Kein Gesetz verbietet Politikern, die Unwahrheit zu sagen. Insofern sagt die öffentliche Debatte im Fall Hinz mehr über unseren eigenen Zustand als über die Betroffene selbst aus.
Petra Hinz ist bockig. Warum auch nicht. Als im Juli bekannt wurde, dass sie ihren Lebenslauf gefälscht hatte, kündigte sie in einer ersten Panikreaktion ihren umgehenden Abschied vom Bundestagsmandat an. Seitdem ist sie still geworden – und der angekündigte Rückzug blieb bislang auch aus.
Dafür gerät nun die SPD, für die Hinz dreimal in den Deutschen Bundestag eingezogen ist, in Panik. Den Makel, dem Bürger eine „Betrügerin“ präsentiert zu haben, selbst auf jemanden hereingefallen zu sein, der seinen Lebenslauf bedeutungsvoller gefärbt hat, möchte die Partei mit einem schnellen Rückzug der Betroffenen zumindest halbwegs auswetzen. Und den Fauxpax dann möglichst schnell vergessen machen.
Niemand kann Hinz zum Rücktritt zwingen
Eine Handhabe hat die SPD nicht. Niemand kann Hinz dazu zwingen, ihr Mandat niederzulegen. Und warum sollte sie das tun? Nur weil sie, nachdem sie zweimal hintereinander mit der Mehrheit der Wählerstimmen im Wahlkreis Essen III als Direktkandidatin in den Bundestag einzog, beim dritten Anlauf auf die Landesliste der Partei angewiesen war?
Das deutsche Abgeordnetengesetz ist eindeutig: Gewählt ist gewählt. Davon, dass Bewerber für politische Mandate nicht die Unwahrheit sagen dürfen, steht im Gesetz nicht drin. Aus guten Gründen – denn dann müsste vermutlich ein Großteil der Abgeordneten um sein Mandat fürchten. Selbst die Tatsache, dass Hinz ihren Lebenslauf gefälscht hat, böte bestenfalls die Handhabe, ihr die Abgeordneten-Immunität zu entziehen – und das auch nur dann, wenn staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen sie anstünden.
Strafrechtlich gegen Hinz vorgehen?
Doch auch da wird es schwierig. Man könnte an Urkundenfälschung denken – doch das wäre nach §267 Strafgesetzbuch nur dann zu verfolgen, wenn Hinz gefälschte Dokumente über ihren Werdegang vorgelegt haben sollte. Das aber ist nach Stand der Dinge nicht der Fall. Außerdem: Auch die Ikone der Sozialdemokratie, Willy Brandt, hieß eigentlich Herbert Ernst Karl Frahm. Seiner politischen Karriere tat die Korrektur der Vita ebensowenig einen Abbruch wie seinen Leistungen als Politiker.
Wie wäre es also mit Hochstapelei? Hinz als Felix Krull der Sozialdemokratie? §132a StGB beschreibt dieses Delikt als „Missbrauch von Titeln, Berufsbezeichnungen oder Abzeichen“. Hierunter fallen auch akademische Grade – womit die Dame also in die Verantwortung zu nehmen wäre.
Allerdings sieht das deutsche Strafrecht dafür lediglich eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe vor. Eher also eine Bagatelle – und da die Abgeordnete bislang nicht straffällig geworden war und kein materieller Schaden entstanden ist, dürfte das Gericht gnädig sein.
Kein materieller Schaden?
Höre ich gerade einen Aufschrei? Kein Schaden? Hat sie nicht den Steuerzahler über Jahre um die Diät und all die netten Zusatzeinkünfte eines Abgeordneten betrogen?
Tatsächlich ist das derzeit der Tenor der Berichterstattung. Sehr wirklichkeitsnah allerdings ist das nicht. Denn tatsächlich ist dem Bürger kein materieller Schaden entstanden. Wäre nicht Hinz in den Bundestag gezogen, hätte ein anderer diesen Platz besetzt. Und dann hätte eben jener das Geld bekommen.
Insofern mag es vielleicht einen ideellen Schaden geben – aber keinen materiellen. Und ideelle Schäden sind nur schwerlich einklagbar.
Bestenfalls ein Geschädigter
In ihren ersten beiden Legislaturperioden wurde Hinz vom Wähler als Direktkandidatin entsandt. Da könnte also bestenfalls ein bei einer Kampfabstimmung um die Kandidatur unterlegener Bewerber einen persönlichen, materiellen Schaden herleiten. Ob es einen solchen gab, weiß vermutlich nur noch ein möglicherweise Betroffener – und die Sitzungsprotokolle in den Archiven der Landeswahlleitung. Nicht selten allerdings erfolgt die parteiinterne Nominierung für das Direktmandat ohne Gegenkandidat. Sollte das auch hier der Fall gewesen sein, hat Hinz dahingehend nichts zu befürchten. Auch wäre im Ernstfall zu klären, ob sie wegen ihres gefakten Lebenslaufes die Abstimmung gewonnen hatte. Das dürfte nach nunmehr elf bzw. sieben Jahren kaum noch möglich sein – und in den Protokollen steht es ohnehin nicht.
