Am 17. Juni wird die Stasi-Unterlagen-Behörde aufgelöst, auf den Tag genau 68 Jahre nach dem Volksaufstand in der DDR. Das Timing der Regierungsparteien wirft ein Schlaglicht auf den Umgang mit der ersten Erhebung gegen die SED-Diktatur. Von den Aufständischen hat keiner einen Platz im kollektiven Gedächtnis der Deutschen gefunden. Eine Erinnerung an einen vergessenen Freiheitshelden.
Paul Othma war 48 Jahre alt, als er am Morgen des 17. Juni vor dem Hauptgebäude des Elektrochemischen Kombinates in Bitterfeld auf das Führerhaus eines Lastwagens stieg. Mit fester Stimme rief der Elektromonteur von dort seinen Kollegen zu: „Wir erklären uns solidarisch mit den streikenden Bauarbeitern der Stalinallee. Wir verhandeln nicht mehr, denn wir lassen uns nicht länger an der Nase herumführen.“
Unter den 13.000 Beschäftigten herrschte schon seit Tagen Unruhe. Ein Lehrling war wenige Tage zuvor verhaftet worden – ein häufiger Vorgang in der frühen DDR. In der Frühstückspause versammelten sich die Arbeiter deshalb auf dem Hof und verlangten Aufklärung. Rufe wie „Freiheit für alle politischen Gefangenen unseres Werkes“ und „Heraus mit den politischen Gefangenen“ erschollen, dann auch „Wir sind solidarisch mit den Berliner Arbeitern!“. Das war der Moment, als Othma das Wort ergriff.
Mit ihm an der Spitze zogen kurz darauf über 10.000 Werksangehörige in die Innenstadt von Bitterfeld. Die Rufe der Demonstranten gab er im Verhör der Stasi später so wieder: „Freie, geheime Wahlen für Gesamtdeutschland, Abschaffung der Arbeitsnormen, Preissenkung in der HO (staatliche Lebensmittelkette in der DDR) um 40 Prozent, HO – macht uns K.O., Nieder mit der Regierung.“ Wären diese Forderungen verwirklicht worden, wäre Deutschland schon 1953 wiedervereinigt worden.
Unterwegs schlossen sich weitere Menschen dem Zug an. Als der Grundschullehrer Wilhelm Fiebelkorn die aufgebrachten Arbeiter an seiner Schule vorbeiziehen sah, reihte er sich mitsamt seinen Schülern ein. Wenig später sollte er zum Sprecher der Aufständischen ernannt werden.
Als Erster sprach Othma. Der Anblick der Menschenmassen muss ihn regelrecht überwältigt haben. Er begann seine Rede mit den Worten: „Liebe Freunde. Wenn ich heute Eure strahlenden Gesichter sehe, dann möchte ich Euch am liebsten umarmen und an mein Herz drücken. Der Tag der Befreiung ist da, die Regierung ist weg, die Tyrannei hat ein Ende.“
Othma wiederholte sodann die Forderungen der Streikenden: Abschaffung der erst kürzlich erhöhten Arbeitsnormen, 40-prozentige Senkung der staatlichen Lebensmittelpreise, Freilassung der politischen Gefangenen, Rücktritt der Regierung und freie Wahlen. Per Handzeichen wählten die Versammelten anschließend ein Streikkomitee für Bitterfeld.
Othma rief die Demonstranten aber auch zur Besonnenheit auf. Als Arbeiter einen Vorgesetzten heranschleppten, der sich vor dem Mikrofon dafür rechtfertigen sollte, dass er Kollegen schikaniert hätte, veranlasste er, dass man ihn gehen ließ. Für den SED-Sekretär für Agitation und Propaganda ließ er sogar eine Gasse bilden, damit er unbehelligt abziehen konnte, als ihn die erboste Menge zur Rede stellen wollte.
Das Streikkomitee bildete drei Gruppen. Sie sollten sich ein Bild der Lage verschaffen und erste Maßnahmen ergreifen. Die eine begab sich zum Rathaus, die andere zur Kreisdienststelle der Stasi, die dritte, mit Othma an der Spitze, zur Volkspolizei, wo sich auch die Untersuchungshaftanstalt befand.
Auch hier rief Othma zur Mäßigung auf. Bei der Stasi gab er später zu Protokoll: „Ich forderte die reindrängende randalierende Masse auf mit guten Worten, sie sollten von den Waffen die Finger lassen und sollten nicht sich und ihre Familien unglücklich machen und Blutvergießen vermeiden“. Er veranlasste, dass die Kammer verschlossen und eine Wache aufgestellt wurde. Der Stasi erklärte er auch: „Einem Polizeiangestellten in Zivil, der bewaffnet war und sich durch einen Sprung aus dem Kriminalgebäude retten wollte, half ich wegzukommen, ehe die empörte Menge ihn zusammenschlagen konnte.“
Vom Polizeiamt begab sich Othma ins Rathaus, wo die Streikleitung inzwischen im Sitzungssaal der Stadtverordnetenversammlung tagte. Othma wurde zum ersten Vorsitzenden ernannt, Fiebelkorn zum Sprecher. Einen früheren Stadtschulrat ernannte man zum Bürgermeister. Die Entscheidungen des Komitees wurden der Menge draußen laufend bekannt gegeben. Bitterfeld war praktisch in der Hand der Aufständischen, die nirgendwo auf Widerstand stießen.
