Der imperiale Krieg Russlands könnte aufrütteln: Heilsamer Schock für Phantasten und Pazifisten?

Vielleicht ist es zu optimistisch zu denken, der Krieg in der Ukraine würde den Realitätssinn vieler Menschen in Deutschland und Europa schärfen. Die Erfahrung lehrt die Hartnäckigkeit von Illusionen und Phantastereien, wenn sie denn nur bequem sind.

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Das Ausmaß von Kriegsangst hängt direkt von Beteiligten und Entfernungen ab. Je mächtiger die Protagonisten und je näher der Schauplatz, desto größer die Betroffenheit. Deshalb birgt auch das schreckliche Geschehen im Osten Europas eine kleine Chance zu einer Art „sekundärem Krankheitsgewinn“ für uns, der Krieg könnte sich zu einer therapeutischen Lektion in Sachen Realitätssinn und „Friedenspolitik“ entpuppen.

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Der russische Einmarsch in der Ukraine konfrontiert drei unendlich von Frieden, Freiheit und Wohlstand verwöhnte Generationen im Westen Europas mit den Realitäten eines imperialen Kriegs, begonnen von einer Atommacht gegen ein europäisches Land mit demokratischen Ansätzen. Während in der AfD und bei den Linken mit ihrem übergroßen Verständnis für alles, was Moskau macht, deutlich Erklärungsnot und Irritationen erkennbar sind, scheinen derzeit Sozialdemokraten und Grüne zuweilen unerwartet klar die Kriegspolitik Moskaus zu geißeln. Es könnte zu einer bitteren Lehrstunde für jene werden, die meinen, entscheidend seien auch in der Politik guter Wille, intensive Gespräche, vorbildliches Verhalten und die mysteriöse Macht des Wunschdenkens. Nun aber wird deutlich:

1) Die Möglichkeiten der Diplomatie stoßen auch im 21. Jahrhundert und auch in Europa an ihre Grenzen, wenn sich einer der Beteiligten verweigert. Wer also, wie Deutschland seit Langem, seine Verteidigungsfähigkeit vernachlässigt – oder gar, wie es Linke fordern – aus dem Nato-Verteidigungsbündnis aussteigt, der könnte sich rasch in einer dramatischen Erpressungslage befinden.

2) Ökonomische Abhängigkeiten von unfreundlichen Mächten können dramatische Auswirkungen haben. Deshalb sind Projekte wie Nord Stream 2 keineswegs so etwas wie „privatwirtschaftliche Vorhaben“ (Kanzler Olaf Scholz). Die deutsche Politik hätte niemals eine Entwicklung fördern dürfen, die diese enorme Abhängigkeit von russischen Energiequellen zur Folge hat. Wirtschaftsminister Robert Habeck hat schon angekündigt, dass nun zwangsläufig die Preise für Energie steigen werden – und nebenbei drohend betont, nun müssten die nichtfossilen Energiequellen gegen alle Widerstände durchgesetzt werden – und damit sind sicher demokratische und rechtsstaatliche Vorgaben gemeint. Aber wer weiß, vielleicht finden sich zumindest in der Union und in der FDP vermehrt Stimmen, die den Ausstieg aus der Kernkraft doch noch mal in Frage stellen.

3) Russland unter Putin ist eine aggressive und offensive Macht gegenüber dem Rest Europas. Die Ängste der russischen Anrainerstaaten von Finnland bis Rumänien sind sehr ernst zu nehmen. Es gibt auch in Europa sehr wohl nationale Interessen von höchster, existenzieller Bedeutung.

4) Innenpolitische Kriegsschauplätze wie der zunehmend gewalttätige Kampf gegen Klimawandel oder die absurden Auswüchse und Verirrungen einer maßlosen Genderbewegung (in Sprache, Kultur, Wissenschaft und Politik) entlarven sich als groteske Phänomene einer in jeder Hinsicht verwöhnten und ideologisierten Gesellschaft. Wir sind keineswegs nur wegen Corona und der umstrittenen Gesundheitspolitik wahrscheinlich in den kommenden Jahren mit ganz anderen politischen Herausforderungen konfrontiert.