Eine kleine Chance auf eine erfolgreiche Klage hätte vielleicht gerade noch derjenige Genosse und Mitbewerber, der im partei-internen Aufstellungsverfahren zur Landesliste auf einem Platz gelandet war, der wegen des Einzugs der Abgeordneten über die Landesliste nicht zum Zuge kam. Hier wäre ein persönlicher Schaden zu konstruieren – aber selbst dann wäre zu klären, welche unmittelbare Relevanz der falsche Lebenslauf auf ihre Nominierung und Platzierung hatte. Sollte sie sich beispielsweise beim Nominierungsparteitag nur mit Hinweis auf ihre langjährige Parteizugehörigkeit und ihre Bundestagstätigkeit beworben haben, wäre es schon schwierig. Sollte – wie ebenfalls nicht unüblich – die Einzelvorstellung der Bewerber überhaupt nicht erfolgt sein, dann sähe es für den Klagenden richtig schlecht aus. Denn der Abgeordneten wäre nachzuweisen, dass es diese Mogelei gewesen ist, die den Schaden verursacht hat.
Immunität aufheben oder nicht?
Aber – könnte der Zivilkläger einfach so seine Klage bei Gericht einreichen? Müsste nicht erst die Immunität der Abgeordneten aufgehoben werden?
Tatsächlich sind die Regelungen hierfür recht eindeutig.
Die Staatsanwaltschaft hätte ihre Möglichkeiten mit besagtem §132a erschöpft. Und vor dem Verfahren stünde der Entzug der Abgeordneten-Immunität. Den entsprechenden Antrag könnte die zuständige Staatsanwaltschaft beim Bundestagspräsidenten stellen. Das allerdings setzt voraus, dass sie der Angelegenheit so viel Gewicht beimisst, dass sie Ermittlungen auf Grundlage des §132a StGB einleitet – oder bei ihr ein entsprechender Strafantrag eingeht und die Staatsanwaltschaft diesen für ermittlungsrelevant hält. Unterstellt, der Bundestag entspräche einem Antrag auf Aufhebung der Immunität – was anzunehmen ist, so dieser in das Plenum eingebracht würde – dann wäre Hinz trotzdem immer noch Abgeordnete. Daran änderte sich selbst dann nichts, wenn es zu einer Verurteilung kommen sollte.
Anders stellt es sich für einen möglichen Zivilkläger als unmittelbar durch den Vita-Fake Geschädigtem dar. Zivilverfahren fallen nicht unter die Immunität des Abgeordneten. Eine entsprechende Zivilklage könnte – unabhängig von ihrem Ausgang – auf den Weg gebracht werden. Auf das Mandat der Beklagten hätte dieses aber keinerlei Auswirkung.
Erst drei Entzüge des Mandats
Einem gewählten Abgeordneten sein Mandat zu entziehen, ist kaum möglich. In der Geschichte der Bundesrepublik ist das bislang erst dreimal gelungen.
Am 23. Oktober 1952 wurde Fritz Dorls von der Sozialistischen Reichspartei (SRP) das Mandat aberkannt. Grund: Seine Partei wurde vom Bundesverfassungsgericht als verfassungsfeindlich verboten – die Mandate der Partei gestrichen.
Am 1. Juli 1953 wurde dem FDP-Abgeordneten Hans-Paul Jaeger sein Mandat entzogen. Grund: Er war als Nachrücker für einen verstorbenen Abgeordneten in das Parlament eingezogen, hatte dabei jedoch den regulären Nachrücker übersprungen, weil jener zwischenzeitlich aus dem Gebiet der Bundesrepublik nach Berlin (West) verzogen war und – so die Auffassung der zuständigen Stellen – er deshalb sein passives Wahlrecht verloren habe. Der übergangene Neu-Berliner klagte – das Bundesverfassungsgericht gab ihm recht, da Berlin (West) zum Bundesgebiet gehöre. Zur Ausführung kam die Aberkennung nicht mehr – die Legislaturperiode war zwischenzeitlich durch reguläre Wahlen abgeschlossen gewesen.
Am 23. Februar 1956 musste Karlfranz Schmidt-Wittmack sein Mandat abgeben. Grund: Der frühere CDU-Abgeordnete hatte seinen Wohnsitz in die DDR verlegt. Bundestag und Bundesverfassungsgericht stellten daraufhin den Wegfall der Wählbarkeit fest.
