Merkels Strategie ist Taktik

Deutsche Parteien unterscheiden sich nur noch in ihrem Grad von Sozialdemokratismus; das ist inzwischen eine gängige Formel. Ähnlich war das Bild in den USA. Demokraten und Republikaner galten viele Jahrzehnte in großen Teilen als austauschbar. Der harte ideologische Kern bei beiden war klein. Das amerikanische Pew Center stellte in seinen Analysen fest, dass sich die Anhängerschaften beider beherrschender Parteien 2014 weit von einander entfernt haben: der große austauschbare Teil ist auf die Hälfte geschrumpft. Sind die Vereinigten Staaten von Amerika uns wieder einmal nur zeitlich voraus? Steht auch das deutsche Parteiensystem vor einer Re-Ideologisierung – aber nicht zwischen Union und SPD, sondern in anderen, neuen Parteien?

Über die AfD und die öffentliche Erscheinung Pegida sagte der frühere Bundesinnenminister Friedrich (CSU) dem SPIEGEL: „Wenn Sie mich vor ein paar Jahren gefragt hätten, hätte ich gesagt: Wir putzen die weg, indem wir ihnen die Themen wegnehmen. Frau Merkel hat sich aber entschieden, der SPD und den Grünen die Themen wegzunehmen, denken Sie nur an den planlosen Ausstieg aus der Kernenergie oder die Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit. Dies ist kurzfristig erfolgreich, wie die Meinungsumfragen zeigen, langfristig ist es ein verheerender Fehler, der zur Spaltung und Schwächung des bürgerlichen Lagers führen kann.“ Ja – das ist der Unterschied zwischen Strategie und Taktik.

Auch wer Bettina Röhls kritische Analyse „Der linke Mainstream ersetzt das Grundgesetz“ nicht oder nur teilweise akzeptiert, wird an einer Tatsache nicht vorbeikommen: Die deutschen Eliten und das Volk leben in Parallelwelten. Die Schnittmengen an gemeinsamer Lebenswirklichkeit werden kleiner und kleiner. Im immer noch meinungsbildenden Fernsehen treffen sich die beiden nur beim Fußball. In den Talkshows lassen sich die harten Anhänger von was auch immer in ihren festen Vorurteilen bestätigen. Meinungsbildung findet dort nicht statt. Und das nicht nur, weil immer dieselben Leute auftreten und die Moderatoren der selten aufkommenden Debatte in der Sache keine Chance geben. Nicht nur die Politik selbst, sondern auch die Art ihrer Darbietung in den Massenmedien fördert die Haltung von immer mehr Zeitgenossen beiden gegenüber: man muss mit ihnen leben wie mit dem Wetter, das man auch nicht ändern kann.

Die Zahl der jungen Leute nimmt zu, die zuhause gar keinen Bildschirm mehr hat – weder fürs Fernsehen noch für den Computer. Mobiles Internet ist angesagt, das überall dabei ist. Nicht von ungefähr werden die Displays größer. Was sollen sie auch mit News am Abend, die sie schon auf dem Weg zum Job morgens konsumiert haben. Und über die sie sich in ihren Online-Communities längst verbreitet haben, viele Stunden vor Tagesschau und Heute. Ihre Themen sind außerdem sowieso ganz andere. Hauptsache ist der Event. Der Anlass ist nebensächlich.

Jene, die den alten Medien zuhören, zuschauen und sie lesen, sehen sich mit einer Öffentlichkeit konfrontiert, in der sich etliche nicht wiederfinden. In dieser offiziellen Öffentlichkeit haben die Leute mit Ansichten und Gefühlen politisch rechts von Mitte-Links keine Stimme. Das sollte auch alle links der Mitte beunruhigen. Denn eine scharfe Diskussion über entgegengesetzte Positionen ist auch dann gemeinschaftsstiftend, wenn sie zu keiner Einigung führt. Wenn aber alle Parteien und viele Medien anderen als Mainstream-Positionen zu tatsächlichen oder vermeintlichen Problemen keinen Raum mehr geben, schaffen sich neue Kräfte mit alten Ansichten ihre Räume neu. Ausgegrenzte sind unberechenbar. Und eines Tages werden aus Pegida und Co. neue Parteien. Die AfD hat ihre Chance möglicherweise schon verspielt. Dann zur Tagesordnung überzugehen und sich bestätigt zu fühlen, wäre das falscheste, was die alten und älteren Parteien tun könnten. Dass nun bei den Pegida-Aufmärschen das Thema Russland auftaucht, kann die Linkspartei und die Linke bei Grünen und SPD bald vor ähnliche Probleme stellen wie die Union. Ein Blick nach Frankreich und auf die britische Insel zeigt, was alles möglich ist – überall.

Das Thema Zuwanderung ist auch deshalb so heiß, weil ihre Befürworter überwiegend kalt argumentieren, während bei den Gegnern die Emotionen so hoch gehen, dass dagegen mit dem Verstand wenig auszurichten ist. Emotional zeigen sich die meisten Befürworter nicht in ihrer – christlich gesprochen – Nächstenliebe, sondern in der moralischen Aburteilung der Andersgläubigen. Es lohnt sich, über diesen Unterschied nachzudenken. Vor allem Politiker und andere in den Eliten begründen ihre Befürwortung der Zuwanderung fast nur mit dem demografischen Fachkräftebedarf. Warum sie dann allen, die kommen – gerade auch den Asylanten, nicht von Anfang an erlauben zu arbeiten und die Anerkennung von Qualitätsnachweisen ihrer Herkunftsländer nicht dramatisch leicht machen, lässt mich fragen: Ist ihre Zustimmung zur Einwanderung eine reine Verstandessache, in Wahrheit eine gegen ihre eigenen Gefühle? Wie weit gleichen ihre Vorurteile denen der lauten Gegner? Was sagen sie im trauten Kreise? Und welche Politik werden sie morgen machen, wenn ihnen Wähler in großer Zahl davonlaufen – erst zu den Nichtwählern und dann zu neuen Parteien?

In den USA fällt mir eine andere Beobachtung von Pew Research auf. In den Eliten der Republikaner spielt Religion eine wachsende Rolle, in jenen der Demokraten die Zivilreligion Political Correctness. In der Bevölkerung verlieren Glaubensfragen kontinuierlich an Einfluss. Auch da wird es kälter.

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