Der atemberaubende Lebensweg der großen Philosophin Edith Stein

Am 9.8.2022 jährt sich der Todestag von Edith Stein zum achtzigsten Mal. Sie starb als geborene Jüdin und konvertierte Katholikin im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Für ihren unermüdlichen Einsatz, Juden- und Christentum zu versöhnen, wurde sie als Teresia Benedicta vom Kreuz 1987 selig und 1998 heiliggesprochen.

Auch für den religiös Musikalischen ist es schwer zu verstehen: Die ambitionierte Philosophin bricht ihrer betagten Mutter das Herz, weil sie in den Karmel zu Köln, das Kloster der unbeschuhten Karmelitinnen, eintritt. Der Eintritt in den Orden der besonders strengen Observanz bedeutet, dass der Kontakt zur Außenwelt nur noch per Brief oder durch ein doppeltes Kreuzgitter im Besuchsraum möglich ist. Der Tag beginnt um halb fünf in der Frühe und ist von Betrachtungen, Stundengebeten, Arbeit und der heiligen Messe geprägt. Die Mutter wird Edith Stein nicht wiedersehen, sie erhält auch keinen Brief mehr von ihr.

Für Edith Stein, welcher der erfahrene Biograph Klaus-Rüdiger Mai sein neues Buch widmet, war es der folgerichtige und für das Erdenleben ersehnte Abschluss eines langen Weges. 1891 war sie in eine kinderreiche jüdische Holzhändlerfamilie in Breslau hineingeboren worden. Der Vater starb an einem Hitzschlag, als sie eineinhalb Jahre alt war. Die patente Mutter Auguste führte das Geschäft aus den Miesen und sorgte für ihre Kinder. Sonderlich religiös wurde Edith nicht erzogen. Sie entwickelte aber schon früh eine sittliche Strenge, was auch ihre Umwelt zu spüren bekam.

Politisch galt sie als Suffragette, die Gleichberechtigung der Frau waren ihr ein Anliegen, gegenüber dem Kaiser und Preußen war sie kritisch eingestellt, dabei war sie freilich – wie konnte es damals anders sein – durchaus Patriotin. Nach dem Abitur studierte sie in Breslau bei dem Psychologen William Stern und dem Neukantianer Richard Hönigswald. Psychologie und Erkenntniskritik befriedigten sie nicht, sie wollte zu den Sachen selbst vorstoßen, und dafür stand die aufstrebende phänomenologische Bewegung um Edmund Husserl. Also ging sie nach Göttingen, wo Husserl lehrte.

Eine luzide Analyse unserer Zeit
Verteidiger der Kultur gegen Obskurantismus und Aktivismus
Dort machte sich die häufig bis an den Rand des Zusammenbruchs arbeitende Studentin schnell einen Namen. Dies tat sie weniger als strenge Wissenschaftlerin – obwohl Husserl die Philosophie doch als solche etablieren wollte –, sondern als Denkerin, die über den phänomenologischen Schlüsselbegriff der Einfühlung summa cum laude promovierte. Zuvor hatte sie sich freiwillig zum Lazarettdienst gemeldet; der große Weltkrieg hatte die langen Friedensperiode des Kaiserreiches abrupt beendet. Bei Husserl, dessen Sohn im Krieg fiel, wurde sie dann Assistentin, jetzt in Freiburg, wo Husserl die Nachfolge des Neukantianers Heinrich Rickert antrat. Das bedeutete eine rein dienende Position: Ihr war es aufgegeben, die stenographischen Kritzeleien des Meisters in mühevoller Entzifferungsarbeit in Reinschrift zu übertragen.

Der Dank blieb aus: Als sie sich bei Husserl habilitieren wollte, wies dieser das naheliegende Ansinnen seiner auch von ihm für talentiert gehaltenen Schülerin brüsk ab: Für ihn seien Frauen für Heim und Ehe bestimmt. Auch anderenorts scheiterten ihre Bemühungen um die Erlangung der venia legendi, Vorurteile gegenüber der jüdischen Frau spielten dabei eine Rolle.

