Cancel Culture – Ein Angriff, der zur Rückeroberung führen könnte

Was man 1989 für überwunden hielt, ist als "Culture Cancelling" zurückgekehrt. Ein Grund zur Resignation? Wohl nicht. Der dialektische Effekt könnte eine Aktualisierung des europäischen Kultur- und Geschichtsbewusstseins sein.

Heinrich Heine rang sich zu dem Glauben durch, dass den Kommunisten die Zukunft gehören würde, und als habe er die kulturzerstörerische Bewegung des Culture Cancelling vorausgesehen, räumte er schließlich ein, dass er nur mit „Schauder und Schrecken … an die Zeit, da diese finsteren Bilderstürmer zur Herrschaft gelangen werden“, denkt. Sie werden mit ihren „schwieligen Händen … erbarmungslos alle Marmorstatuen der Schönheit zerbrechen“, die seinem „Herzen so teuer sind“. Sein „Buch der Lieder wird dem Gewürzkrämer dazu dienen, Tüten zu drehen, in die er den armen, alten Frauen der Zukunft Kaffee und Tabak schütten wird“. In Heine zumindest rangen Ideologie und Ästhetik noch miteinander. In den modernen Culture Canclern ringt nichts mehr miteinander, weil sie nicht mehr wissen, was Ästhetik ist.

Die Marmorstatuen und Denkmäler werden vor das Standgericht der Ideologen gezerrt, und nicht die Gewürzhändler zerreißen die Bücher, sondern die politisch-korrekten Zensoren, deren Lektüre einzig im Aufspüren von Begriffen und Worten besteht, die zwar über eine lange Existenz in der Sprachgeschichte verfügen, aber nun unter das Sage- und Leseverbot fallen und die man deshalb durch andere ersetzt.

Aus „Negerkönig“ wird ein „Südseekönig“

Aus Astrid Lindgrens „Negerkönig“ machte der Oetinger Verlag den „Südseekönig“. Steht zu erwarten, dass eifrige Zensoren auch die Werke der deutschen Klassik, die Werke von Thomas Mann und Hermann Hesse, im Grunde die ganze Literatur nach Worten und Schilderungen durchschnüffeln, die nicht den politisch-korrekten Sprech- und Schreibgeboten entsprechen? Verlage, die das exekutieren, entweder aus Opportunismus oder aus Überzeugung, sind keine Institutionen der Freiheit, sondern Anstalten der Unfreiheit.

Satire und öffentlicher Diskurs
Dieter Nuhr über Diffamierung, Stigmatisierung und andere Ausschlussmechanismen
Die Leiterin einer Hamburger Kita, wahrlich keine Expertin für Sprache und Literatur, bedauert, dass Jim Knopf immer noch gelesen wird, denn: „Jim Knopf reproduziert viele Klischees, zum angeblich typischen Wesen und Äußeren von Schwarzen.“ Kafkas „Verwandlung“ wurde von den SED-Zensoren einst mit der Begründung abgelehnt: Die Verwandlung eines Arbeiters in ein Insekt ist für uns keine gesellschaftliche Alternative. Die Kita-Leiterin tritt für eine „rassismuskritische Frühbildung in den Kitas ein“, also für eine Indoktrination der Kinder in Orwellscher Manier. Und damit nichts schiefgeht, werden die Erzieherinnen vorindoktriniert: „Ich habe bald nach meinem Antritt dafür gesorgt, dass alle Kolleginnen und Kollegen ein Antirassismustraining machen.“ Denn Weiße sind schon allein deshalb rassistisch, weil sie weiß sind und bedürfen einer Schulung, um den Rassismus in sich zu entdecken und tagtäglich gegen ihn anzugehen.

Statuen und Denkmäler ohne Schwielen an den Händen zerstört

Aber Heinrich Heine irrte auch, denn nicht von Menschen mit „schwieligen Händen“ werden die Marmorstatuen und Denkmäler zerbrochen, beschädigt oder beschmiert, sondern von Menschen, deren Hände keine Schwielen aufweisen, weil sie mit ihnen niemals gearbeitet haben. Womit wir es bei dem Sturm auf unsere Kultur und unsere Geschichte, im Grunde auf unsere Existenz, auf die Art und Weise, wie wir leben, was wir für unsere Kinder erhalten und verbessern und weiterentwickeln wollen, zu tun haben, ist die Autoimmunerkrankung unserer Kultur. Inzwischen muss man leider wieder daran erinnern. Nicht zuletzt für die Freiheit gingen die Menschen in Ostdeutschland 1989 auf die Straße, dafür, sagen zu können, was sie sagen wollten, und lesen zu dürfen, wonach ihnen der Sinn stand, sich nicht mehr die Bewertung von Literatur als „Schmutz und Schundliteratur“ vorgeben zu lassen.