5) Schon immer war die Argumentation, Deutschland liefere wegen „seiner leidigen Erfahrungen in der Geschichte“ keine Waffen in Krisengebiete, verlogen und unlogisch. Jede Waffe in den Nahen Osten ging in ein Krisengebiet; wenn die Geschichte des 20. Jahrhunderts eines lehrt, dann ist es die Notwendigkeit einer unabdingbaren, bewaffneten Gegenwehr gegen kriegerische Mächte. „Si vis pacem para bellum“ (Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg), wussten schon die Griechen und Römer.

6) Der Kampf gegen „Faschisten“ und „Nazis“ dient schnell als pauschales, einleuchtendes und bequemes Argument für einen „gerechten Kampf“ und die Verweigerung, zu sprechen und zu verhandeln. Auch Putin nutzt diesen Vorwurf gegen die Regierung in Kiew, gleich auch unterstellend, dass die Machthaber in der Ukraine die eigene Bevölkerung „foltere und ermorde“. Selbst wenn das den Tatsachen entsprechen würde – gegen wie viele Staaten der Erde könnte man militärisch vorgehen, um ähnliche Vorwürfe zu beenden?

Vielleicht ist es zu optimistisch, zu denken, der Krieg in der Ukraine würde den Realitätssinn vieler Menschen in Deutschland und Europa deutlich schärfen. Die Erfahrung lehrt die Hartnäckigkeit von Illusionen und Phantastereien, wenn sie denn nur bequem sind. Es werden auch weiterhin viele denken, eine friedliche Welt hänge letztendlich doch nur von unserem guten Willen und unserer eigenen Friedfertigkeit ab.

Tut es nicht. Die Pandemie, der Krieg in Europa und vielleicht bald gravierende Stromausfälle könnten im besten Fall auch politischen Sichtweisen der Vernunft und des Augenmaßes einen breiteren Weg ebnen.

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Kommentare ( 85 )

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Bad Sponzer
2 Jahre her

Heilsamer Schock? Ne bestimmt nicht. Diese Leute sind komplett beratungsresisitente ideologische Spinner. Solche Leute hätten nie an irgendwelche Schalthebel der Macht kommen dürfen. Das werden wir noch an anderen Stellen empfindlich merken.

Helfen.heilen.80
2 Jahre her

Man konnte als einfacher Mensch schon vor Jahren Bücher im regulären Handel kaufen, in denen das Großmachtskalkül von USA u Russland nachzulesen war. Brezinski „The great game“ stellte schon frühzeitig klar, dass man Russland nur „schachmatt“ setzen könne, wenn man die Herrschaft über die Ukraine erlangt. Dort Waffen stationiert, erreicht man jedes Ziel in diesem Land. Tja. Madeleine Albright sagte einmal, es sei egoistisch von Russland die grossen Mengen von Bodenschätzen nicht mit dem Rest der Welt zu teilen. Tja. Frau Timoschenko äußerte einmal, sie würde, wenn sie könnte, Russland atomar angreifen. Hm. Und finally: Frau „fuck-the-EU“-Nuland äußerte, die Staaten… Mehr

Wenzel Dashington
2 Jahre her

Was wäre wenn? Donald Trump hat 2019 schon einen Nato-Austritt der Vereinigten Staaten erwogen und seine Wiederwahl ist realistisch. Die USA tragen derzeit 72 Prozent der Verteidigungsausgaben in der Nato und nach der Ernüchterung des Putin Einmarsches werden immer weniger Amerikaner bereit sein, sich für die europäischen „Drückeberger“ in einen atomaren Konflikt verwickeln zu lassen. Die Ampel wird bald unweigerlich merken, dass es Wichtigeres gibt als Corona, Klima, Räächts und GenderTralala.

PM99
2 Jahre her

Krieg ist nie ein Mittel zur Lösung von Problemen. Leute mit Restverstand sollten jedoch auch fähig sein zu analysieren, wie es zu Kriegen kommt. Und was die Ukraine betrifft, so muss man sagen, dass der Westen eben nie zu einer Deeskalation und dem Aufbau einer effektiven Sicherheitsstruktur beigetragen hat. Als 1990 der ganze Ostblock den Kommunismus abgestreift hat, hat der Westen Russland weiter so behandelt, als seien dort noch die Kommunisten an der Macht. Man hat nie ernsthaft versucht Russland einzubinden. Natürlich wollten die USA um jeden Preis eine enge Verbindung Russlands mit der EU verhindern. Aber lag das auch… Mehr