Wie viele Phänomenologen näherte sich Edith Stein dem christlichen Glauben an. Die Taufe von Husserls Schüler Adolf Reinach und seiner Frau Anna beeindruckte sie sehr, der Tod Reinachs an der Front erschütterte sie tief. Der Einfluss des in dieser Zeit katholischen Max Schelers mit seiner personalistischen Anthropologie und objektiven Wertlehre ist unübersehbar: der Mensch als ens amans, als liebendes Wesen, an der Spitze der objektiven Wertrangordnung steht der Wert des Heiligen.

1922 wurde sie schließlich in die katholische Kirche aufgenommen. Beruflich arbeitete sie in einer Lehrerinnenausbildungsanstalt der Dominikanerinnen in Speyer, dabei vertiefte sie sich in das Studium Thomas von Aquins und legte eine Schrift über dessen aristotelisch inspirierten Potenz- und Akt-Lehre vor, die als Habilitationsschrift aber erneut scheiterte. Von der Politik hatte sie inzwischen Abstand genommen. Als Mitgründerin der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) hatte sie erkannt, dass sie kein Talent für das schmutzige Geschäft besaß.

BENEDIKT XVI. ZUM 95. GEBURTSTAG
„Den Glauben leben“
Und die Liebe? Edith Stein pflegte enge geistige Beziehungen zu mehreren Männern und war wohl in drei zumindest verliebt. Der Philosoph Hans Lipps machte ihr 1932 einen Heiratsantrag. Doch da war sie schon, zum Entsetzen ihrer Familie und vieler Freunde, auf dem Weg ins Kloster. Dort arbeitete sie auch intellektuell weiter, philosophisch und mit religiösen Traktaten. Der Orden versuchte durchaus, ihrer Begabung gerecht zu werden, die nicht im Praktischen, sondern eben im Theoretischen lag.

Doch auch hinter den Mauern des Karmel machte die Herrschaft der Nationalsozialisten nicht halt. Edith Stein floh nach der Reichspogromnacht in ein Ordenshaus im niederländischen Echt. Als die niederländischen Bischöfe gegen die Deportationen der Juden protestierten und dies entgegen der Anweisung des Reichskommissars Arthur Seyß-Inquart von allen Kanzeln verlesen ließen, ordnete dieser aus Rache an, alle katholisch getauften Juden zu verhaften. Dies sollten heutzutage alle diejenigen zur Kenntnis nehmen, die selbstgewiss ein bestimmtes Verhalten der Kirche unter der NS-Herrschaft ex post einfordern. Auch an die Karmeltür klopfte die Gestapo an. Edith Stein trat mit ihrer Schwester Rosa hinaus und sagte leise: „Komm, wir gehen für unser Volk.“ Der Leidensweg führte die Schwestern nach Ausschwitz-Birkenau, wo beide 1942 ermordet wurden.

Bereits im April 1933 hatte Edith Stein mit flammenden Worten an Papst Pius XI. appelliert, die Stimme gegen die NS-Herrschaft zu erheben, die ihren Kampf nicht nur gegen das Judentum, sondern auch gegen den Katholizismus führe. Der Vatikan setzte zu dieser Zeit wie alle anderen Mächte noch auf Diplomatie, auf das Konkordat. Die unter ihrem Ordensnamen als Teresia Benedicta vom Kreuz firmierende Edith Stein wurde von Papst Johannes Paul II. 1987 selig- und 1998 heiliggesprochen.

Der Autor schildert nicht nur das Leben Edith Steins und ihren Denkweg, er skizziert immer wieder auch die politischen, literarischen und philosophischen Entwicklungen der Zeit. Mit der umfangreichen Sekundärliteratur setzt er sich eher implizit auseinander. Wie Edith Stein selbst konzentriert er sich dagegen auf eigene Beobachtungen. Dabei gelingen ihm wunderbare Bonmots: So bezeichnet er seine Protagonistin in ihrer Zeit als Dozentin am Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster zu Beginn der dreißiger Jahre als „berühmteste Unberühmte“. Luzide ist auch die Bemerkung über Husserls, seine Schülerschar entzweienden „Rückzug in den kritischen Transzendentalismus, dessen kompliziertes Begriffswerk letztlich ihm selbst die Illusion vermitteln sollte, nicht zu Immanuel Kant zurückgekehrt zu sein“.

