Wer Protest wählt, bezeugt nicht nur seinen Unmut, sondern auch das Verstehen demokratischer Spielregeln, die das bestehende bei Gelegenheit durch neues ersetzen. Und nichts macht Herrschenden mehr Angst, als irgendwann nicht mehr Herrschender zu sein.
Protest, so lesen wir bei Wikipedia, „ist ein verbaler oder nonverbaler Ausdruck der Zurückweisung…gegenüber bestimmten Geschehnissen, Situationen oder gegenüber einer bestimmten Art von Politik“. Wir benötigen nur einen kurzen Blick in unser tägliches Leben, um festzustellen, dass das in etwa hinkommt. Uns stören Ignoranten wie Bessermenschen, Duckmäuser oder Aufbrauser, Dauerjasager und Betonköpfe. Den Protestwähler auch.
Gegen etwas zu sein, sich nicht damit abzufinden und seinen Unmut zu artikulieren, gehört zum menschlichen Geschäft. Wir machen es im Stillen oder meckern auch mal laut, machen es, um uns abzureagieren oder weil wir vielleicht ohnmächtig sind ob der Gegebenheiten, die in Stein gemeißelt sind. Ohne Unzufriedenheit würde alles nur beim alten bleiben. Protest ist der Motor, aus dem sich Veränderung erwächst. Protest ist also weder unnormal noch ungehörig.
Ist der Protestwähler unnormal und ungehörig?
Umso erstaunlicher, dass quer durch Parteien und Medien Protestwähler irgendwie das zu sein scheinen: unnormal und ungehörig. Wer sein Kreuz bei keiner der klassischen Parteien macht, ist in ihren Augen wohl nicht ganz dicht. Versteht keine Wahlprogramme, kann also die „guten“ (CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP) von den „hässlichen“ (Linke, AfD) nicht unterscheiden, weil ihm die Grundlagen Wurscht sind und er sowieso nur den Mächtigen eins auswischen will. Ihm ist die Zukunft des Landes egal, da es ihn nicht juckt, Stimmen Parteien wegzunehmen, die sich um den Aufbau Deutschlands in den diversen Problemzonen so verdient gemacht haben. Lieber sieht er Hasardeure im Parlament, die bisher nichts brachten außer große Sprüche. Der Wähler muss irre sein, sich neuen Parteien zuzuwenden, ohne den alten die Chance gelassen zu haben, nach tausend Versuchen zur Verbesserung der Lage im tausendersten das Ruder endlich rumzureißen.
Beherrschten die Herrschenden Sherlock Holmes‘ Kunst der Deduktion, würden sie Unwahrscheinliches streichen und hätten das, was übrig bleibt, als wahrscheinlichste Erklärung anzubieten: dass Protestwähler die Nase voll vom Althergebrachten haben. Weil ihnen keine Bühne für ihren Unmut gegeben wird, Noten an Parteizentralen versickern und mürrische Facebook-Postings zensiert werden, nutzen sie die kleine Wahlkabine, um zu sagen: Hier stehe ich und kann nicht anders. Abseits des Wahlzettels entstehen Affären und neue Bindungen auf gleichem Wege. Erst der Warnruf an den bisherigen Partner, dass etwas fehlt, dass es anders laufen sollte, dass der propagierte Gleichklang außer Takt geraten ist. Erst im starren Beharren des Einen auf dem was ist löst sich der Andere vollständig und landet in neuen Familien. Wie heißt es so schön? Andere Mütter haben auch schöne Töchter.
Ist die eine Protestpartei erst mal etabliert, schimpft sie über die nächste
Längst ist eine Partei ihren Protestwählerschuhen entwachsen. Als sie die einzige ernstzunehmende Alternative war, klebte an ihr das Attribut Protestpartei wie zermatschte Insekten an der Windschutzscheibe nach der Autobahnfahrt. Jetzt stellen sie Ministerpräsident, Landräte, Bürgermeister, haben Korrekturen und Reformen angestoßen, sind angekommen. Ironischerweise bedient sich Die Linke nun an den gleichen Kommentaren, die einst auf sie niederprasselten, wenn es darum geht, die Wahlerfolge der AfD für sich begreifbar zu machen. Fürwahr, die Sozialisten sind angekommen. Nicht nur politisch, auch moralisch. Über kurz oder lang erreicht die AfD sicher Ähnliches und wird, nachdem sie die Stellschrauben der Republik justiert hat, auf Konkurrenz gleichermaßen allergisch reagieren. So geht der Kreislauf, so sind die Wähler, die früher oder später auch von der AfD die Nase voll haben, ihre Entscheidungen nicht mehr mittragen und aus Protest anders kreuzen.
Unnormal und ungehörig ist es, in sturer Ignoranz dogmatischen Richtlinien hinterherzulaufen, die sich längst als falsch herausgestellt haben, aber Wähler, die das erkennen, abzustempeln, sie zu bloßen Krawallbrüdern zu machen, denen kurzfristige Stimmungswechsel wichtiger sind als nachhaltige Änderungen – siehe oben. Es wirkt, als spräche man ihnen das Recht ab, sich eigene Meinungen zu bilden, die dann in Resultate wie etwa MeckPomm münden. Protestwähler scheint das neue Etikett zu sein, wenn die Großen, Alten, Unbeweglichen sagen wollen, was sie nicht sagen sollten: es gibt gute und böse Wähler.
Protest stammt aus dem Lateinischen und ließe sich mit „etwas öffentlich bezeugen“ wohl am ehesten übersetzen. Wer Protest wählt, bezeugt nicht nur seinen Unmut, sondern auch das Verstehen demokratischer Spielregeln, die das bestehende bei Gelegenheit durch neues ersetzen. Und nichts macht Herrschenden mehr Angst, als irgendwann nicht mehr Herrschender zu sein.
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