Europa und Amerika: Mehr Polarisierung und weniger Freiheit

„Der Kreml und die von ihm gelenkten Medien haben in den vergangenen Jahren ein Klima geschaffen, in dem Gewalt, Misstrauen, Zynismus, Hass und Lüge herrschen. Wir erleben, wie eine Gesellschaft buchstäblich verroht.“ Schrieb Gesine Dornblüth auf Deutschlandfunk Online.

Der ungarische Schriftsteller György Dalos fühlt sich „von unserer Hasskultur angewidert.“ Er liest jeden Morgen die Online-Ausgaben der ungarischen Zeitungen. Aber erst nach dem Frühstück, damit ihm der Appetit nicht vergeht.

Michail Chodorkowsky, der in seinem Schweizer Exil auf den Tag nach Putin wartet, nahm zum Mord an Boris Nemzow in einer Weise Stellung, die der Medien-Mainstream nicht mag, also zitierten ihn kaum welche: „Schon ein ganzes Jahr strömt konzentrierter Hass von jedem Bildschirm auf uns ein. Und nun suchen viele Leute – vom gewöhnlichen Blogger bis zu Präsident Putin – nach Feinden und beschuldigen sich gegenseitig der Provokation. Was ist nur mit uns geschehen? Sind wir nicht alle Mitbürger, Menschen ein und desselben Landes? Wir werden nach allem doch neben und mit einander leben. Wie können wir so viel Hass gegeneinander zulassen?“

Beschuldigungen, Anklagen, Verurteilungen wollen die Mainstream-Medien und ihre Claqueure in den Social Media wollen sich empören, wollen anheizen und hetzen, in Freund und Feind einteilen. Mir geht es wie György Dalos, die Hasskultur auf Facebook und Co. stößt mich ab. Nachdenkliches fehlt so sehr, Perspektiven, die Wege aus dem Klima von „Gewalt, Misstrauen, Zynismus, Hass und Lüge“ weisen, sich dafür einsetzen. Es entsetzt mich, wenn Facebook-Teilnehmer sich über den Tod eines politisch Andersgläubigen freuen und den Tod wünschen.

Nein, natürlich herrscht in Europa westlich von Russland gottseidank kein vergleichbares Klima von Gewalt, Misstrauen, Zynismus, Hass und Lüge. Aber die geistige Verrohung der Sitten nimmt auch bei uns erschreckend zu. Gesine Dornblüth beobachtet, dass in Russland Niedertracht um sich greift „und droht, den Anstand zu besiegen.“ Die Mehrheit der Russen, sagt sie, teilt diese Niedertracht nicht: „Aber sie widerspricht auch nicht. Und das ist besorgniserregend.“ Ist das bei uns nicht ebenso? Warum ergreifen in den Medien so wenige anstelle der schweigenden Mehrheit ihre Stimme?

Demokratie im Gegenwind

Einen anderen Bogen spannt der frühere Schweizer Bundesrat Kaspar Villiger: „Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 25 Jahren begann ein hoffnungsvoller Siegeszug der Demokratie. Seit der Jahrtausendwende aber häufen sich die Rückschläge. Zarte Demokratiepflänzchen vertrocknen und werden zu autoritären Gebilden. Früher erfolgreiche und bewährte westliche Demokratien versinken im Schuldensumpf, sind politisch blockiert, haben keine Kraft zu Reformen, leiden an chronischer Arbeitslosigkeit und kämpfen gegen destruktive populistische Bewegungen.“

Er sieht bei manchen autoritären Systemen in Asien, die auf ihre Weise auf Marktwirtschaft setzen, wirtschaftliche Erfolge. Die Frage, die ich mir stelle, geht weiter. Landen wir in Europa mit der Zeit auch bei politisch autoritären Zuständen, die sich dann von denen in Asien dadurch unterscheiden, dass sie wirtschaftlich nicht so erfolgreich sind? Wie schnell wächst die politische Kluft zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern weiter, wenn Handeln und Begründung sich so widersprechen wie bei der sogenannten Griechenland-Rettung?