Extrem hohe Hürden
Diese drei Fälle machen deutlich: Die Hürde, einem gewählten Abgeordneten sein Mandat zu entziehen, liegen extrem hoch. Eine Unwahrheit im Lebenslauf dürfte dafür kaum ausreichen, denn
- Der Erwerb der Mitgliedschaft des Abgeordneten im Parlament muss ungültig sein. Das wäre aber nur dann der Fall, wenn bei der Stimmauszählung betrogen worden oder Hinz beispielsweise nicht Deutsche wäre.
- Bei einer Neuauszählung der Wählerstimmen hätte sich ein Ergebnis offenbaren müssen, das den Einzug in das Parlament nicht zulässt. Zwar wurde bei der Hinz-Wahl 2013 eine Neuauszählung veranlasst, weil ihr Unions-Gegenkandidat nur drei Stimmen mehr als die SPD-Bewerberin erhalten hatte – diese Auszählung brachte einen Unions-Vorsprung von 93 Stimmen. Für den nun greifenden Einzug der Abgeordneten über die Landesliste hatte dieses keine Relevanz.
- Die Voraussetzungen zur Wählbarkeit müssen weggefallen sein. Das aber ist beim „Mogeln“ am Lebenslauf nicht der Fall.
- Die Partei, für die der Abgeordnete in den Bundestag ein gezogen ist, muss vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt werden. Das ist nun bei der SPD kaum zu erwarten.
Hinz kann sich zurücklehnen
Hinz kann sich also entspannt zurücklehnen. Es wird kaum eine Möglichkeit geben, sie zum Rückzug zu zwingen. Selbstverständlich: Die Essener SPD kann ein Parteiausschlussverfahren gegen sie einleiten – und wird dieses voraussichtlich tun. Die SPD-Bundestagsabgeordneten können sie aus der Fraktion werfen. Auch das wird vermutlich geschehen. Dann wird Hinz künftig als Partei- und Fraktionslose in der letzten Reihe des Plenums sitzen – falls sie überhaupt noch jemals das Hohe Haus betritt.
Denn auch die permanente Abwesenheit wäre noch kein Grund, ihr das Mandat zu entziehen. Es würden lediglich pro geschwänztem Sitzungstag 200 Euro von der Diät einbehalten werden. Sollte sie allerdings die Arbeitsunfähigkeit nachweisen – spätestens ein gut geschulter Psychiater sollte angesichts des öffentlichen Drucks in der Lage sein, ihr eine solche längerfristig zu attestieren – verringert sich der Abzug auf 20 Euro je Sitzungstag. Da nun aber gleichzeitig die obligatorischen Abgaben an die Partei entfallen, wird sich der Verlust in überschaubaren Grenzen halten – und gelingt es Hinz, sich krankschreiben zu lassen, kann sich das Prozedere sogar zu einem finanziellen Vorteil für sie auswirken.
Ziemlich genau zehn Jahre sind zu überbrücken
Da Hinz nun ohnehin karrieretechnisch nichts mehr zu erwarten hat, kann sie getrost nach dem klassischen Spruch verfahren: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt’s sich gänzlich ungeniert“. Will sagen: Die Abgeordnetentätigkeit krankgeschrieben bis zur Neuwahl aussitzen und weiterhin Diäten kassieren. Solange sie ihre Büros unterhält und Mitarbeiter beschäftigt, dürfte selbst der Entzug der Aufwandsentschädigungen kaum durchzusetzen sein. Rechtliche Handhaben gibt es keine.
Das gilt dann auch über die reguläre Mandatszeit hinaus. Laut §18 Abgeordnetengesetz hat sie für jedes Jahr Abgeordnetentätigkeit Anspruch auf eine volle Diät Übergangsgeld. Macht bei den dann 14 Berliner Jahren eben auch 14 Diäten oder rund eine Achtelmillion Euro. Sie darf nur in diesen vierzehn Monaten nach Ausscheiden aus dem Parlament keine andere bezahlte Tätigkeit aufnehmen, denn die Einkünfte daraus würde gegen das Übergangsgeld verrechnet.
Auch die Altersansprüche der 1962 geborenen Hinz werden ihr kaum abzuerkennen sein. Spätestens kurz vor ihrem 67. Lebensjahr hat Hinz Anspruch auf „Altersentschädigung“. Diese liegt bei höchstens 65 % der Höhe der Diät – bei einer Diät von derzeit 9082 Euro sollte davon dennoch ein auskömmliches Alter abgesichert sein. Folglich muss Hinz nur noch einen Zeitraum von rund zehn Jahren – zwischen Frühjahr 2019 und Anfang 2029 – überbrücken.
