verkommenen Presse und einem clownesken Präsidentschaftskandidaten. Ihr Roman blickt auch nicht optimistisch auf die Gegenwart. Sehen Sie trotzdem die Chance auf eine bessere Gesellschaft?

Doderer verglich das „bedeutende Ereignis“ in der Geschichte mit einem Steinwurf in einen See: Die Wellen kräuseln sich, rollen ans Ufer, die Bilder werden unleserlich; aber nach einer Weile beruhigt sich alles, still liegt er wieder, der See, die Anwohner gehen wieder Tennis spielen, ins Theater und trinken Wein, denken an Fahrerlaubnisverlängerung und den nächsten Debütantenball. Es scheint ein Pendelschlag zu existieren, wir fahren jetzt für eine Weile nach links, dann wird es wohl für eine Weile nach rechts gehen, und um die Mitte bleibt das Fazit des gelebten Lebens. Und sage keiner, es sei nicht interessant.


Uwe Tellkamp, Der Schlaf in den Uhren. Archipelagus I. Roman. Suhrkamp, 904 Seiten, 32,00 €.


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Kommentare ( 15 )

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Rolfo
2 Jahre her

Nun mal eine Nachfrage: Wann endlich und wann überhaupt wird es IM WESTEN Deutschlands aufgewachsene sprachfähige Wortbenutzer geben? Mir fällt immer wieder auf, wie sehr wir vom Selbständigkeitserhaltungspotential der ehemaligen Ostdeutschen abhängig sind, gerade als ob im Westen kein Rückgrat je existiert hätte – Ausnahmen sind ja da, Herr Tichy, Broder, Hahne, aber es ist mir zu blass, zu wenig und nicht subversiv genug.

Fred Katz
2 Jahre her

Mit welchem Tellkamp hat TE denn gesprochen?
Das ZDF hatte ja einen Mehrteiler mit einem Tellkamp gesendet, der fest überzeugt ist, in Deutschland ausgegrenzt zu werden.
Egal, wie oft über ihn berichtet wird, er selber reden darf, jener Tellkamp bleibt dabei-er wird totgeschwiegen.
Und Suhrkamp macht das Spiel mit obwohl er, ganz normal, Lesungen abhalten könnte, Tellkamp als Ausgestossenen zu vermarkten.
Dann gibt es den Tellkamp, der den Reichsbürgern den Spiegel vorhält und dabei mächtig Kasse macht.
Blöd wirds nur, wenn die das durchschauen……

Aljoschu
2 Jahre her

Danke für das interessante Interview. Verehrter Herr Tellkamp, für Sie mag es super spannend erscheinen zu beobachten, mitzuerleben und darüber zu schreiben, wie sich unsere ehemals relativ liberale, naiv ausgelassene Gesellschaft – aus Sicht von uns Wessis – in eine Quasi-Stasi-Spitzel-Gesellschaft a la DDR 2.0 zurückentwickelt. Meine persönliche Trauer darüber grenzt an ein allmähliches Wahnsinnigwerden. Aber als Ossi ist Ihre Perspektive natürlich eine ganz andere: Sie wuchsen auf in der alten, aus unserer Sicht, stink langweiligen, bigotten und verklemmten DDR 1.0, dann erlebten Sie diesen irren kurzen Flash der Befreiung, oder eher der Selbstbefreiung, und kaum hatten Sie sich versehen,… Mehr

Wien 1683
2 Jahre her
Antworten an  Aljoschu

@Aljoschu Ihr Post aus der Sicht eines „Wessis“? hat mich beeindruckt. Ich bin „Ossi“ Jahrgang 1954 und habe nach Staasi-Untersuchungshaft und DDR-Zuchthaus die alte Bundesrepublik 1978 erlebt. Zunächst in Baden-Württembeg, wo von politisch Interessierten große Neugier auf meine Herkunft und die Gründe für den Wechsel in die BRD geäußert wurden, aber schon damals auch überwiegend Unverständnis für das Verlassen der DDR. Das die verschiedenen Praktiken der Unfreiheit den Menschen geradezu die Luft zum atmen abschnürten wurde vielfach als nicht wahr, zumindest skeptisch beurteilt. Man sei ja mit der Schulklasse dort gewesen, habe Verwandte in der DDR, denen es gut gehe.… Mehr

Aljoschu
2 Jahre her
Antworten an  Wien 1683

Lieber Kahlenberg, Ich kann das nur bestätigen, was Sie schildern, ja, es ist meine Generation gewesen, die damals gegen die AKWs, gegen die Pershings, gegen den Radikalenerlass und Berufsverbote, für die Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben demonstriert haben. Aus guten Gründen. Und wir sind schuld daran, dass alles so kam, wie es gekommen ist, wir haben zugelassen, dass die KBWler, die MSM- Spardakusse, die KPD-MLer, DKPler, die Maoisten und Pol Poter ihren Marsch durch die Institutionen Schule, Hochschule, Gewerkschaften, NGOs, Parteien bis in heute höchste Staatsämter antreten und ungehindert am Ziel ankommen konnten – und heute den Spieß gegen uns… Mehr

