Die Deutschen sind ja, wie die Geschichte und die in ihr gefangenen Menschen leider mehrfach erfahren mussten, ein störrisches, unbelehrbares und zum Übereifer und einem Perfektionsdrang bis zur Selbstzerstörung neigendes Volk.
Nüchternes Abwägen, pragmatisches Handeln, elastisches Zurückweichen, Aufgeben oder auch nur Beidrehen, solche Elemente gibt es auch. Aber sie sind so selten wie die Fähigkeit zur Selbstkritik. So jedenfalls werden die Deutschen gesehen. So das Vorurteil.
Aber es ist und bleibt – ein Vorurteil. Heute sind die Deutschen lernwillig bis zur Gefallsüchtigkeit; sie reagieren auf Kritik sofort und auch unter Hinnahme gewisser Nachteile. Nichts zeigt das besser als die Diskussion um die deutschen Exportüberschüsse. Nun sagen Sie nicht, Import und Export sei nicht das Feld großer Konflikte, wenn man an Deutsche denkt, eher sei es ein zivilisatorischer Fortschritt, dass sie die Welt nur noch mit BMWs und Audis überrollen.
Bekanntlich verkaufen die Deutschen mehr Waren als sie importieren; Autos, Maschinen, aber auch Käse, was insbesondere den Nachbarn Frankreich in eine Sinnkrise stürzt. Seit einigen Wochen ist diese Art der Wirtschaftspolitik ins Zentrum der Kritik geraten. Niemand geringer als das US-Finanzministerium, nachgewiesenermaßen eine Art globales Amt der höheren ökonomischen Vernunft, kritisierte die Deutschen ungewöhnlich scharf.
“Germany’s anemic pace of domestic demand growth and dependence on exports have hampered rebalancing at a time when many other euro-area countries have been under severe pressure to curb demand and compress imports in order to promote adjustment”, heißt es da. Und der Nobelpreisträger Paul Krugman assistierte mit der “niederdrückenden” Wirkung, die diese Deutschen auf die gesamte Weltwirtschaft ausübten, eine Folge der autistischen Sicht ohne “globalen Horizont” ihrer Wirtschaftspolitik.
Nun ist es ja gar nicht so einfach, auf derart massive Kritik zu reagieren. Man hört geradezu die ebenso besorgten wie beflissenen Diskussionen in den Büros des Kanzleramts, was jetzt zu tun sei. Zukünftig die Nachfrage nach Mercedes-Fahrzeugen global nur noch auf Bezugsschein genehmigen? Eine Selbstbeschränkung in Qualität, um Kunden abzuschrecken, auf italienisches Fiat–Niveau, also Fiak? Fix it again, Kraut? Die Maschinen, die für den Aufbau der neuen Industriestaaten benötigt werden, statt in Brasilien in Bayern zu verkaufen, etwa die hochgeschätzten Tunnelbohranlagen aus Stuttgart, die sich durch den Untergrund der Städte fräsen, um U-Bahn-Röhren zu schaffen oder sich durch Berge zu fressen für zukünftige Auto-Tunnels? Jedem Deutschen seine private Tunnelbohrmaschine im Wert von 250 Millionen Dollar?
Aber dies wären doch nur Einzelmaßnahmen. Geblieben ist der deutsche Hang zur Perfektion. In diesen Tagen hat die einflussreichste Frau der deutschen und europäischen Politik auf 185 Seiten ein komplettes und perfektes Programm zur Bekämpfung der deutschen Exportüberschüsse vorgelegt. Das Papier gilt als ein auf vier Jahre angelegter Ehevertrag mit der konkurrierenden Partei der Sozialdemokraten, mit denen Angela Merkel zukünftig gemeinsam regieren will, was wie eine Art sofortiger Zusammenschluss von Tea-Party und Demokraten wirkt.
Danach soll ein hoher Mindestlohn eingeführt und die nach europäischen Standards vergleichsweise vorsichtige Regulierung der Arbeitsmärkte auf das Niveau zurückgedreht werden, mit dem Deutschland zum kranken Mann Europas wurde – erst der sozialdemokratische Kanzler Gerhard Schröder hatte hier tiefgreifende Reformen durchgesetzt. Jetzt also zurück. Wirtschaftswissenschaftler erwarten einen Anstieg der Arbeitslosigkeit um über eine Million Menschen – der stampfenden deutschen Exportmaschine gehen dann die Arbeitskräfte aus. Schon seit zwei Jahren steigen die deutschen Löhne kräftig. Merkel will das Lohnwachstum beschleunigen, indem die Beiträge auf den Faktor Arbeit erhöht werden; letztlich eine gewaltige Steuererhöhung für Arbeit. Teure Arbeit aber ist kein Wettbewerbsvorteil. Schon heute liegen in Deutschland die Energiepreise um 30 bis 50 Prozent über den amerikanischen, was die famose deutsche Chemieindustrie dazu verlockt, neuerdings riesige Anlagen in den desindustrialisierten Wüsten der USA aufzubauen. Zukünftig sollen die Energiepreise noch schneller und noch höher steigen, wohl um den Verfall der deutschen Industrie zu beschleunigen. Schon heute ist die deutsche Investitionsquote in der Industrie sensationell niedrig. Sie liegt bei nur 16 Prozent, während sie in Europa immerhin bei 20 und im internationalen Maßstab bei 24 Prozent liegt. Die staatlichen Renten werden erhöht; ein ziemlich selbstmörderisches Unterfangen in einer Gesellschaft, die (nach Japan) gleichzeitig die älteste der Welt ist und als Rekordhalter im Nicht-Gebären von Kindern dafür sorgt, dass dieser soziale Kälterekord sich zum Kältetod einer Gesellschaft auswachsen kann. Das Renteneintrittsalter soll auf 63 Jahre vorverlegt werden; zunächst nur für wenige, möglichst aber bald für alle Arbeitnehmer. 45 Arbeitsjahre werden als gesellschaftliche Norm ausgegeben; da die Lebenserwartung der robusten Deutschen sich auf über 90 Jahre bewegt, bedeutet das: Gearbeitet wird noch ein halbes Leben.
Angela Merkel ist eine Meisterin der Politik. Bislang ist es ihr gelungen, das umfassende Export- und Wirtschaftsblockade-Programm als soziale Meisterleistung zu verkaufen; tatsächlich sind die Sozialleistungen der teure Preis dafür, um die Deutschen von ihrer Tüchtigkeit und ihrem Fleiß zu entwöhnen. Die Nachbarn haben dies sofort erkannt. Frankreichs François Hollande lobte noch am Tag der Veröffentlichung, dass Deutschland nun den französischen Weg einschlage, was bekanntlich zu einem rapiden Verfall französischen Wohlstands geführt hat.
Nun rätseln Hollandes Experten, ob dies tatsächlich zur Wiederherstellung der französischen Wettbewerbsfähigkeit führen wird. Immerhin besteht die Gefahr, dass der zu erwartende Niedergang der deutschen Wirtschaft auch die damit eng verflochtene europäische nach unten zieht; immerhin sind ja ein Drittel der deutschen Exporte eingebaute und sorgfältig versteckte Importe aus Italien und Frankreich und anderen Ländern.
Vielleicht hat er die neuen deutschen Tugenden nicht ganz vollständig in ihrer Wirkung erfasst. Die Deutschen sind gehorsam und gefügig bis zur Selbstaufgabe geworden. Aber ihr selbstzerstörerischer Perfektionismus scheint noch unbegrenzt vorhanden.
(Erschienen in der Jewish Voice of Germany, Dezember 2013)
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