Der Verfall des Journalismus in der Auslandsberichterstattung

Klaus-Jürgen Gadamer hat früher gerne Weltspiegel gesehen. Dieser Spaß ist ihm mit der neuen Journalistengeneration vergangen, wenn er sich Berichte über Länder anschaut, in denen er selbst gereist ist und weiß, wie die Menschen denken: ganz anders, als die Journalisten Glauben machen.

Screenshot: 3sat

Vor Jahrzehnten waren (Auslands)dokumentationen noch bemüht, Abstand vom Thema zu halten, und die verschiedenen Aspekte der fremden Kultur als etwas Fremdes zu verstehen. (So sind sie halt, die Inder.) Heute ist dies einem moralischen Populismus im Journalismus gewichen. Die Welt ist so, wie der politisch korrekte Journalist sie sieht.

Der arme Chinese ist deshalb arm, weil er ärmer ist als der arme Deutsche. Dass der arme Chinese sich aber gar nicht arm fühlt, weil es ihm sehr viel besser geht als seinem Großvater, das ist dem Moralpopulisten egal. Die journalistische Distanz zu einem Sujet ist der Emotionalisierung inklusive moralischem Furor gewichen.

War in früheren Jahrzehnten ein dialektisches Ringen um Verständnis spürbar, kann sich der heutige Auslands-Journalist nur noch sein eigenes politisch korrektes Denken als Mittelpunkt der Welt vorstellen. Wenn er einen Blick auf China wirft, ist er in seiner Idealisierung des Fremden oft genug über die Realität enttäuscht. Und mitleidlos wird China vorgeworfen, dass es seine Probleme noch nicht politisch korrekt gelöst hat.

Der Journalist von heute hält sich für aufgeklärt, deshalb gibt es für ihn das Fremde gar nicht mehr. Alle sind ja irgendwie wie er. Und wenn sie es nicht sind, werden sie es schon noch werden. Der „moderne“ Journalist, ist wie der moderne Politiker, er meint: Die Politik muss nur besser erklärt werden. Dass sie falsch sein könnte, kommt ihm gar nicht mehr in den Sinn. So geht es auch dem „modernen“ Journalisten. Dass seine Sichtweise falsch sein könnte, kann er sich gar nicht vorstellen. Er denkt, die moderne Burkaträgerin sei auf dem Weg zum Feminismus. Dass sie einen ganz anderen Weg gehen könnte inklusive Kampfansage an westliche Werte, ist der politisch korrekten Ökobourgeoisie undenkbar. Die „Flüchtlings-Kampagne“ der GEZ-Medien bildete hier wohl einen unseligen Höhepunkt.

Wenn sie es verstünden, würde man den Journalisten gern mit Heinz Erhardt zurufen: „Sie müssen nicht alles glauben was Sie denken.“

Dazu kommt die Emotionalisierung des journalistischen Sprechens. War früher von Sprechern immer eine innere Distanz, eine Neutralität zu hören, weiß man heute bis in die Nachrichten hinein, was gut und was böse zu sein hat. Diese sublime Form der Manipulation beherrscht heute Funk und Fernsehen bis in die Nachrichtensendungen.

Hier kommt ein autoritärer Wesenszug der westlichen Moderne zum Vorschein, der das Andere nicht verstehen, sondern es vereinnahmen will und moralisch über allem, über allem in der Welt, steht.

Es ist ziemlich schnell klar, was gut und was böse ist. Als Stellvertreter der eigenen Meinung werden in Auslandssendungen vor allem diejenigen interviewt oder portraitiert, die die Meinung der Journalisten wiedergeben.

Dabei ist diese die unverzichtbare Grundlage einer Annäherung an das Fremde: Ohne die Vorstellung, dass das eigene Verständnis des Fremden falsch sein könnte, kommt man zu keinem Verstehen. Fremde werden nicht dadurch verstanden, dass ich denke, ja sie sind halt wie wir, sie haben halt ein bisschen eine andere Folklore. Fremde verstehen heißt vielmehr, das Anerkennen ihrer Fremdheit und gleichzeitig zu denken: Ja, an ihrer Stelle, würde ich handeln wie sie. Ich würde die gleichen kulturgeprägten Handlungsweisen ausführen, wie alle anderen in dieser Kultur.

