Nur von der Atomlobby bezahlte Bedenkenträger können solche unzeitgemäßen Fragen formulieren: „Raus aus der Atomkraft: Wie? Wann? Und dann? Wie schnell ist ein Ausstieg technisch und ökonomisch überhaupt zu bewerkstelligen?“
Experten aus der Industrie, sogar ein leibhaftiger atomarer Vorstandsteufel aus dem Reich des bösen Stroms, der RWE, durften sich auf einer Veranstaltung zu den „komplexen Voraussetzungen für eine ökonomisch vernünftige, umweltfreundliche und versorgungssichere Energieversorgung in Deutschland“ äußern. Kein Wunder, dass bei vielen Wirtschaftsvertretern diese Veranstaltung als fair empfunden wurde. Endlich konnte man mal wieder die bekannten Pro-Atom-Argumente austauschen – ganz anders etwa als in der Ethikkommission der Bundesregierung. Die damit beabsichtigte Vorverurteilung abweichender Meinungen ist ja schon in der Benennung der Kommission angelegt: Ist, wer sich gegen die herrschende Lehre der Ethikkommission stellt, nicht schon allein deshalb ein unethischer Mensch? Diesmal aber war es anders, eine rundum gelungene Sache. Das Seltsame war nur: Zum Industrietreff hatten Jürgen Trittin und Renate Künast von den Grünen geladen. Angela Merkels schneller Atomausstieg stellt ganz Deutschland auf den Kopf: „Mein Unternehmen und unsere Mitarbeiter – wir setzen auf Sie“, fleht ein Aluminiumhersteller die Grünen an. Von der Union fühlt sich die Wirtschaft verprellt – dort wird die Energiewende nur auf internen Funktionärskonferenzen verhandelt, in der die Parteiführung wie einst in der SED die Kursänderung den staunenden, aber nickwilligen Kadern einpeitscht.
Nun muss man ja nicht alles glauben, was im Berliner Gezerre um Zeitungsschlagzeilen von Parteistrategen so alles versprochen wird. Die Grünen in Baden-Württemberg aber müssen den Wahrheitsbeweis jetzt antreten – im führenden Industrieland, das zum ökologischen Musterreservat umgebaut werden soll. Ist es ein Modell für Deutschland? Jetzt zeigt sich – mit Marktwirtschaft hat das nicht mehr viel zu tun: Die Ökologie dient als Rechtfertigung für Planung und Lenkung en gros und en détail – von vegetarischen Schulkantinen bis hin zum Autodesign. Wie selbstverständlich wird vorausgesetzt, dass eine Regierung, deren Abgeordnete mehrheitlich Sozialarbeiter und Sozialpädagogen sind, am besten weiß, wie man Arbeitsplätze im Land halten und Absatzchancen rund um den Globus aufspüren kann: Es ist der alte deutsche Irrglaube, dass der Bürgermeister von Schilda weiß, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wettbewerb als Entdeckungsverfahren? Diese Erfolgsformel wird ersetzt durch die „staatliche Innova‧tionspeitsche“. Der Unternehmer ist der Esel, dem man die Richtung einprügelt und auch mal das Möhrchen (vermutlich aus ökologischem Landbau) in Form einer Subvention hinhält, damit er nicht ganz die Laune verliert. Dabei ist der Einfallsreichtum eher übersichtlich: Viel ist von Mobilitätskonzepten die Rede, die sich beim genaueren Hinschauen als Pkw-Maut und Tempolimit entpuppen; das grüne Energiekonzept realisiert sich in Form von Windparks auf den Höhenzügen des Schwarzwalds. Gut, dass der neue Ministerpräsident Winfried Kretschmann eine ehrliche Haut ist – er spricht erstmals aus, dass die großflächige Landschaftsveränderung durch die erneuerbaren Energien unvermeidlich sein wird.
Aber es gibt auch Überraschungen: Wer geglaubt hat, das grün-rote Baden-Württemberg werde sich brav in die Reihe sozialdemokratisch geführter Landesregierungen einreihen, sieht sich getäuscht: Wegen der Schuldenmacherei grenzt sich die finanzpolitisch solide grün-rote Koalition in Stuttgart von der unsoliden rot-grünen Variante in Düsseldorf ab.
Willkommen im Wünsch-dir-was-Land der Postmoderne und einer derzeit alles möglich machenden Sonderkonjunktur. Da lässt es sich noch leicht regieren. Der Realitätstest kommt noch. Wir sind die Kaninchen in den Versuchslaboratorien einer entfesselten Politik.
(Erschienen auf Wiwo.de am 07.05.2011)
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