Mit einem bei der Stasi beschlagnahmten BMW fuhr Othma gegen Mittag in die umliegenden Großbetriebe. Die Werksleiter sollten als erstes das Elf-Punkte-Programm der Streikleitung umsetzen. Verlangt wurde darin unter anderem die Auflösung der Betriebsgruppen der SED, der Abzug der Werkspolizei und die Übergabe der Betriebsfunk- und Fernsprechanlagen an die Streikenden.
Gegen 14 Uhr erhielt das Streikkomitee plötzlich die Mitteilung, dass in Berlin der Ausnahmezustand verhängt worden sei. Sowjetische Truppen würden sich der Stadt nähern. Das Komitee schickte daraufhin ein Telegramm an die DDR-Regierung – mit einem Forderungskatalog, dessen politische Klarheit alle Aufrufe aus dem Herbst 1989 übertrifft. Nachlesen kann man es hier.
In einem zweiten Telegramm wandte sich das Komitee an den sowjetischen Hochkommissar, Wladimir Semjonow. Der um 15:53 Uhr abgesandte Text bestand im Wesentlichen nur aus einem Satz: „Wir Werktätigen des Kreises Bitterfeld bitten Sie, den Ausnahmezustand in Berlin und alle Maßnahmen, die gegen die Arbeiterschaft gerichtet sind, sofort aufzuheben, damit wir Deutsche wirklich den Glauben in uns behalten können, dass Sie tatsächlich der Vertreter einer Werktätigen-Regierung, ein Freund des Friedens und der Völkerverständigung sind.“
Der Appell blieb ebenso ungehört wie die Forderungen an die DDR-Regierung. Nur wenig später rückten sowjetische Truppen und Einheiten der Kasernierten Volkspolizei in Bitterfeld ein. Um ein Blutvergießen zu verhindern, rief das Streikkomitee über den Stadtfunk dazu auf, die Besatzungsmacht zu respektieren und keine Gewalt auszuüben. Anders als in Berlin gab es in Bitterfeld deshalb weder Tote noch Schwerverletzte. Anschließend verkündete das Komitee einen dreitägigen Streik – dann verstummten die Lautsprecher.
Sowjetisches Militär besetzte nicht nur die Innenstadt, sondern auch die umliegenden Großbetriebe. Als Rotarmisten und Volkspolizisten in der Farbenfabrik Wolfen einmarschierten, konnte die gerade tagende Streikleitung in letzter Minute durchs Fenster entkommen. Fiebelkorn und einige weitere Mitglieder des Bitterfelder Streikkomitees flüchteten Hals über Kopf über die damals noch offene Grenze in Berlin. Die Übrigen wurden nach kurzer Zeit verhaftet, einer nahm sich noch im Polizeigefängnis das Leben.
Auch Othma wurde festgenommen und in die Untersuchungshaftanstalt der Stasi in Halle gebracht. Die Vernehmer betrachteten ihn als „Rädelsführer“ des Aufstands und versuchten ihn, mit Schlafentzug und Prügel zur Selbstbezichtigung zu bewegen. Ihr Auftrag lautete, die nicht vorhandenen westdeutschen Hintermänner des „faschistischen Putsches“ ausfindig zu machen. Wegen „Boykotthetze“ und „faschistischer Provokation“ wurde Othma im November 1953 zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Bezirksgericht Halle warf ihm unter anderem vor, die Menge aufgefordert zu haben, die Freilassung von vier Verhafteten zu verlangen. Ein großer Teil habe sich daraufhin zum Gerichtsgefängnis und zum Polizeirevier bewegt.
Von seinen Mitgefangenen im Strafvollzug wurde Othma ehrfurchtsvoll der „Löwe von Bitterfeld“ genannt. Denn auch dort blieb er überzeugt, dass er zu Unrecht verurteilt worden sei. Tatsächlich waren Streiks und Demonstrationen in der DDR damals nicht verboten. Vergeblich bemühte er sich immer wieder um seine Freilassung.
Erst elf Jahre später erlaubte die DDR, dass die Bundesregierung Othma freikaufte. Im Gefängnis war er so schwer erkrankt, dass ihm nur noch eine kurze Lebenszeit prognostiziert wurde; dennoch durfte er die DDR nicht verlassen. Mittellos und nur gepflegt von seiner Frau starb er fünf Jahre später in der Nähe von Bitterfeld.