Axel Fachtan
2 Jahre her
Antworten an  Wien 1683

Willkommen bei den Verteidigern des Abendlands (siehe Wien 1683 nach 1529). Damals nach dem 30jährigen Krieg waren auch protestantische Fürsten bereit, das Abendland in Wien zu verteidigen. In Berlin trifft sich die Subventionsmenalität West mit der Subventionsmentalität Ost. Der Westen hatte sich daran gewöhnt, Westdeutschland auszuplündern. Und Ostberlin lebte davon, die anderen 14 Bezirke auszuknautschen. Ohne Länderfinanzausgleich müssten in Berlin heute schon viele aus der Mülltonne essen. Mit den Milliarden extra dauert es noch ein paar Jahre länger. Recht eigentllich ist Herr Tellkamp ein Fall für den Büchner-Preis. Nur leider passt er vielen dortigen nicht ins Konzept. Die nehmen dann… Mehr

RMPetersen
2 Jahre her

Wer sich in dem Roman mit den vielen Ebenen einlässt, wird seine Freude schon an den personencharakterisierungen und den skurrilen Szenen haben. Und ich lerne viel über die angesprochene DDR-Schluss- bzw. Übergangsphase 1990.- Die als Marschallin bezeichnete Anne kommt überaus sympathisch herüber; in dieser Phase war das wohl auch so. Ich habe etwa die Hälfte des Buches durch und ahne, dass die Eigendynamik des politishen systems sie zu der Machtfigur formte, die sie wurde – und mit der sie das Land ins Unglück trieb. (Aber das ist nur meine eigene Interpretation, der Roman ist AUCH ein Vexierspiel.) Vielliecht wird Tellkamp… Mehr

imapact
2 Jahre her

Herr Tellkamp hat den Vorteil, in einem linksfaschistischen System aufgewachsen und daher mit dessen Unterdrückungs- und Zersetzungsmechanismen vertraut zu sein. Viele ehemalige DDR-Bürger dürften allmählich ein „déja vu“-Gefühl bekommen, auch wenn sich das gegenwärtige System, das mit der Bonner Republik eigentlich nur noch den Namen „Bundesrepublik Deutschland“ gemeinsam hat, teilweise anderer Mittel (noch…) bedient als das ancien regime der DDR. Eines allerdings fehlt: die DDR-Bürger hatten gewissermaßen eine Alternative vor der Haustür, eben in Form der Bundesrepublik, der es mitunter gelang, Opfer des DDR-Staates mittels Freikauf aus dessen Fängen zu befreien. Wir heute haben diese Alternative nicht mehr, zumindest nicht… Mehr

Ingrid Bieger
2 Jahre her

Danke für dieses Interview. „Das tue ich nahezu jeden Tag. Ich wandere „nach unten“, in den Berg, in die Labyrinthe und zu den Akten. Dort atmen schweigend andere Zeiten.“

Genauso ist es – ich schreibe meine Diss. und verbringe die Tage in irgendwelchen Staatsarchiven – besser und bildhafter, lebendiger – „Dort atmen schweigend andere Zeiten“ – kann man es nicht formulieren – einfach toll.

Hoffnungslos
2 Jahre her

Lieber Herr Tellkamp, vielen Dank für Ihre Arbeit! Sie sind zur Zeit der einzige deutsche Autor, der das heutige Deutschland in dieser Weise widerspiegelt. Darüber hinaus stellen Sie noch eine Verbindung zu den deutschen, freiheitlichen Traditionen her, die es ja, allem Blödsinn zum Trotz, gibt. Danke dafür! Wenn die Leute von der Fontane Gesellschaft verkünden: „Wir stehen für ein Miteinander von Regionalität und Internationalität, für eine freundliche Multikulturalität und für Diversität. Eine Veranstaltung mit Herrn Tellkamp passt aus unserer Sicht nicht zu diesem Selbstverständnis.“ Fontane wären diese dümmlichen Aussagen nur peinlich. Die Leute machen sich lächerlich, wie so viele im… Mehr

alter weisser Mann
2 Jahre her

Wir fahren eine Weile nach links … und das wird (nicht durch Alleinschuld der Linken wohl) nicht gut enden.
Die Hoffnung, dass am Ende und auf Dauer immer eine Mitte bleibt und nicht irgendein eher böses (Zwischen-)Ende, die muss man sich bewahren.

Last edited 2 Jahre her by alter weisser Mann
doncorleone46
2 Jahre her
Antworten an  alter weisser Mann

Die Falle der sogenannten „Mitte“ ist die unausweichliche Dekadenz, aus der dann wieder Leid und Armut entsteht. Also – eine für mich logische Folge. Die Deutschen brauchen wohl immer wieder eine Phase mit Krieg und Niedergang um zu neuen Ufern zu gelangen. Und die meisten Deutschen benötigen Führer**Innen (z. B. A. Merkel) denen sie folgen können und sie des lästigen Denkens entledigt.

Schmidtrotluff
2 Jahre her

Herzlichen Dank für den Fokus auf den innovativen Teil Deutschlands. Der Westen ist verloren, wie man an den Texten eines Wolfgang Herles hier sehen kann. Geld ist nur Geld und bald werdet ihr arroganten Wessis merken, dass ihr auf das falsche Pferd gesetzt habt. Macht nur weiter mit eurer Analreligion. Wie sagt der Volksmund; ehrlich währt am längsten.

Talleyrand
2 Jahre her

Leider lesen gerade diejenigen solche Romane nicht, die es am nötigsten hätten. Wie können intellektuell scharfe Waffen die Masse treffen, die in ihrem Vogel Strauss Bunker den Kopf nicht aus dem Sand kriegt und seelig weiterschlummert?