Meditation in einem Geräteschuppen
Das Sehen auf etwas und das Sehen entlang von etwas
Der Autor denkt mit, aber auch gegen Edith Stein. Die phänomenologische Reduktion, welche die Einklammerung alles Kontingenten bedeutet und den Schlüssel zur „Wesenswissenschaft“ darstellt, scheint ihm zu ahistorisch und fleischlos zu sein. Und Steins großes Projekt ihrer zweiten Schaffensphase, die Verbindung der Phänomenologie mit dem Thomismus, von Philosophie und Theologie ist für Mai ein Rückfall hinter die Aufklärung und Kant.

Tatsächlich übernimmt in Steins Hauptwerk „Endliches und ewiges Sein“, das erst nach dem Krieg publiziert werden konnte, und erst recht in ihrem letzten Werk „Kreuzeswissenschaft“ die Offenbarung die Führerschaft in der Hierarchie des Erkennens. Die Philosophie wird damit wieder wie in der Scholastik ancilla theologiae, Magd der Theologie. Für die Ordensfrau war nicht mehr Husserl der Meister, diese Rolle übernahm nun der große Mystiker ihres Ordens Johannes vom Kreuz.

Sympathie lässt Mai deutlich erkennen, wenn er Edith Steins Denken als Alternative zum Weg Martin Heideggers, ihres Nachfolgers bei Husserl, präsentiert. Beide gingen von Husserls Phänomenologie aus, Heideggers Weg führte vom Glauben weg, Steins Weg zu ihm hin. Bei Mai erscheinen beide philosophisch als ebenbürtig. Der genialische Max Scheler kommt dagegen, bei aller treffend beobachteten Eitelkeit, doch etwas zu schlecht weg.

Mai hat eine sehr gut lesbare Biographie vorgelegt, die einen atemberaubenden, tragisch endenden Lebensweg einer eigenständigen, aber auch schwierigen Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf ihrem Weg vom Judentum zum Christentum, vom Kaierreich zur Republik, von der Universität in den Orden und von der Emanzipation zur Verfolgung packend schildert.

Prof. Dr. Peter Hoeres studierte Philosophie, Geschichte und Politikwissenschaften und lehrt Neueste Geschichte an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Klaus-Rüdiger Mai, Edith Stein – Geschichte einer Ankunft. Leben und Denken der Philosophin, Märtyrerin und Heiligen, Kösel Verlag, 22,00 €


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Kommentare ( 3 )

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3 Comments
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Rene Meyer
2 Jahre her

„Meine Sehnsucht nach der Wahrheit ist mein einziges Gebet.“ Diese Worte Edith Steins haben in den letzten beiden Jahren wieder eine ganz besondere Bedeutung erlangt.

Talleyrand
2 Jahre her

Ich habe das Buch (noch) nicht gelesen. Ich denke aber, die meines Erachtens bedeutendste Denkrichtung deutscher Philosophie des letzten Jahrhunderts, der Phänomenologie Husserls und ihrer verschiedenen Weiterentwicklungen auch mal wieder in den Blickpunkt zu rücken, ist längst überfällig, besonders nach den jüngsten Versuchen, dieses Denken via dümmlicher Heideggerkritik mit brauner Farbe zu besudeln. Es ist einerseits durchaus angemessen, Edith Stein als katholische Märtyrerin zu würdigen, aber genauso wesentlich ist es zu zeigen, dass jüdische und christliche Glaubensüberzeugungen eine fast unersetzliche Voraussetzung für die Unbedingtheit dieser Philosophie ist, eine Unbedingtheit in der Auseinandersetzung mit den Sachen selber, ohne verschleierndes Beiwerk. Das… Mehr

Albert Pflueger
2 Jahre her

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