Ende der Freiheit
Der Duft des Totalitären: Denunzianten werden gefeiert
Das Schlagwort für den Kampf gegen die europäische Kultur und Geschichte lautet: Cancel Culture, worunter Wikipedia einen systematischen „Boykott von Personen oder Organisationen“ versteht, „denen beleidigende oder diskriminierende Aussagen beziehungsweise Handlungen vorgeworfen werden“, im Grunde also nicht Cancel Culture, sondern Culture Canceling. Der Klassenkampf der Kommunisten feiert als Culture Canceling seine Auferstehung. Die Gespenster der Vergangenheit schicken sich an, unsere Zukunft zu zerstören.

Angst vor linker Gewalt lässt Veranstalter einknicken

Schauspieler weigern sich, Stücke von Shakespeare zu spielen, weil in ihnen zu viel Gewalt geschildert wird. Jüngst sorgte die Ausladung der Kabarettistin Lisa Eckhart vom Harbour-Literatur-Festival in Hamburg für Schlagzeilen, weil einige Autoren nicht mit Lisa Eckhart gemeinsam auf einem Podium zu sitzen wünschten. Unlängst setzten Autoren ihren Verlag unter Druck, um die Publikation der deutschen Übersetzung von Woody Allens Autobiografie zu verhindern. Dem renommierten Leipziger Maler Axel Krause teilt der BBK Leipzig e.V. mit: „Wir bedauern mitteilen zu müssen, dass der BBK Leipzig e. V. auf deine Teilnahme an der Ausstellung Viola! 30 Jahre BBK Leipzig e.V. verzichten muss, um die maximale Sicherheit für die Werke aller Beteiligten zu gewährleisten. Wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass es unverantwortlich wäre, der veränderten … Versicherungslage nicht Rechnung zu tragen.“ Aus Angst vor Leipzigs linksextremistischer Szene, die ihr Demokratieverständnis und ihre Friedfertigkeit vor kurzem in Leipzig Connewitz wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat, trug der Verband der Versicherungslage Rechnung.

Um Geschichte, Kultur und Wissenschaft dreht es sich längst nicht mehr, auch nicht um den rationalen, auf Argumenten beruhenden Diskurs, denn die an der FU Berlin zu Fragen der Diversität „forschende“ Chan de Avila stellt klar: „Es gibt vor allem in Deutschland noch immer diese Idee, Wissenschaft sei objektiv und neutral.“

„Der Hauptfeind ist letztlich der Rationalismus, die Vernunft und die Aufklärung.“

Im Grunde dreht es sich ausschließlich um die Frage der Macht. Nachdem der Linken das Subjekt des revolutionären Kampfes, nach klassisch-marxistischer Lehre das Proletariat, abhanden kam, halfen die Liberalen um den Philosophen John Rawls aus, für den eine Gesellschaft dann als gerecht gilt, wenn „die Gesetze zum Wohle der am stärksten benachteiligten Gruppe“ gestaltet worden sind. Alles, was als unterdrückt angesehen wird: die People of Color, die Homosexuellen, die Angehörigen der 666 Geschlechter werden zum neuen revolutionären Subjekt erhoben, zum Maß aller Dinge.

Cancel Culture nein danke
Die neuen Taliban, ihre vorübergehenden Erfolge – und woran sie scheitern werden
Wenn einst der leicht verwirrte Psychiater Frantz Fanon den Vorgang der Dekolonisation als Vorgang der Gewalt beschrieben hat, nahm die Ideologie der Zerstörung der europäischen Kultur und Geschichte mit dem Poststrukturalismus, der sich mit dem Marxismus verbündete, dem Dekonstruktivismus, dem Postkolonialismus und dem Genderismus Fahrt auf. Der Hauptfeind ist letztlich der Rationalismus, die Vernunft und die Aufklärung. Pankaj Mishras Gedanke: „Die verblüffenden Revolutionen unserer Zeit und unser Erstaunen über sie machen es erforderlich, das Denken wieder im Bereich der Triebe und Affekte zu verankern“, kann keine Originalität beanspruchen, denn einen Sturz in den Irrationalismus, einen Sturz in die Welt der „Triebe“ und „Affekte“ hatten wir schon einmal in Deutschland.

