Heute ist er ein gefragter Vortragredner, Coach und Autor. Seine Autobiographie wurde erfolgreich verfilmt – Hollywood interessiert sich für ein Remake. Dabei ist er nahezu blind. Ein neues Buch versammelt Portraits von Menschen, die es wie Saliya Kahawatte geschafft haben, trotz ihrer Behinderung ihren Weg außergewöhnlich erfolgreich zu meistern.
Du wirst es nicht schaffen!«, erklärte mir der Schulleiter des Gymnasiums in einem sehr ernsten Tonfall, setzte sich seine Brille wieder auf und überflog noch einmal das Attest der Augenklinik, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Mit deinem schweren Augenfehler kommst du hier nicht weiter, du musst sofort auf die Blindenschule wechseln und die Blindenschrift lernen.« Unsicher rutschte ich auf meinem Stuhl in dem kahlen, lieblos eingerichteten Direktorenbüro herum, ließ meine Blicke traurig zu Boden sinken und spürte, wie meine Mutter etwas zaghaft nach meiner rechten Hand griff. »Saliya, sei nicht traurig, du musst dich damit abfinden, dass du behindert bist und nun ein anderes Leben führen wirst.«
Ich erinnere mich noch sehr gut an diese dramatische Wendung in meinem jungen Leben, das ich davor eher sorglos und unbeschwert geführt hatte. Es war im Spätsommer des Jahres 1985, ich war 15 und gerade in die zehnte Klasse des Gymnasiums versetzt worden. Einige Wochen vor den großen Ferien wurde bei mir eine schwere Netzhautablösung diagnostiziert, die sich in einer hundertprozentigen Schwerbehinderung auswies. Der Großteil meines Sehvermögens war unwiederbringlich verlorengegangen. Seither sehe ich die Welt wie durch eine dicke Milchglasscheibe, alles ist nur noch grau und sehr verschwommen.
Ich folgte weder dem Rat der Augenärzte noch der Empfehlung der Schulbehörde – meine Entscheidung stand sehr schnell fest: »Ich will in der Welt der Sehenden bleiben und Karriere machen, koste es mich, was es wolle!« Schon nach wenigen Tagen setzte ich meinen Entschluss um und suchte fieberhaft nach einer neuen Möglichkeit, dem Unterricht irgendwie folgen zu können. »Wenn es mit deinen Augen nicht mehr geht, nimm doch deine Ohren zu Hilfe«, dachte ich mir und konzentrierte mich mit meinem Gehör voll auf die Worte des Lehrers.
Entgegen allen Befürchtungen verschlechterten sich meine Noten kaum, zur Mitte des Schuljahres trauten mir meine Lehrer den Verbleib auf dem gewöhnlichen Gymnasium zu. Mir wurde schon damals klar, dass ich meine Behinderung nur mit viel Fleiß und Disziplin ausgleichen könnte, um mit dem Unterrichtstempo schrittzuhalten. Ich erkannte früh, dass ich meine Zeit völlig anders einsetzen musste als meine Mitschüler: Während sie in die Disko gingen, ihren Führerschein machten oder ihre Freundin ausführten, saß ich allein an meinem Schreibtisch und kämpfte mich durch den immer anspruchsvoller werdenden Schulstoff.
Im Jahr 1989 schaffte ich das Abitur und war überglücklich. Ich hatte mein erstes Ziel erreicht. Leider war der Glücksmoment nur von kurzer Dauer. Einige Zeit später trennten sich meine Eltern; ich setzte alles daran, ganz schnell erwachsen zu werden. Um auf eigenen Beinen stehen zu können, bewarb ich mich auf freie Ausbildungsplätze in der Hotellerie und legte in allen Bewerbungen meine Behinderung offen. Obwohl ich gute Noten hatte, wurde ich zu keinem einzigen Vorstellungsgespräch eingeladen. Es war klar, dass die Arbeitgeber wegen des besonderen Kündigungsschutzes kein Interesse daran hatten, einen schwerbehinderten Jugendlichen einzustellen. Als ich das begriff, entschloss ich mich zu einem riskanten Manöver. In den folgenden Bewerbungen verschwieg ich mein Handicap und erhielt schon nach dem nächsten Vorstellungsgespräch einen Ausbildungsplatz zum Hotelfachmann in einem Fünf-Sterne-Hotel.
