Der englische Essayist erkundet den Zusammenhang von Freiheit und Zusammenhalt und nimmt die ganze Fülle des Menschseins in den Blick. Von Till Kinzel
Der am 12. Januar 2020 verstorbene englische Philosoph Roger Scruton gehört zu denjenigen Autoren unserer Zeit, die wirklich etwas zu denken geben. Auf seine unnachahmliche Weise gelang es Scruton mit nie ermüdendem Elan, die ganze Fülle des Menschseins in den Blick zu nehmen und zu reflektieren. Diese Denkarbeit blieb aber nie nur „akademisch“ im negativen Sinne eines bloß theoretischen Zeitvertreibs oder eines fußnotenschweren Spezialistentums. Vielmehr war sie akademisch in jenem umfassenden Sinne, den etwa Josef Pieper stets in Erinnerung rief: das umfassende Bedenken aller denkbaren Sachverhalte. Daher nahmen in seinen letzten Jahren auch verstärkt religiöse Themen großen Raum in Scrutons Nachdenken ein, so wenn er den Platz Gottes in einer entzauberten Welt erkundete.
Ein schönes Beispiel dafür ist das mit einem etwas irreführenden Titel versehene Buch „Bekenntnisse eines Häretikers“, in dem einige eindrucksvolle Essays Scrutons versammelt sind. Diese liegen quer zum heutigen Zeitgeist, und doch ist Scruton kein „Querdenker“. Vielmehr denkt er geradeaus, er folgt einer klaren Linie: sich die Quellen einer humanen und freiheitlichen Gemeinschaft zu vergegenwärtigen. Der Begriff des „Häretikers“ muss hier übrigens mit einem Körnchen Salz verstanden werden und eigentlich in Anführungszeichen gesetzt werden – denn häretisch ist Scruton nur gegenüber der herrschenden Zivilreligion der politischen Korrektheit, die selbst diejenigen zu Aussätzigen zu machen sucht, die unbeirrt am Bewährten der Tradition festhalten.
Scruton diagnostiziert den Wert der Form im Leben – einer Struktur, die nicht einfach ausgedacht, aber doch von Menschen in ihrem Leben geschaffen wurde. Dies gilt ebenso beim Tanzen, dem der Philosoph einen eigenen Essay widmet, wie in der Architektur. Scruton hält den traditionellen Gesellschaftstanz für eine Versinnbildlichung eines Idealzustands, der Freiheit und Ordnung verbinde. Zugleich stellte der Tanz auch ein Erziehungsmittel für junge Leute dar, denn damit konnte gelernt werden, wie man sich mit Anmut und im Rahmen bestimmter Regeln um jemandes Gunst bemühen konnte, ohne immer gleich an Sex zu denken. Die alte Liebe zum Tanz sei aber in unseren Gesellschaften verkümmert, und wenn der Tanz verschwinde, verlören die jungen Leute eine Form, gegenseitige Rücksichtnahme zu üben. Bei welchem anderen Philosophen liest man solche Gedanken?
Eine menschenwürdige Ordnung kann es nach Scruton aber auch nicht geben, wenn Architektur und Städtebau das Bedürfnis der Menschen nach Schönheit ignorieren – wie es beim Bauen im modernistischen Stil der Fall sei, das sich nicht harmonisch in die Umgebung einfüge.
Nur knapp fallen Scrutons Überlegungen zum Unsagbaren aus, bei denen er von Thomas von Aquin ausgeht, um sich auf diejenigen Aspekte der Welt zu beziehen, die sich nicht beschreiben lassen. Denn eine Welt, in der nur Fakten zählen, ist nicht vollständig; vielleicht ist das Schweigen hier eine angemessene Reaktion.
Wenn Scruton schließlich dazu kommt, die Gründe für eine Verteidigung des „Westens“, also des Abendlandes, vor allem gegenüber dem radikalen Islam und der Scharia darzulegen, listet er sieben Punkte auf, die ihm entscheidend für eine Auseinandersetzung mit dem Islam scheinen: Bürgerrecht, Nationalität, Christentum, Ironie, Selbstkritik, das Prinzip der Interessenvertretung sowie, was manche überraschend finden mögen, das gemeinsame Trinken. Aus der Kombination dieser Eigenheiten setze sich die Einzigartigkeit der westlichen Kultur zusammen – eine These, die eine gründliche Diskussion auch und gerade im Bereich der politischen Bildung verdiente.
Scrutons Essays legen den Finger in manche offene Wunde unserer Gesellschaft, aber sie tun dies auf eine eminent konstruktive Weise. Denn durch Scrutons Art zu schreiben wird aus seiner Nostalgie eine seelische Stärkung. Scrutons Leser erfahren, wie sehr es auf jeden Einzelnen ankommt, sich immer wieder aufs Neue dessen zu vergegenwärtigen, was „Kultur“ ausmacht – und sie gemeinsam mit anderen zu leben. Der Weg nach vorn führt über den Weg zurück zur Wahrnehmung des Heiligen in einer entweihten Welt.
Dieser Beitrag von Till Kinzel erschien zuerst in der Printausgabe von Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.
Roger Scruton, Bekenntnisse eines Häretikers. Zwölf konservative Streifzüge. Manuscriptum, 238 Seiten, 26,00 €.
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