Empathielosigkeit, als Pietät verkleidet, liegt falsch, schrecklich falsch. Wir müssen hinschauen, endlich hinschauen. Die Bilder aus Nizza sind emotional verstörend. Doch es gibt eine weitere Ebene dieses Horrors, die den Verstand verstört zurücklässt.
Kennen Sie Monty Pythons »Schwarzen Ritter«, die Szene aus dem Film »Die Ritter der Kokosnuss«? König Artus von Camelot kämpft mit ihm. Artus schlägt ihm eine Gliedmaße nach der anderen ab. Erst die Arme, dann die Beine. Der Schwarze Ritter aber will nicht eingestehen, dass ihm ernsthaft Schaden geschieht, dass er unterliegt. Sein »Tis but a fleshwound!« (»Es ist nur eine Fleischwunde!«) ist in den Sprachgebrauch der Popkultur eingegangen. »Tis but a fleshwound« steht für Realitätsverweigerung, für die Überzeugung, zu gewinnen, wenn man schon längst verliert.
Am Donnerstag, 14. Juli 2016, schlug in Nizza, Frankreich wieder ein Terrorist zu. Ein Franzose mit tunesischem Hintergrund. Am Tag später spricht die französische Polizei von 84 Toten, darunter zehn Kinder.
Minuten nach dem Attentat tauchen Bilder von Toten in den sozialen Netzwerken auf. Es sind grausame Bilder. Einige Journalisten verbreiten sie, weil sie Teil der Nachricht sind. Andere wollen sie unterdrücken. Es genüge, dem Publikum – das diese Bilder doch längst kennt – die Zahlen und Fakten zu berichten.
Empathielosigkeit, als Pietät verkleidet. Sie liegen falsch, schrecklich falsch. Wir müssen hinschauen, endlich hinschauen.
Die Bilder aus Nizza sind emotional verstörend.
Doch es gibt eine weitere Ebene dieses Horrors, die den Verstand verstört zurücklässt.
Merkels ohnmächtiges Gestammel, ihre Gemeinplätze des Mitgefühls, sie scheinen immer dieselben, nach jedem neuen Terror-Anschlag aufs Neue. Man sei in Gedanken bei den Opfern von Nizza. Man stehe den französischen Freunden bei. Es sei ein »Tag der großen Trauer«. Mein Verstand möchte brüllen: »Ach, haltet doch die Klappe!« Ich brülle es nicht. Bin ein guter Bürger.
Die Große Koalition der Planlosen versichert uns, wir (da ist es wieder, das diffuse merkelsche »Wir«) würden den »Kampf gegen der Terror gewinnen«. Merkel ähnelt in gruselig tragischer Weise dem Schwarzen Ritter der Monty Pythons. Sie spricht für Deutschland. Die Wunden, die der Terror schlägt, werden allmählich lebensbedrohlich. Sie scheint es nicht zu sehen.
Es gibt keinen »Sieg« gegen den Terror. Wie sollte er aussehen? Der beste Fall sind Tage, an denen der Terror mal nicht gewinnt. Möglichst viele davon. Der 14. Juli 2016 war nicht so ein Tag.
In Nizza hat der Terror wieder einmal gewonnen. Doch auch der Schrecken der Überlebenden ist ein Sieg der Terroristen, dieser Händler der Angst. So gesehen hat in Nizza der Terror nicht nur gewonnen, er hat viele Millionen Male gewonnen.
Wie sollen wir nun dem Terror begegnen? Ich tue mich inzwischen schwer, Leute ernst zu nehmen, die ihr Facebook-Icon in die Farben immer anderer Länder tunken. Hört auf, #prayfornice zu posten, es ist müde geworden. (Ein Ketzer könnte fragen: Kann man ein Problem, das durch zu viel Beten entstanden ist, durch noch mehr Beten lösen? Ich frage das nicht. Will nicht auf Scheiterhaufen landen.)
Es gab Journalisten, die unmittelbar nach dem Anschlag keine Worte zum Terror und seinen Opfern fanden, aber gleich auf jene eindroschen, die Bilder vom Geschehen berichteten. Journalismus, der sich darüber definiert, was er verschweigt, er ist ein Symptom. Der Westen will sich nicht die Wunden eingestehen, die ihm geschlagen werden. Der Westen ist wie eine Familie mit einem gewalttätigen Onkel, über dessen Taten man nicht spricht. Der Westen ist wie Monty Pythons schwarzer Ritter. Man schlägt uns Gliedmaße um Gliedmaße ab. Wir bluten. Unsere Kinder sterben. Und wenn sie nicht sterben, wachsen sie in Angst auf. Doch wir suchen Ausflüchte, nicht hinschauen zu müssen. In den Tagen nach solchen Anschlägen (wieso müssen wir hier den Plural verwenden?!) sind immer Aufrufe zu Ruhe und Besonnenheit zu lesen. »Ruhe und Besonnenheit«, wenn Extremisten einen hinrichten wollen, ist nicht die rationalste aller Verhaltensweisen. Manchmal sind kontrollierte Panik, Hochfahren aller Waffen und rücksichtslose Problemanalyse die lebensrettende Reaktion.
Die Toten von Nizza sind Opfer einer Ideologie. Sie starben, weil ein Extremist meinte, wir, die wir die Welt anders sehen als er, hätten kein Lebensrecht. Er ist nicht allein mit dieser Ideologie.
Wir müssen hinschauen, endlich hinschauen. Kürzlich wurde bekannt, dass das Familienministerium (die mit den Herzchen) wohl indirekt Extremisten unterstützt, die das Grundgesetz durch ein Religionsgesetz ersetzen wollen. In der Sache ein unglaublicher Skandal. Im medialen Echo kaum ein Lüftchen. Wir müssen hinschauen, endlich hinschauen. Gute Therapie beginnt damit, sich das Problem einzugestehen. Europa braucht Therapie.
Die Welt ist noch nie besser geworden, weil man bei Grausamkeiten wegschaute. Die Beschwichtiger mancher Kuschelmedien, sind sie noch Teil der Lösung? Wer jetzt noch dafür plädiert, die Bilder vom Krieg – und um einen Krieg geht es hier – dem »dummen Michel« vorzuenthalten, wer jetzt noch beschwichtigt (»das muss man aus dem Kontext verstehen«, sprich: weglabern), ist der nicht bald selbst ein Teil des Problems?
Diese Wunden sind mehr als Fleischwunden. Diese Wunden können uns töten. Wenn wir sie unbehandelt lassen, werden sie uns töten. Sie töten uns ja bereits.
Paris, Brüssel, Istanbul, Nizza – diese Anschläge sind ein Sterben Europas auf Raten. Wenn unsere Politiker nichts als die ewig gleichen Floskeln anbieten können, wird das freie Europa sterben. Das ist nicht der Kontinent, den ich meinen Kindern weitergeben möchte. Das ist die Hölle.
Wir müssen hinschauen, endlich hinschauen. Und dann müssen wir die notwendigen Konsequenzen ziehen. Wir müssen die lautstarken Beschwichtiger, Weggucker und Nichtwahrhabenwoller ignorieren. Es wurde noch kein Menschenleben gerettet, weil man sich pietätvoll, politisch korrekt vor der Realität wegduckte. Aber es wurden Leben gerettet, indem man sich der Realität stellte. Auch wenn sie hässlich und verstörend war. Gerade deswegen.
Wir müssen hinschauen, endlich hinschauen.
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