Ein Gespenst geht um in Deutschland – grummelnder Antikapitalismus und die Furcht, alle Lebensbereiche würden ökonomisiert.
Von dem zu früh verstorbenen Feuilletonisten Frank Schirrmacher stammt die Formel vom „Primat des Ökonomischen“, das Deutschland beherrsche. Seither ist ein gepflegter Antikapitalismus en vogue; gewarnt wird vor dem „Durchmarsch der Marktradikalen“ und ihrem „Versuch, wirklich alle Lebensbereiche ökonomisch zu verwerten“. Es ist die bekannte Melodie, seit Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest schrieben, dass dieser Kapitalismus „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig lasse als das nackte Interesse, als die gefühllose ,bare Zahlung‘“. Selbst dem „Familienverhältnis werde sein rührend-sentimentaler Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt“. Dominiert das ökonomische Denken die Moral, wird nur noch kalkuliert, auch in den heiligsten Bezirken der Profit maximiert?
Die neue Art spätmarxistischer Gesellschaftskritik hat mitgeholfen, dass ein ganz anderer Trend das Land beherrscht: die gedankenlose Entökonomisierung staatlichen Handelns.
Mit ihrer Rentenreform hat die faktisch sozialdemokratisch geführte Bundesregierung gerade sämtliche Gewissheiten in den Mülleimer getreten, wie die, die da lauteten: Die Chose ist nicht finanzierbar; schon in zwei Jahren läuft aus dem Ruder, was den Menschen über Jahrzehnte ihrer Lebensplanung eigentlich Verlässlichkeit vermitteln sollte. Aber es ist halt angeblich „gerecht“. Schade nur, dass dies zukünftig Menschen völlig ungerechterweise bezahlen müssen. Schlimmer noch als die absehbaren Finanzlöcher, die dann irgendwie gestopft werden müssen, ist aber, dass eine Fata Morgana der Machbarkeit vermittelt wird, die über die böse Zukunft hinwegtäuscht: längeres, sehr viel längeres Arbeiten für weniger Rente, statt einer abschlagsfreien Rente mit 63. So wird in immer neuen Bereichen staatliches Handeln ohne Rücksicht auf die dafür notwendigen Ressourcen durchgesetzt. Die Energiepolitik löste eine Kostenexplosion und großflächige Naturzerstörung aus. Beim Mindestlohn wird schnell von menschenwürdiger Bezahlung und von Hungerlöhnen gefaselt, die unter 8,50 Euro beginnen. Aber wenn es sie nun doch nicht gibt, die Millionen von gut bezahlten Jobs für gering Qualifizierte? Was dann? Der regierungsamtliche Zynismus zeigt sich entfesselt, wenn man das Aus für Unternehmen, die nur weniger bezahlen, geradezu erzwingen will. Schön, aber was machen dann die Mindestlohn-Arbeitslosen? Ist subventionierte Arbeitslosigkeit wirklich besser statt zugegebenermaßen mickrig bezahlte Teilhabe und Aufstockung? Wünsche können nicht ohne Rücksicht auf Ressourcen und Konsequenzen verordnet werden – sie müssen erst einmal verdient werden.
Rot-grüner Fleischmarkt
Wer aber ein gut gemeintes Projekt nach dem anderen durchzieht, ohne die Konsequenzen zu beachten, dem geht es wie der früheren rot-grünen Regierung. Sie hat aus der ehemals geächteten Prostitution ein „Normalarbeitsverhältnis“ mit Sozialversicherungspflicht gemacht. Befreit von jeder Repression wie sonst nur eine Flickschusterei, hat die nackte Normalarbeit begonnen, alle Wohnviertel zu durchziehen, und aus Deutschland den Flatrate-Puff Europas gemacht, der Busse von Sextouristen aller Länder anzieht: Erst wurde ein lukrativer Fleischmarkt geschaffen, und jetzt wundert
man sich, dass er funktioniert.
Moralische Argumentationen ohne ökonomische Analyse der Kosten, des Ressourcenverbrauchs und der unerwünschten Begleiterscheinungen sind zutiefst amoralisch. Inklusion ist der jüngste Versuch, der Gutes will und Böses schafft: Behinderte Kinder in überfüllten Klassen ohne Betreuer und behindertengerechten Schulumbau verschlechtert die Lage aller – der Behinderten wie der Nichtbehinderten. Warum tun wir unseren Kindern das an?
Nicht weniger Ökonomisierung braucht Deutschland, sondern dringend mehr davon. Denn früher als erwartet rächt sich Ignoranz – die Gesetze der Ökonomie sind unerbittlich.
(Erschienen auf Wiwo.de am 21.06.2014)
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