Pressebeiträge über diese politische Kluft zwischen Eliten und Volk nehmen in letzter Zeit etwas zu, aber die meisten beschreiben nur Symptome. Auf den Zusammenhang zwischen den Trägern der Politik, der Parteien und der völlig neuen Kommunikationslandschaft von grenzenlosen Optionen an Unterhaltung und Informationen gehen sie kaum ein. Bei Villiger findet sich dieser Hinweis:
„Es ist ein öffentlicher emotionaler Prozess, der mit einem Medienbericht über ein unbedeutendes, aber skandalisierungsfähiges Einzelereignis beginnt. Andere Medien springen auf, Empörungsunternehmer aus Politik und Medien füttern den eskalierenden Prozess mit ständig neuen kleinen, aber dramatisierten Einzelereignissen, bis daraus die öffentliche Wahrnehmung eines gravierenden flächendeckenden Missstandes entsteht, welche die politische Regulierungsmaschinerie anwirft. Dieser Prozess führt zu verkehrten politischen Prioritäten.“

Der Schweizer Villiger spricht aus, was Politiker in EU-Ländern vielleicht denken, aber nicht zu sagen wagen: „Zur Einschätzung der Zukunft der Demokratie ist die Erkenntnis bedeutsam, dass die Demokratie zwar Marktwirtschaft braucht, Marktwirtschaft aber nicht unbedingt Demokratie. Sie braucht lediglich geeignete Staatlichkeit, die ihr auch ein kluges autoritäres Regime bieten kann.“ Solchen Ländern – wie Singapur und China – gegenüber fühlen sich die westlichen Eliten wegen unserer politischen Kultur von Freiheit und Rechtsstaat überlegen. Wie lange noch entspricht das der Wirklichkeit, wenn immer mehr tatsächliche Politik von Institutionen gemacht wird, die sich der klassischen Gewaltenteilung entzieht? EZB, IWF und die EU-Kommission seien beispielhaft genannt.

Matthew Yglesias Befund für die Vereinigten Staaten ist noch viel radikaler. Er sieht Amerikas konstitutionelle Demokratie als dem Untergang geweiht. Der ideologische Gegensatz zwischen Republikanern und Demokraten hat sich seit Beginn unseres Jahrhunderts vervielfacht, während er von 1934 bis 1967 sehr gering geworden war. Dafür dass diese Entwicklung wie so viele vorher nur etwas später auch in Deutschland und Europa eintritt, gibt es genügend Anzeichen.

Wenn wir auf die USA schauen, sollten wir sie nicht mit Deutschland und anderen Nationalstaaten vergleichen, sondern mit der EU. Bei der Tea-Party-Fraktion der Republikaner gibt es starke Kräfte, die nicht mehr die Macht in Washington anstreben, sondern eine breite Rückverlagerung politischer Macht zu den Einzelstaaten: von den Vereinigten Staaten zu den Konföderierten.

Von Syriza bis UKIP gibt es verwandte Anzeichen in Europa. Aber die herrschenden Eliten in den Hauptstädten deuten sie falsch, halten sie für vorübergehende Erscheinungen oder haben schlicht keine Antworten. Die intelligenteste Antwort läge übrigens nicht in der Abwehr dezentraler Kräfte, sondern in dezentralen Lösungen, die mit mehr Freiheit und mehr Recht zugleich mehr Effizienz und mehr Sicherheit schaffen: mit mehr Anstand mehr Wohlstand für Alle. Eine politische Kraft, die dafür eintritt, sehe ich nicht. Aber vielleicht nur noch nicht.

Die etablierten Parteien verlieren Mitglieder, die alten Medien Leser, Zuschauer und Hörer. Beide sollten auf die Zusammenhänge schauen und neue Wege für alte Werte gehen. Sonst greift die Hasskultur weiter um sich und setzt sich die Polarisierung fort: mit weniger Freiheit, Recht und Demokratie.




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