Aber vielleicht ist der irrationale Furor, den wir derzeit erleiden, auch eine Chance. Ist unsere Kultur nicht zum Museum geworden, zu etwas, das man eigentlich nicht mehr benötigt und zu vergessen beginnt? Schleppen wir nicht achtlos inzwischen die europäische Geistes- und Kunstgeschichte mit uns herum? Ist der Versuch, die Kultur Europas zu vernichten, indem sie unter den Verdacht der Unmenschlichkeit gestellt wird, nicht vielleicht eine freilich unbeabsichtigte Aktualisierung? Wird sie durch die Museumsstürmerei, dadurch, dass die Kultur buchstäblich auf die Straße gesetzt wird, nicht wieder aktuell, weil sie sich behauptet als letztes Residuum unserer demokratischen Gesellschaft und der Freiheit?

Wollen die Bilderstürmer das Schlechte und erreichen dennoch nur „das Gute“?

Erreichen die neuen Klassenkämpfer, die Culture Canceler nicht das Gegenteil von dem, was sie so inbrünstig ersehnen, indem sie die museale Bedeutungslosigkeit aufsprengen und auch dadurch Kultur und Geschichte wieder aktuell werden, weil sie zum Kampfplatz gemacht wurden? Wird uns in all der dumpfen Bilderstürmerei nicht wieder zu Bewusstsein gebracht, was wir eigentlich verlieren? Nämlich uns. Muss man den Dekadenten, den armselig Übersättigten, arm an Kultur, aber übersättigt an Konsum und Wohlleben, nicht eigentlich dankbar dafür sein, weil sie die Vitalität dessen, was sie zu bekämpfen und zu vernichten trachten, freigelegt haben?

In der ZEIT fand sich unlängst ein Artikel, in dem Wege empfohlen werden, den Zorn zu besiegen. Als größten Feind und mithin Quell des Zorns machte die ZEIT „das eigene Gedächtnis“ aus und tröstete: „Das kann man überwinden.“ Wollen wir wirklich unser Gedächtnis verlieren? „Singe mir, oh Muse, den Zorn des Peleiaden Achilleus.“ Sie wollen vernichten, was sie nicht mehr verstehen und ahnen dabei nicht, dass es auch den Heiligen Zorn gibt. Aus Freude aber, und aus Zorn, aus dem Geist der Freiheit ist unser Gedächtnis gemacht.

Dieser Beitrag erschien zuerst in Die Tagespost – Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur.

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Kommentare ( 30 )

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j.heller
3 Jahre her

„Der Hauptfeind ist letztlich der Rationalismus, die Vernunft und die Aufklärung.“
Von wem ist das? Chan de Avila?

Epouvantail du Neckar
4 Jahre her

Ich war am Wochenende sowohl in der Walhalla bei Regensburg wir in der Befreiungshalle bei Kehlheim-und mache mir Sorgen um deren Weiterbestand.

UngebetenerGast
4 Jahre her

Auf George Carlin kann man gar nicht oft genug hinweisen. Noch gibt es ihn bei YouTube zu sehen.

Onan der Barbar
4 Jahre her

Was machen wir mit dem Schimmelreiter?

giesemann
4 Jahre her

Ein rebound-Effekt gegen cancelling aller Art wird dann auftreten, wenn die Leute vermehrt sagen: Mir egal, was andere über mich denken, cogito, ergo sum. Basta.

B. Krawinkel
4 Jahre her
Antworten an  giesemann

Nein.
Sie erwarten, daß sich dieses selbstverstärkende System von selbst erledigt, indem man nur lange genug wartet.

Dem Irrglauben sind seit 1918 Millionen von Menschen erlegen.

Und ich täte das Ende gerne noch erleben und auch meine Kinder vor einer Zukunft in ihm geschützt sehen.

Ohne den Hintern zu heben und auch physisch tätig zu werden, läuft alles wie bisher.
Schlimmer noch; Sie spielen dadurch den Machthabern in die Hände.