Wie zuvor auf dem Gymnasium, war ich fast ganz auf mich selbst gestellt. Mein einziger Verbündeter war der Wille, es irgendwie zu schaffen. Mit dem Beginn der Ausbildung begann meine »Mission Impossible«, mit getrübten Blicken machte ich mich auf die Suche nach geheimen, verborgenen Pfaden, die mich in der Welt der Sehenden ans Ziel führen würden.
Ich lernte Hunderte Artikelnummern auswendig, um die Bestellungen quasi »blind« in die Kasse einzutippen, und trainierte meinen Tastsinn, um Bestecke und Gläser korrekt auf den Tischen der Gäste platzieren zu können. Mit meinem feinen Gehör erkannte ich am Klang eines Glases, ob ich es auf Hochglanz poliert hatte, und mixte an der Bar exotische Cocktails, deren Rezepturen ich auswendig wusste und nach Gefühl in die Gläser einschenkte. Zum Glück hatte ich damals einen geheimen Helfer, ein Mit-Azubi wusste von meinem Handicap, behielt es für sich und unterstützte mich nach Leibeskräften, wenn mein Augenfehler aufzufliegen drohte. Nach dem Bestehen meiner Gesellenprüfung zog ich nach Hamburg. Wieder verschwieg ich meine Behinderung und setzte meine Laufbahn in der Luxus-Hotelellerie als Stationskellner fort.
Im Sommer 1994 eröffnete ich mit meiner damaligen Freundin ein gemeinsames Restaurant. Wir fuhren die Welt auf der Schubkarre, wie man in meiner Region sagt, und lebten sehr über unsere Verhältnisse. Es war eine tolle Zeit, an die ich mich sehr gerne erinnere. Doch wieder hielt das Leben eine schmerzliche Überraschung für mich bereit: Bei mir wurde Krebs diagnostiziert. Es folgte ein Jahr voller kräftezehrender Chemotherapien und Bestrahlungen.
Mittellos und vom Leben abgehängt, flog ich aus der Wohnung und landete auf der Straße, ich rutschte ab in eine schwere Depression. An einem kühlen, trüben Herbsttag stand ich vor einer Unterkunft für Wohnungslose und tastete gerade mit meinen Blicken den Himmel ab, als die Sonne in kräftigen Gelbtönen durch die Wolken brach. Ich spürte die angenehm warmen Strahlen auf meiner Haut, hatte plötzlich einen Geistesblitz und sprach entschlossen mit mir selbst. »Hey, erinnere dich mal an deinen Plan, es wird höchste Zeit weiterzugehen!« Wieder verschwieg ich meine Behinderung und schaffte den Einstieg in die Top-Hotellerie. Ich wurde Barkeeper, Weinkellner und eines Tages sogar Oberkellner.
Jeden Tag überforderte ich mich aufs Neue, ich führte ein Leben auf Lügen und auf tausend Splittern. Ich spielte die Rolle des Sehenden, ohne zu erkennen, dass ich schon längst keinen Durchblick mehr hatte. Mit den vielen Führungsaufgaben wurde ich zunehmend ängstlicher, immer häufiger überkamen mich heftige Selbstzweifel, die mit scharfem, gezacktem Blatt am Sockel meiner Persönlichkeit sägten.
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Immer wieder betäubte ich mich mit Alkohol und Medikamenten, tagsüber putschte ich mich mit billigen Drogen auf, um meinen Aufgaben weiterhin gewachsen zu sein.
