Die Süddeutsche Zeitung macht der Titanic Konkurrenz

Ein Artikel von Thomas Brussig über Corona in der Süddeutschen Zeitung ist so gute Satire, dass viele, auch die Redakteure der SZ, das nicht bemerkt haben.

Getty Images | Screenprint: SZ

Vielleicht erinnern Sie sich, Thomas Brussig erfreute sich Anfang der Neunziger einer gewissen Bekanntheit. Er hatte zwei Romane über die DDR verfasst. In den beiden Werken stellte er die Ossis, als sie gerade noch und fast schon nicht mehr DDR-Bürger waren, dar wie weiland Karl May den Sam Hawkens oder Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah. Der so karikierte „Ossi“ bestärkte den „Wessi“ in seinem Bild vom „Ossi“ und dem „Ossiland“ und einige „Super-Ossis“, die schon immer am liebsten über die „Normalo-Ossis“ lachten, amüsierten sich wie Bolle.

Nun wagt sich Thomas Brussig wieder an einen satirischen Text, diesmal in der Süddeutschen Zeitung, dem er wohl den Titel „Corona-Helden wie wir“ geben wollte, aber der wahrscheinlich von der Redaktion die Überschrift: „Mehr Diktatur wagen“ verpasst bekam. Zumindest zeigt die Zeitung Haltung, denn sie stellt mit dem Titel klar, dass wir ihrer Ansicht nach bereits in einer Diktatur leben, denn wovon man mehr haben will, davon muss man etwas – wenngleich zu wenig – besitzen. Doch das bisschen Diktatur macht die Süddeutsche offenbar noch nicht glücklich. In Fragen der Diktatur darf man nicht kleckern, da muss man klotzen. Schließlich kann man „einem Ausnahmezustand“ nur „mit Ausnahmeregeln beikommen.“ Nun ist es eine leicht zu belegende Tatsache, dass Diktaturen im Umgang mit Katastrophen in der Regel schlechter abschneiden als Demokratien. Aber natürlich lässt sich die Vorstellung vom Tausendsassa, der sagt, wo es lang geht und die Welt wieder in Ordnung bringt, nicht aus den Köpfen der Menschen jagen.

— Süddeutsche Zeitung (@SZ) February 9, 2021

Offen gestanden neige ich zu der Ansicht, dass Brussigs Corona-Text gekonnte Satire ist, so gut, dass viele, auch die Redakteure der Süddeutschen Zeitung das nicht bemerkt haben. Wie in jeder guten Satire greift Brussig zunächst in den tiefen, dunklen Sack der Mythen und holt von ganz tief unten, von der Mutante des untersten aller Unterbewusstseins die Ohnmachtserfahrung, als die er die Corona-Krise wahrnimmt. Diese „coronabedingte Ohnmachtserfahrung“ stammt daher, dass wir die Corona-Krise „mit den Mitteln der Demokratie bewältigen müssen“. Die Demokratie trägt zwar ein hübsches Sommerkleid, ist aber für ernsthafte Arbeit nicht zu gebrauchen.

Das ist eine so wunderbar ironische Wendung, da steht die arme kleine Demokratie, nennen wir sie David, und muss mit ihren Mitteln, also mit einer Steinschleuder, die große Pandemie, die folglich den Namen Goliath-19 trägt, besiegen. Dem kleinen David vermag in dieser Situation nicht Gott, sondern nur etwas viel größeres als Gott, der große Sigmund Freude zu bereiten, denn der hatte zwar keine Ohnmachtserfahrungen ausgemacht, aber dafür drei Kränkungen ersonnen. Die drei Kränkungen, zumindest zwei davon, zog der große Sigmund aus der Tombola, die dritte gab ihm Es ein, die ersten beiden Kränkungen des Menschen bestünden im Kopernikanischen Weltbild – Sie erinnern sich, die Sache mit der Sonne –, die zweite im Darwinismus, die den Menschen das Schimpfwort: „Du Affe“ bescherte.

Der große Sigmund hätte auch auf seinen Zeitgenossen Carl Sternheim hören können und als Kränkungen die Relativitätstheorie, die moderne Arbeiterbewegung und das Verbot der Duelle anführen können. Die Relativitätstheorie sagt, dass alles relativ ist und man sich an nichts mehr halten kann, weder an den großen Sigmund, noch an den Doktor Drosten, die Arbeiterbewegung führt zur Vermassung der Politik, also einem zu großen Bundestag, und das Verbot der Duelle dazu, dass alle reden können, was ihnen in den Kopf und auf die Zunge kommt, da sie für das Gesagte nicht mehr mit ihrem Leben einstehen müssen. Gut, der letzte Punkt wurde durch die Einführung der Cancel Culture behoben. Mit seiner dritten Kränkung dachte der große Sigmund dann doch etwas zu groß von sich, denn als die sah er seine Psychoanalyse an. Im Grunde der klassische Vorgang der Sublimation einer als zu klein empfundenen Bedeutung.