Dieses Anerkennen des Fremden als etwas vollkommen Anderes, das im Widerspruch zu mir steht, ist im heutigen Zeitgeist verloren gegangen. Heute wird dem Fremden neben Schwulen, Behinderten und Frauen nur ein weiterer Opfertitel verliehen. Sie sind wie ich, bloß halt noch mehr Opfer des Westens. Würde man den Kapitalismus der bösen alten weißen Männer abschaffen, dann hätten wir das Paradies der Wilden, Schwulen und Frauen, das Paradies auf Erden.

Geisterstädte?

Beispielhaft ist all dies in der 3sat Reihe: Geisterstädte der Welt zu bestaunen. China: Die Dörfer der verlassenen Kinder. Wie in allem manipulativen Sendungen, ist nicht nur wichtig, was gesagt wird, noch wichtiger ist oft wie etwas gesagt wird, und das Wichtigste ist oft, was nicht gesagt wird.

Das Folgende lohnt das Lesen auch, ohne den Film zu sehen. Wer aber den Film dazu ansieht, für den ist alles natürlich noch interessanter.

Zu Beginn des Filmes beklagt die Sprecherin mit säuselnder Opferstimme, eine ganze Eltern-Generation habe in den Dörfern die Alten und die Kinder zurückgelassen.

Das ist aber nicht nur in China so, liebe Filmer, überall in der 3. Welt machen sich junge Ehepaare auf in die Städte und lassen ihre Kinder bei den Großeltern zurück. Oft ist es eine freiwillige Entscheidung, die westliche Journalisten mit ihrem völlig anderen Wertesystem gar nicht nachvollziehen können.

Auch in Thailand ist es ein Massenphänomen, dass die Kinder fern der Eltern bei Opa und Oma aufwachsen. Dies ist auch Ausdruck dafür, dass Kinder in Dritte-Welt-Kulturen einen ganz anderen Stellenwert als im Westen haben. Während sich hier alles um die Kinder dreht, stehen in der 3. Welt die Eltern im Mittelpunkt. Die Kinder sind dazu da, später die Eltern zu betreuen. Wenn die Eltern zuerst ungestört ohne die Kinder Geld verdienen wollen, dann ist das einfach nur eine andere Sichtweise des Lebens. Aber mit solch unterschiedlichem Grundverständnis von Kulturen, halten sich solche „Dokumentarfilme“ nicht auf. Nein, sie würden sogar nur stören in der Fiktion: Alle sind irgendwie wie wir. Und wenn sie anders sind, dann sind sie Opfer und man muss ihnen ihr Opfersein nur erklären, sonst denken sie noch, sie wären gar keine Opfer.

Das ist der eigentliche Rassismus der Antirassisten: die Leugnung des Fremden. Alles hat wie unsere Kultur zu sein. Ob sie will oder nicht, wird jede Kultur unter dem Duktus, irgendwie sind wir ja alle Menschen, eingemeindet. Aber die entscheidende Frage, wie denn das Menschsein auszusehen hat, definiert dann in großer Selbstverständlichkeit der Journalist und damit die die veröffentlichte Meinung beherrschende Ökobourgeoisie mit ihrem Moralpopulismus.

Im 3sat-Film wird der 13jährige Sohn gefragt, was ihm, wenn er sein Eltern in Shanghai besuche, am besten gefalle. Er antwortet: Der Supermarkt. Mit ungläubigem Staunen fragt die konsumkritische Interviewerin völlig abseits der chinesischen Landrealität, wieso er den Supermarkt am liebsten möge. Das ist doch klar, du Nuss, möchte man ihr sagen. Wer in einem Dorf nur einen kleinen Laden kennt, den haut ein Mega-Supermarkt und eine Shoppingmall in Shanghai um. Dazu ist es hier in der brütenden Sommerhitze Shanghais der einzig kühle Ort. Das alles scheint der Interviewerin völlig fremd.

Die Großeltern bestellen ihre Gärten von Hand, haucht die Sprecherin. Sie haben keine Maschinen, ertönt klagend ihre Stimme. Ja, aber die Eltern haben ihnen ein Riesenhaus gebaut, möchte man antworten. Armut habe ich mir immer anders vorstellt. Eigentlich mehr wie in Indien, wo die Bauern in Dreckbaracken hausen, und nun muss ich etwas Ketzerisches sagen, damit meist auch noch zufrieden sind.