Delegro
2 Jahre her

Das war auch mein erster Gedanke. Schlimm, was in der Ukraine passiert. Aber wenn diese Verletzung des Völkerrechts für ein Umdenken in unserer Politik führt, wäre das zumindest ein kleiner positiver Aspekt. Putins vorgehen müsste jetzt eigentlich den Ideologen aus der links/grünen Ecke in der Regierung schwer zu denken geben. Dran glauben mag ich aber nicht. Den wenn diese Mischpoke eines bereits bewiesen hat, dann eine vollständige Uneinsichtigkeit gegenüber Fakten und eigenen Fehlern. Ideologie schlägt Verstand. Habeck nutzt den Ukraine-Krieg ja schon wieder mal für seine Zwecke. Er plädiert für eine noch schnellere Umsetzung der irrsinnigen grünen Energie- und Klimapolitik,… Mehr

alter weisser Mann
2 Jahre her

Ein heilsamer Schock ist nicht zu erkennen, das weltfremde Gefasel von der eigenen Macht nimmt eher zu. Da wird gegreint, man sei belogen worden und getönt, nun werde man Russland quasi von jeder Zukunft abschneiden, dabei steht man doch nackt und bloß da. Militärisch blank, versorgungsmäßig abhängig, die eigene Zukunft nicht ungefährdet (Was wird nun wohl aus der Weltklimarettung ?) und wenn dann erst ein Strom von Kriegsflüchtlingen eintrifft und Putin auch noch gegensanktioniert (er wird sich nicht mit Reisebeschränkungen für den Bundestag abgeben), dann werden die großen Sprüche wohl bald platzen. Der ukrainische Botschafter, dieser Mann der starken Worte,… Mehr

Last edited 2 Jahre her by alter weisser Mann
Elli M
2 Jahre her

Interessanter Beitrag. Die Transatlantikerposition kennen alle hier schon recht gut, könnten Sie vielleicht bei Gelegenheit einen weiteren Artikel schreiben zur Hegemonialpolitik der USA, der NATO in diesem Zusammenhang und welche Rolle Deutschland dabei zugedacht ist? Danke.

a.bayer
2 Jahre her

Ob wir es hier mit einer Art von Erweckungserlebnis zu tun haben, werden die Sonntagsfragen der kommenden Wochen zeigen. Erwarten Sie nicht zu viel, zumindest nicht von der Mehrheit der Westdeutschen. Die hat man auf eine Art und Weise „kässmannisiert“, die sehr nachhaltig ist.

Last edited 2 Jahre her by a.bayer
LM_978
2 Jahre her

Ich frage mich allerdings schon, wer diese Politik machen soll und was die konkreten Massnahmen sein sollen? Die CDU? Die war doch gerade 16 Jahre an der Macht? Davon gibts doch nur weiter links stehende, oder? Was soll denn da kommen, bitte konkret. Ist das ein Votum für die AFD? Oder welche Partei soll hier den Lead übernehmen? Was sollen wir rüsten? Wir haben schon 40 Mrd Etat für Verteidigung. Davon geht eben n Grossteil in Personalkosten und in einen Hochdienstgradlastigen Wasserkopf einer Karrierearmee. Soll der Sold und die Pension gekürzt werden? Sollen die hochrangigen Offiziere entlassen werden zugunsten niedrigrangigerer… Mehr

Nibelung
2 Jahre her

Ein einziges Panoptikum der Illussionäre und wer mit solchen Gestalten gesegnet ist, der kann ja nur noch auf Putin oder Trump hoffen, denn was sich derzeit auf der politischen Bühne an Witzfiguren tummelt, ist der Ausdruck geistiger Umnachtung ihrer Wähler und darauf haben sie ja auch hingearbeitet, denn solche Typen braucht der Strippenzieher, wie sollte er ansonsten seine eigenen Vorstellungen in die Tat umsetzen. Nun kann man sich ja grundsätzlich über Politik und deren Aktivitäten und Auswirkungen streiten, eines aber ist sicher, wenn die Handlungen nicht mehr mit dem täglichen Lebens übereinstimmen, dann haben wir einen Punkt erreicht, wo die… Mehr