Den Schaden hat die SPD
Fassen wir zusammen: Die Umschreibung des Lebenslaufs mag zwar von jedem ehrbaren Bürger zutiefst verabscheut werden – die Folgen dieses Handelns werden sich für die Abgeordnete jedoch in überschaubaren Grenzen halten. Das Faken wäre tatsächlich nur dadurch abzustrafen, dass die Partei sie nicht erneut aufstellt – oder die Wähler ihr bei einer erneuten Bewerbung die Unterstützung entziehen. Insofern ist davon auszugehen, dass die politische Karriere der Petra Hinz im kommenden Jahr endet. Es sei denn, es gelänge ihr, bei einer anderen Partei als der SPD unterzuschlüpfen – was wenig wahrscheinlich ist.
Den Schaden hat vorrangig die SPD, die sich in dieser Frage wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen verhält. Doch auch hier sollte der gnädige Beobachter ein wenig Gnade walten lassen. Ein eloquentes Auftreten der Genossin, das Schielen auf die unvermeidliche Frauenquote und die vermeintliche Sicherheit eines traditionell sozialdemokratischen Wahlkreises hätten die Erwartung auf Vorlage der Zeugnisse und Diplome wie einen Misstrauensantrag wirken lassen – und welcher Parteiobere möchte sich schon die Blöße geben, den Eindruck zu erwecken, seinen wichtigsten Mitstreitern und Bundestagskandidaten zu misstrauen?
Wen trifft das Versagen?
Liegt das Versagen also beim Bundestagspräsidium? Nein. Denn dieses könnte zwar theoretisch die Angaben der Abgeordneten zur Person prüfen – doch muss es davon ausgehen, dass die durch die regional zuständigen Wahlbehörden zugelassenen Bewerber rechtens angetreten sind. Was übrigens auch so ist und sogar dann gilt, wenn auf dem Wahlzettel ein unzutreffende Berufsangabe gestanden haben sollte. Denn – wie gesagt – es gibt keine Rechtspflicht für Mandatsbewerber und Abgeordnete, dem Wähler oder sonst jemandem die Wahrheit zu sagen. Und die Prüfbarkeit der Wählbarkeit reduziert sich aus gutem Grunde auf formale Kriterien. (Man stelle sich nur einmal vor, ein Dauerarbeitsloser käme als auf dem Wahlzettel ausgewiesener „Unternehmer“ oder „Rechtsanwalt“, der sein Leben lang nur Politik gemacht und nie praktiziert hat, als „Freiberufler“ in den Bundestag – würde das die Wahl des Bewerbers ungültig machen? Wohl kaum.)
Nein – um diesen kurzen Hauch von Zynismus abzuschließen: Unser politisches System wird auch weiterhin mit den kleinen und großen Hochstaplern leben müssen. Manche werden damit unbeschadet durchkommen – ein paar wenige werden auffliegen und damit dem Ruf ihrer Kaste in der Öffentlichkeit Schaden zufügen.
Das Strampeln in der Sahne
So ist gut nachvollziehbar, dass sich in dieser Angelegenheit die Vertreter der aktuell nicht betroffenen Parteien freundlich zurückhalten. Denn auch ihnen kann ein solcher Fauxpax unterlaufen – und sie alle wissen, dass es ihren Parteien, wenn auch nicht so prominent, zigmal selbst passiert ist. Das Geschnatter, mit dem sich die SPD im Moment mit medialer Unterstützung in dieser Angelegenheit hochfährt, erinnert insofern durchaus an jenes beliebte „Haltet-den-Dieb“-Geschrei. Doch stecken die Weiterungen jener mit dem aktuellen Fall kaum zu vergleichenden „Affäre Edathy“ den Sozialdemokraten noch zu tief in den Knochen, um mit sachgerechter und ruhiger Aufklärung das Missgeschick abzuwickeln. So geht es nun wieder einmal darum, alle Finger von sich und auf andere zu weisen. „Ultimaten“, wie sie die Essener SPD derzeit stellt, sind dabei ebenso lächerlich und wenig hilfreich wie Forderungen, Parteichef Gabriel möge ein „Machtwort“ sprechen.
Ihnen allen geht es dabei wie jenem Frosch in der Sahne: Sie würden so gern aus dem Topf, in den sie so unerwartet gefallen sind, herauskommen – und deshalb strampeln sie in der Hoffnung, dass die zähflüssige Masse rechtzeitig zu Butter wird. Darüber, dass sie dann bis zum Hals in hartem Streichfett stecken könnten, wird dabei besser gar nicht erst nachgedacht.
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