Dann wird vermerkt, dass die Räume unverputzt wie im Rohbau sind. Offensichtlich sind die Filmemacher zum ersten Mal bei einfachen Leuten zu Gast. In China sieht es in vielen Wohnungen wie im Rohbau aus. Und das stört niemand. Das ist offensichtlich der Style der einfachen Chinesen. Tapezieren ist Deutschland. Verstehen aber die Filmemacher nicht.

Wieder wird mit säuselnder Stimmer angeklagt, dass in China alle Sozialleistungen, also auch der Schulplatz, an die Heimatprovinz gebunden sind. Kinder müssen also am Heimatort zur Schule gehen. Aus reiner Bosheit der chinesischen Regierung möchte man meinen, denn erklärt wird nichts. Grund für die Regelungen sind aber der enorme Migrationsdruck, dem die chinesischen Städte unterliegen. 300 Millionen Bauern sind in kurzer Zeit vom Land in die Stadt gewandert. Das Land blutet aus. Um diese Landflucht zu verlangsamen, hat die Regierung die Sozialleistungen an die Heimat gebunden. Verständlich. Der Mensch wählt immer zwischen geringeren Übeln, so ist das Leben und anders geht es nicht. Und so lassen Regierungen allüberall in der Welt die Bevölkerung zwischen geringeren Übeln wählen, auf dass das größte Übel nicht eintritt. In Fernsehdokumentationen wird aber zuverlässig erst das größere und dann auch gleich das kleinere Übel angeprangert. Die unglaubliche Entwicklung Chinas wird nicht gewürdigt, sondern in einem arroganten Sozial-Populismus das Haar in der Suppe gesucht.

China-Bashing

In bester DDR-Manier beklagt dann die vorwurfsvoll Säuselnde, dass die hilfsarbeiternden Eltern keine Wohnung in der hochmodernen Downtown finden, wo wahrscheinlich die Fernsehcrew logiert und denkt: Oh, warum wohnen nicht alle so toll wie wir? Das ist aber ungerecht. Die analoge DDR-Kamerafahrt würde durch Frankfurter Villenviertel führen und gipfelten in der vorwurfsvollen Frage: Und wo wohnen hier die Arbeiter? Auch die DDR-Medien fanden immer weniger Glückliche im Westen, an denen dann die Unterlegenheit des kapitalistischen Westens vorgeführt werden konnte.

So geht das Chinabashing weiter. Dass das eigentlich zu vergleichende Land aber Indien und nicht Deutschland wäre, fällt den Filmemachern nicht weiter auf. Und dass es den Hilfsarbeitern möglich war, ein Riesenhaus im Heimatdorf zu bauen, nehmen die Filmemacher nicht als Leistung des chinesischen Systems wahr, nein sie werfen dem System geradezu vor, dass nicht alles noch besser ist.

5.500 Yuan verdienen die beiden Hilfsarbeiter zusammen, klagt die Sprecherin vorwurfsvoll. Zusammen haben sie nicht, wie sie sagt 660€, sondern 730€ im Monat und sie bezahlen 45 € Miete (Inder oder burmesische Hilfsarbeiter sind froh, wenn sie zu zusammen 100€ nach Hause bringen).

Aber rechnen wir doch einmal auf deutsche Verhältnisse um: Ein Hilfsarbeiter-Ehepaar verdient hier vielleicht 2.100 €. Davon gehen bei einer 3 köpfigen Familie etwa 800€ für Wohnung und Heizung ab. Also bleiben 1.300 € zum Leben.

Die beiden Chinesen haben abzüglich der Miete 680€, aber die Kaufkraft in China ist mindestens doppelt so hoch wie in Deutschland, oder mit anderen Worten, das meiste ist halb so teuer. 680 mal 2 wären also etwa 1360€. Also verdienen die beiden ähnlich den deutschen Hilfsarbeitern und können noch dazu ein Haus bauen. Das ist eine Riesenleistung für ein Land, dessen Bevölkerung vor wenigen Jahrzehnten noch von Hungersnöten geprägt war. Aber davon säuselt die Sprecherin nichts.