Als ich schließlich Restaurantleiter wurde, musste ich Dienstpläne schreiben, Computerkassen programmieren und die Berichtshefte der Auszubildenden kontrollieren. Dieses Mal hatte ich zu hoch gepokert, das Eis des Lügens unter meinen Füßen schmolz dahin, ich brach komplett ein. Ich verlor meinen Job, saß nur noch zu Hause, fühlte mich nutzlos und verloren. Mein Alkoholkonsum stieg ins Unermessliche, schon bald erreichte ich den Tiefpunkt meiner Suchtkarriere, ich gab mich komplett auf.
Nach zahlreichen Suizidversuchen kam ich für mehrere Monate in die geschlossene Psychiatrie und machte anschließend eine Langzeittherapie. Mir wurde klar, dass ich mein bisheriges Handeln zunächst kritisch hinterfragen müsste, bevor ich einen Neustart meines Lebens planen könnte.
An einem kalten, verregneten Märzabend trottete ich allein durch den Park hinter dem Therapiehaus und redete unentwegt mit mir selbst. Obwohl der Regen immer dichter wurde, ging ich einfach weiter, bis ich irgendwann völlig durchnässt stehenblieb, meine Fäuste in den dunklen Himmel streckte und schrie: »Du musst deine Behinderung endlich akzeptieren!« Weinend sackte ich auf einer Holzbank unter einer Laterne zusammen und starrte in eine Pfütze. Ich fasste einen Entschluss: »Dein Lügenspiel hat dich hierhergeführt, ab jetzt gehst du offen mit deinem Handicap um!«
Nach der Therapie arbeitete ich in einer Behindertenwerkstatt und besuchte die Hamburger Blindenschule, hier wurde ich mit einer Spezialsoftware am PC ausgebildet. Schon bald konnte ich selbstständig E-Mails schreiben und im Netz surfen, ich wollte raus aus der Behindertenwerkstatt und suchte nach einer neuen Herausforderung.
Obwohl ich von Hartz IV lebte, kein Startkapital hatte und die Wirtschaft schon bald darauf unter der Finanzkrise ächzte, ging ich mit meinem »Bauchladen« selbstbewusst in den Markt. Ich wollte mein Glück als Schriftsteller, Coach und Berater versuchen. Das erste Jahr meiner Selbstständigkeit war die reinste Katastrophe, ich übte mich in Kaltakquise und fand keinen einzigen Kunden. In jedem Geschäftstermin hörte ich immer das Gleiche: »Wo sind denn Ihre Referenzkunden, wo sind Ihre Büroräume und wo ist eigentlich Ihre Homepage?« Ich hatte nichts, einfach gar nichts, manchmal war ich niedergeschlagen, aber ich dachte niemals daran, aufzugeben.
Trotz der zahllosen Rückschläge begann ich, meine Lebenserfahrungen niederzuschreiben, kontaktierte unzählige Verlage – und bekam nur Absagen. Als ich meine Story ein sechstes Mal neu verfasst hatte, wurde ich endlich belohnt, im Herbst 2009 präsentierte ich meine Autobiografie »Mein Blind Date mit dem Leben« auf der Frankfurter Buchmesse. Es folgten unzählige Medienauftritte, meine Bekanntheit kurbelte mein Geschäft an, schon bald mietete ich ein kleines Büro an und stellte erste Mitarbeiter ein. Immer wieder wurde ich von Firmen angefragt, um meine Story vor Publikum zu erzählen. Ich griff auf eine alte Lerntechnik zurück: Da ich einen Text nicht einfach ablesen kann, schrieb ich meine Reden zuerst auf und ließ sie mir dann von der Sprachausgabe so lange vorlesen, bis ich sie auswendig vortragen konnte.