Alexis de Tocqueville
4 Jahre her

Ich finde schon die Übersetzung nicht so doll. Hab ne Schwäche für modernere Ilias-Übersetzungen. Warum die Akkusativ Konstruktion wiedergeben, die im Deutschen gar nicht funktioniert? Und auch die Muse ist erdichtet.
„Singe mir, o Göttin, vom Zorn des Peleiaden Achilleus…“

Caprivi
4 Jahre her

Man wird kaum bestreiten können, dass nahezu jeder technologische, medizinische, wissenschaftliche Fortschritt gesellschaftliche Fortschritt, inklusive Abschaffung der Sklaverei, seine Wurzeln in der europäischen Kulturgeschichte hat. Selbst die Abwege und destruktiven gesellschaftlichen Entwicklungen gehen auf europäische alte Männer mit viel Bart zurück. Da bleibt nicht mehr viel, nachdem die canceler gecancelt Haben

Augustusburg
4 Jahre her
Antworten an  Caprivi

Deshalb benutzen wir ja auch dem indischen entlehnte Ziffern. Wir bestaunen afrikanische Pyramiden, die gebaut wurden, als in Europa noch Faustkeile genutzt wurden. Wir entziffern als Nachkommen von Analphabeten die ersten Buchstaben aus dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris in Keilschrift und nutzen Schriftzeichen aus Nordafrika die sich z.B. bei dem „A“ – kaum verändert haben. Das chinesische Porzellan und Raketen musste tausend Jahre später Nacherfunden werden. Ich denke, das Prinzip schillert langsam ohne weitere Beispiele durch….

LadyGrilka55
4 Jahre her
Antworten an  Augustusburg

Welche afrikanischen Pyramiden wurden gebaut, „als in Europa noch Faustkeile genutzt wurden“? Welche Schriftzeichen aus Nordafrika benutzen wir? Wieso „mussten“ Porzellan und Raketen 1000 Jahre später nacherfunden werden? In der Wikipedia ist zu lesen: „Vermutlich beeinflusst durch das babylonische Sexagesimalsystem sowie Astronomie und Kalenderrechnung[13] entstand zwischen 300 v. Chr. und 600 n. Chr. in Indien das dezimale Stellenwertsystem mit 0 und Zahlzeichen für 1, …, 9…“ Mit anderen Worten: Die Inder haben zwar das Stellensystem erfunden, dabei aber selber auch auf ältere Ideen zurückgegriffen. Die älteste Pyramide Ägyptens wurde von Djoser um ca. 2.450 v.Chr. erbaut. Um 3200 v.Chr. (+/-… Mehr

Marcel Seiler
4 Jahre her

Es gibt nichts Neues unter der Sonne: In der Zeit der Prüderie des 19. Jh. veröffentlichte der Engländer Bowdler eine Shakespeare-Version, in der „diejenigen Worte und Ausdrücke weggelassen sind, die schicklicherweise nicht in einer Familie vorgelesen werden können.“ „To bowdlerize“ heißt seitdem die Reinigung von Literatur um Ausdrücke, die anstößig oder anrüchig sein könnten. Das Merry Old England von 1750 hatte vermutlich mehr Spaß am Leben als die Viktorianer. – Die heutige, junge Generation der neuen Prüderie sollte einem leid tun. Als alter Mann sage ich ihnen: Ihr habt es niemandem zuzuschreiben als euch selbst.

Julius Schulze-Heggenbrecht
4 Jahre her

Ich zitiere dazu gern Michael Klonovsky, der es wie immer auf den Punkt gebracht hat: „Warum hat der Allerwelts-Linke eine Aversion gegen die Schönheit, ob nun in der städtischen Architektur, auf der Bühne, in den Künsten, bei den Manieren, bei der Kleidung? Warum ist ihm alles Gelungene, Wohlgeratene, Vollendete so verhasst? Weil er es nicht geschaffen hat. Weil es ihm seine ästhetische Impotenz vor Augen führt. Weil es ihn an den schäbigen Vorort erinnert, aus dem er stammt. Weil er sich angesichts des Schönen minderwertig fühlt.“

Alexis de Tocqueville
4 Jahre her

„Weil er sich angesichts des Schönen minderwertig fühlt.“

Da hat der Allerweltslinke ja ausnahmsweise mal recht.

Johann Thiel
4 Jahre her

Danke Kapitaen Notaras, dass Sie den Mythos der Freiheitskämpfer aus dem Osten, der hier auf TE so fleißig von den Herren Mai, Tichy und Wendt verbreitet wird, mal ein wenig geraderücken. Dachte schon ich wäre der einzige hier, der die Dinge ein wenig anders in Erinnerung hat.