Im ganzen ländlichen Raum gibt es 58 Millionen Kinder, die mit ihren Großeltern auf dem Land leben, wird weiter geklagt. 58 Millionen, eine Riesenzahl denkt man natürlich erst mal. Aber wieviel Prozent sind das? Das wird lieber nicht gesagt. Dass die Kinder in den Ganztagsschulen quasi Ersatzeltern durch Lehrer und Sozialarbeiter gestellt bekommen, wird im elterngeprägten Denken Deutschlands nicht als Leistung, sondern als schwacher Trost wahrgenommen. Es ist aber die Riesenleistung eines Systems, das verhindern will, dass seine Städte in kürzester Zeit explodieren. Und es wird als Bosheit der chinesischen Regierung dargestellt, dass sie nicht die gesamte Landbevölkerung so ohne weiteres in die Städte ziehen lässt. In Indien ist das so. Und der Erfolg ist katastrophal.

Nun kommen wir zum emotionalen Höhepunkt des Filmes: Der Furor gegen die chinesische Verwaltung. Ein Bauer soll sein Land verlassen, seine Gebäude abreißen und er soll dafür finanziell entschädigt werden. Aber warum sollte er sein Land verlassen? Warum nur er und nicht die anderen Bauern? Warum sollte er Geld für eine Wohnung in der Stadt bekommen, wo doch gleichzeitig verhindert wird, dass alle in die Stadt ziehen? Fragen, die nicht nur nicht beantwortet, sondern gar nicht erst gestellt werden. Der Mann ließ seinen Stall stehen und bekam erst mal nichts. Vorwurfsvoll zittert die Stimme der Sprecherin und der Zuschauer versteht nichts außer: Wie ist sie böse, die chinesische Verwaltung.

Irgendwie sind jetzt erst 34 der 44 Minuten Film um. Das Dorfthema ist abgegessen, also wird noch kurz eine zweite Familie vorgestellt. Über dem Esstisch der Hilfsarbeiter hängt ein Mao-Poster. Warum, möchte man sofort fragen. Warum ist er offensichtlich bei vielen noch ein Idol? Aber natürlich keine Frage.

Zeigt sich diese Familie als sehr zufrieden von ihrer Situation, passt dies natürlich nicht ins Opfer-Konzept der Filmemacher. So säuselt Sprecherin von Schulden und Zusatzsteuern für das zweite Kind. Ja was? Die müssen für das zweite Kind mehr Steuern bezahlen und die kriegen kein Kindergeld wie wir in Deutschland. Oh, wie ist das ungerecht, so frisst es sich beim Zuschauer ins Gehirn.

Die Familie ist von der Großstadt ins Dorf zurückgezogen. Die Frau vermisst die leichtere Arbeit in der Fabrik. Feldarbeit ist härter. Ja wie? Wir bekommen doch immer eingetrichtert, die Fabrikarbeit in China sei furchtbar. Und jetzt sagt die Frau, genau dahin wünsche sie sich wieder zurück. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Oder verstehen meine medialen Vermittler die Welt nicht. Das wäre zu verschmerzen. Aber wenn sie die Welt falsch verstehen und auf der Richtigkeit ihrer Sichtweise beharren und mit ihrer Sicht Hinz und Kunz belehren wollen, was dann?

Aber machen Sie sich selbst ein Bild bei 3sat – Sendedatum: 16. 8. Bis Anfang September 2016 in der Mediathek – Viel Spaß.

Nachtrag: Laut Informationen chinesischer Freunde ist das Hukou-System, also das Meldesystem, das verhindert, dass in den großen Städten eine ungezügelte Bevölkerungsexplosion stattfindet, längst nicht mehr so strikt und die Regierung plant es in Zukunft aufzuheben. Aber für eine Übergangszeit soll die Urbanisierung in geordneten Bahnen stattfínden. Leider sind die Filmautoren darüber nicht informiert und erwecken so einen falschen Eindruck. Für die richtige Vorgehensweise traue ich der chinesischen Regierung eine höhere Entscheidungskompetenz als deutschen Mainstream-Journalisten zu. Der Erfolg gibt ersterer bei weitem Recht. Hätte sich China nach den Vorstellungen deutscher Journalisten reformiert, dann würde hier heute ein Chaos herrschen, wie es in der größten „Demokratie“ der Welt, in Indien, üblich ist. Verlierer sind dort die Menschen.

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