Im Jahre 2017 kam meine Lebensgeschichte als Film in die deutschen Kinos, schnell ging meine außergewöhnliche Story um die Welt. Selbst Hollywood hat schon angeklopft und sich die Rechte an meinem Leben gesichert. Heute bin ich Autor, Coach und Keynote Speaker, aktuell arbeite ich an einem Roman und der Fortsetzung des ersten Kinofilms. Mit meinem Team bin ich mittlerweile weltweit unterwegs, ich denke, Sie erlauben mir ein sehr persönliches Statement: »Mit der Kraft meines Willens habe ich es geschafft, in der Welt der Sehenden Karriere zu machen, mein Teenager-Plan ist aufgegangen!« Wenn ich mein bisheriges Leben wie ein Vogel überfliege, um es von oben zu betrachten, gelange ich zu einer ungewöhnlichen Erkenntnis: Es waren meine vermeintlichen Defizite, aus denen ich das entwickelte, was mich heute ausmacht!
Gekürzte Fassung des Vorworts von Saliya Kahawatte, Autor, Coach und Keynote Speaker, aus:
Rainer Zitelmann, Ich will. Was wir von erfolgreichen Menschen mit Behinderung lernen können. FBV, 384 Seiten, 25,00 €.
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Wie mehrere Kommentatoren schon schrieben: „Der ‚Schutz“ ist das Problem!“ Zumindest bei Denen die wirklich W O L L E N. Leider aber gibt es eine verdammt große Mehrheit von weniger Willenstarken die sich lieber ins „weiche Kissen des Sozialstaats“ fallen lassen. Schon längst – und nicht selten sogar DREIST – und lieber sogar immer mehr von ANDEREN fordert als sich SELBST zusammen zu reißen. Und das Beste aus ihrem Problem/Leben zu machen. (Dabei nicht zu vergessen all die „beflissenen Sozial-Industrie“ die A) sich selbst und ihr Tun für die Krönung der Menschlichkeit“ hält und B) durch zum großen Teil… Mehr
Bewundernswert, aber wenn man genauer hinschaut, ist der hier vorgestellte behinderte Leistungswillige nur durch die Stigmatisierung durch die vermeintlichen Gutmenschen (nahezu absolute Unkündbarkeit schwerbehinderter Mitarbeiter) in die misslichen Lagen geraten. Würde er gleichbehandelt und nicht „geschützt“, hätte er es immer noch schwerer als seine nichtbehinderten Wettbewerber, aber seine Stellensuche wäre nicht aussichtslos gewesen. Als Arbeitgeber haben Sie praktisch keine Chance einen arbeitsunwilligen Behinderten – ja, die gibt es auch – jemals wieder zu kündigen, vorher gehen sie pleite.
Ein gewaltiges Problem sind wie erwähnt die „Schutzvorschriften“, die für „Behinderte“ eingeführt wurden, und überwiegend davor schützen, eine Arbeitsstelle zu bekommen. Kenne ich von meinem Bruder, bei dem ist es genauso.
Man möge es mir nachsehen, aber an dieser Stelle war für mich Schluß.
Sie werden es nicht glauben, aber ich kenne jemanden, der hört in Farben. Er ist ein Komponist, übrigens. Und Beethoven komponierte quasi taub seine größten Werke. Ich selbst bin mit der Gabe eines fast absoluten Gehörs gesegnet. Wobei „gesegnet“ nicht ganz korrekt ist – bei etwas komplizierteren Chorwerken, die „mal eben“ einen Halbton oder ein paar Ganztöne höher oder tiefer gesungen werden, kommt es vor, dass ich völlig hilflos bin und nicht mehr weiß, wie es weitergeht. Und mit diesem Hintergrund halte ich die Schilderung von jemandem, der am Klang eines Glases dessen Sauberkeitsgrad erkennt nicht für völlig abwegig.
Wow, was für ein tapferer Kämpfer, der sich so trotz Behinderung und Krebserkrankung, trotz aller Krisen und Verluste, es immer wieder geschafft hat aufzustehen. Chapeau, mein allerhöchsten Respekt!