Erst 50 Jahre nach seiner Verhaftung erinnerte man sich wieder des Arbeiterführers aus Bitterfeld. Am Jahrestag des Volksaufstandes wurde am Rathaus eine Gedenktafel für ihn enthüllt. Auch das Gemeindehaus seines Heimatortes wurde nach ihm benannt.
Doch auch das ist schon wieder 18 Jahre her. Wie über den gesamten Aufstand von 1953 hat sich längst wieder der Mantel des Schweigens über Paul Othma und seinen unerschrockenen Einsatz für ein freies, vereinigtes Deutschland gelegt.
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War eh klar, dass das Wort „Hetze“ damals schon gerne von den Linken missbraucht wurde – ebenso wie Justiz ! Von der SPD über die Grünen zur SED – alles nur machtgeile Pseudogutmenschen, die die Dummheit anderer ausnutzen um an die Macht zu kommen und diese zugleich zu missbrauchen …
Links ist gerne und fast immer im Irrtum, da es eine Ideologie und keine Erkenntnis ist …
Sehr tapfer, aber eine Revolution kann sich nicht mit den Unterdrückern arrangieren und sie auch nicht schonen, denn sie werden sich neu formieren. Es ist nur eine Frage der Zeit, die immer gegen den Aufstand arbeitet. Selbst heute müssen wir uns fragen, ob die friedliche Revolution nicht letztlich doch genau daran scheitert, denn die alten Seilschaften haben sich inzwischen erholt und neue Netzwerke etabliert.
Keine Erwähnung, dass die DDR die Diktatur der SED war. Und nicht vergessen, dass die SED jetzt „Die Linke“ heisst. Sie haben völlig Recht. Namen von Todesopfern oder Teilnehmern am Aufstand des 17. Juni sind zumindest in den alten Bundesländern nicht bekannt. Und wie D zur „DRR“ steht, zeigt der Vergleich nur der Überschriften auf Wiki „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ zu „Opposition und Widerstand in der DDR“. Die Verharmlosung der SED-DDR-Diktatur und das Vertuschen, dass es Widerstand gegen den Sozialismus war. Denn im Gegensatz zu National-Sozialismus ist der andere Sozialismus ohne die Beschränkung auf eine Nation immer noch „hipp“. Nationalsozialismus… Mehr
Ein Mensch, vor dem man den Hut ziehen kann. Ganz anders, als die heutigen Maulhelden, die aus der „Masse der Guten“ heraus das Recht für sich in Anspruch nehmen Andersdenkende laufend zu be- und verbal zu verurteilen.
Schön, dass Tichys Einblick daran erinnert. Meine Kinder haben vom 17. Juni keine Ahnung mehr. Ich habe ihn noch gut als Feiertag in Westdeutschland in Erinnerung. Er müsste im Geschichtsunterricht in einer Liga mit 1848 und der Paulskirche stehen.
Bärbel Bohley: „Alle diese Untersuchungen“, sagte sie, „die gründliche Erforschung der Stasi-Strukturen, der Methoden, mit denen sie gearbeitet haben und immer noch arbeiten, all das wird in die falschen Hände geraten. Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen.“ Als wir verblüfft schwiegen, fuhr sie fort: „Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer auch nicht unbedingt verhaften. Es gibt feinere Möglichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die… Mehr
Sehr interessant das alles! Und heute ist noch nicht erreicht, was Othma erreichen wollte: direkte Demokratie.
In unserem angeblich demokratischen und freien Land werden provokanten Schreibtischtätern wie Karl Marx Denkmäler gesetzt. Aber die stillen Helden des Volkes wie jener Paul Othma oder auch der Schreiner Georg Elser, der Hitler beseitigen wollte um den 2. Weltkrieg zu verhindern, die sollten mehr geehrt werden, als Marx und Engels.
Ist irgendwo in diesem Land ein Platz, eine Straße nach Paul Othma benannt?
NEIN?
Aber nach dem Berufsverbrecher George Floyd in Berlin.
Ich habe schon nach 1990 nicht verstanden, warum man nicht den 17. Juni als Tag-der-Deutschen-Einheit beibehalten hat. Die alte BRD hatte ihn schon lange, und, das Datum hätte auch eine Seele für die ehemaligen DDR-Bürger. Der 3. Oktober wird wahrscheinlich nie diese historisch-emotionale Bedeutung bekommen.
Alle, auch in Deutschland, kennen den gewaltkriminellen, drogensüchtigen George Floyd.
Paul Othma und Wilhelm Fiebelkorn kennen nur wenige, viel zu wenige.
Danke, daß Sie, Herr Knabe, ihn kennen und an ihn erinnern. Viele andere werden das leider nicht tun.