Doch Thomas Brussig treibt die Freud-Satire auf die Spitze, denn er parodiert die drei Kränkungen der Menschheit des Meisters, indem er sie als die drei Kränkungen der Demokratie verkleidet. Das ist höchst subtil. Die erste Kränkung der Demokratie geschah durch das „chinesische Wirtschaftswunder“, das die „gängige These widerlegte, dass „Demokratie zur Marktwirtschaft gehöre wie der Senf zu Bockwurst.“ Brussig jubelt geschickt dem Leser eine vegane Bockwurst unter, denn die gängige These besagt, dass Demokratie und freie oder soziale Marktwirtschaft zusammen gehören. Die Attribute „frei“ und „sozial“ sind für die Marktwirtschaft wie das Fleisch in der Wurst. Man kann es ja immer wieder in der heute show oder im Tagesspott sehen, dass die grünen Comedians an einer ökologischen Bockwurst, also an einem Bock ohne Wurst basteln. Die zweite Kränkung der Demokratie bestünde – unterdrücken Sie bitte das Gähnen – im Brexit und in Trump. Auch der brillanteste Text besitzt Schwächen. Mancher Witz hat nun mal einen Bart wie Donald Trump keinen.

Nach dem bemühten Ausflug ins Tageskabarett, reist nun der gefallene Engel Corona aus der Provinz des Wirtschaftswunderlandes China nach Europa ein – und zeigt mit dem Finger auf die nackte Demokratie, die keinen Werkzeugkasten des „erfolgreichen Pandemiebekämpfers“ besitzt.

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Und nun packt Thomas Brussig den Werkzeugkasten des erfolgreichen Satirikers ganz aus und es wird brüllend komisch. Mit einer ernsten Miene, die Buster Keaton noch als Dauerlächler entlarvt hätte, sagt Thomas Brussig im Stil von Heinz Erhard, dass der „effektive Pandemiebekämpfer … auf der Höhe der Forschung sein“ muss. Und stellt damit die schonungslose Frage, ob der Doktor Drosten ein demokratischer oder ein wissenschaftlicher Pandemiebekämpfer ist, denn der demokratische Pandemiebekämpfer „muss eine Mehrheit gewinnen, einen Konsens bilden und einen Kompromiss finden“. Schließlich hat der Doktor Drosten Angela Merkels und Karl Lauterbachs Mehrheitsmeinung für sich gewonnen, Konsens und Kompromiss muss Angela Merkel nun mit den Medien und den Ministerpräsidenten finden, denn das Parlament hat bereits pandemiebedingt die demokratischen Standards des Wirtschaftswunderlandes China übernommen.

Zwar haben die viel gerühmten „Väter des Grundgesetzes“ in ihrem nachvollziehbaren Eifer, ein Bollwerk gegen eine Wiederholung der Nazidiktatur geschaffen, aber eben kein Bollwerk gegen die Ausbreitung von Covid-19, schlimmer noch, das Bollwerk gegen eine Wiederholung der Nazidiktatur wird zur Flaniermeile der Pandemie. Der Schutz des Lebens steht an erster Stelle, auch wenn vom Leben nicht mehr viel übrig ist. Offensichtlich hat ein Jahr Pandemie noch nicht ausgereicht, die Überzeugungen, die Freiheitsrechte der Bürger aufzugeben, „um das nötige zu tun.“ Das Nötige wäre, „die Rituale und Umständlichkeiten der Demokratie nicht so wichtig“ zu nehmen, sie über Bord zu werfen. Herrgott, man kann sie ja später wieder einsammeln. Schließlich muss die Demokratie eingeschränkt werden, damit man sie erhalten kann.

Und damit erwarten wir voller Spannung die Schlusspointe: Um zu verhindern, dass der Eindruck entsteht, Demokratien können Pandemien nicht bekämpfen, dürfen sie erst gar nicht zum Einsatz kommen in der Pandemiebekämpfung, denn was sich nicht bewähren muss, kann sich nicht blamieren, wie das, was im Stück gestrichen ist, auf dem Theater nicht durchfallen kann. Solange die Pandemie wütet, muss mehr Diktatur gewagt werden – und wie lange die Pandemie wütet, entscheidet immer noch die Bundesregierung.

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