Der schleichende Verlust dessen, was Europa ausmacht

Julien Freunds neu aufgelegter Essay „Europa im Niedergang?“ ist 40 Jahre alt und wirkt als sei er heute geschrieben. Seine Kritik gilt der Verächtlichmachung der Tradition, welche die Kultur und die europäischen Werte zerstöre: "intellektualisierte Barbarei". Von Norman Gutschow

Erleben wir einen europäischen Niedergang? Zumindest verliert Europa an Gewicht gegenüber anderen Weltregionen. Die demographische Entwicklung des Kontinents ist rückläufig. Steigende Migration und erfolgte oder nicht erfolgte Integration sind Dauerthemen. Die wohlfahrtsstaatliche Umverteilung gerät finanziell an ihre Grenzen. Das europäische Verständnis von Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechten wird relativiert. Bereits vor fast 40 Jahren sind diese Fragen in Julien Freunds „Europa im Niedergang?“ diskutiert worden. Die jetzt erstmalig auf Deutsch vorliegende Schrift wirkt aber, als sei sie erst dieser Tage verfasst worden.

Die Fragen des Niedergangs einer Kultur oder eines Staates müssen nicht unbedingt katastrophal enden, wie bei den Inkas oder den Azteken. Meist kann man wie beim Römischen Reich einen partiellen oder in den alten europäischen Monarchien einen fragmentarischen Niedergang beobachten, der zu einer neuen Kultur führt, die sich auf eine andere aufsetzt. Diesem Phänomen ist der französische Soziologe Julien Freund (1921-1993) in seinem 1984 erschienen Buch „La Décadence“ nachgegangen. Das daraus entnommene knapp 80 Seiten lange Kapitel „Europa im Niedergang?“ widmet sich dabei speziell der Zukunft Europas. Der Band ist in der Reihe „Essays zum neuen und alten Europa“ der Edition Europolis erschienen und umfasst die französische Version „L’Europe décadente?“ und erstmalig die deutsche Übersetzung.

Für Freund steht fest, dass sich das heutige Europa im Niedergang befindet und er stützt dies auf seine kritische Interpretation verschiedener historischer Fakten. Dabei verwendet er den Begriff des Niedergangs, um drei Phänomene zu bezeichnen. Das totale Verschwinden, den Zusammenbruch und den schleichenden Verlust von Merkmalen, die eine Kultur ausmachen. Dieser dritte Fall eines sogenannten fragmentarischen Niedergangs, wie ihn beispielsweise die monarchischen Regime in Europa erlebt haben, attestiert der Soziologe auch dem modernen Europa. 

Eine Kultur ohne Tradition mündet schnell in ihr Gegenteil: eine intellektualisierte Barbarei

Zwar stützt Freund seine Argumentation vielfach auf harte Fakten, so den Geburtenrückgang und eine Migration, die nicht mehr zu Assimilation in die europäische Kultur, sondern zu Parallelgesellschaften führt, doch sein Hauptaugenmerk und seine primäre Kritik gilt der Verächtlichmachung der europäischen Tradition, welche die Kultur und die europäischen Werte zerstöre. Für den Soziologen ist ausgemacht, dass verschiedene Zivilisationen nicht gleichwertig seien, da jede Zivilisation auf einer für sie spezifischen Wertehierarchie basiert. Diese Hierarchie bestimme die Originalität einer Zivilisation. Diejenigen Europäer, die sich weigern ihre Originalität anzuerkennen, halten sich nicht mehr an die Werte, deren Träger sie sind, so dass sie die daraus resultierende Dynamik verlieren.

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Die Traditionsverachtung der intellektuellen europäischen Eliten führe eben zu jener Relativierung der spezifisch europäischen Werte. Die europäische Zivilisation zeichne sich durch ihre innovativen wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Impulse aus, die es in keiner andern Zivilisation gegeben habe. Die meisten außereuropäischen Völker hätten viele Merkmale der europäischen Zivilisation mehr oder weniger effektiv übernommen. So könne man sagen, dass der Großteil der Weltbevölkerung in „europäischen Zeiten“ lebe. Ein utopischer Perfektionismus etablierte ein Schuldbewusstsein, dessen Folge Traditionsverachtung ist. Damit wird die historische Basis der europäischen Werte von Rechtsstaat, Menschenrechten und Freiheit geleugnet. Diese seien relativ zu anderen Werten, die gleichwertig seien. Somit entzieht sich Europa das Fundament seiner Dynamik und steuert in den Niedergang. Eine Kultur ohne Tradition münde so in ihr Gegenteil, eine intellektualisierte Barbarei.

Extreme Logik der egalitären Einheitlichkeit

Ein weiteres Problem Europas sei die Übersteigerung der Sozialhilfe hin zum Wohlfahrtsstaat. Es gehe dabei nicht mehr um die Daseinsvorsorge für Menschen, die Hilfe bedürften. Vielmehr hätten sich die Bürger in ewige Bettler und Kläger verwandelt, die von der kollektiven Großzügigkeit nunmehr alles verlangten. Dies geriete zum Nachteil der Eigeninitiative und wohlüberlegten Individualvorsorge der Bürger. Das Perfide daran sei, so Julien Freund, dass edle Vorstellungen von Solidarität, Gegenseitigkeit und Großzügigkeit in Praktiken umgeleitet würden, die Verantwortung und Freiheit zerstörten. Die Verallgemeinerung der kollektiven Großzügigkeit berge die Gefahr, Individuen unter dem Vorwand zu versklaven, sie zu befreien. Wie bereits Tocqueville herausgearbeitet habe, führe Gleichheit, die unter die extreme Logik der egalitären Einheitlichkeit gebracht werde, zum Niedergang der Demokratie. Für eine Gesellschaft seien zwar egalitäre Beziehungen notwendig, aber ebenso hierarchische Beziehungen. Eine stabile Gesellschaftsordnung basiere auf der sinnvollen Verteilung dieser beiden Arten von Beziehungen. Die europäische Zivilisation sei eben nicht durch Gleichheit gekennzeichnet, so Freund. Was für sie einzigartig sei, was mit ihrem Gefühl der Freiheit übereinstimme, sei die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. 

Progressivismus und utopischer Perfektionismus

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Diese einzigartige europäische Einstellung sei einem Niedergang unterworfen, der seine Ursache in einem falschen Verständnis von Niedergang und Fortschritt habe. Das eine sei nicht die Kompensation des anderen. Vielmehr könne ein falscher Progressismus den Niedergang einer Kultur beschleunigen. In der Moderne gebe es zwei Vorstellungen des Fortschritts. Zum einen die Vervollkommnung, die einer Ansammlung von materiellen und intellektuellen Verbesserungen entspreche. Zum Zweiten könne Fortschritt als Verbesserbarkeit verstanden werden, die sich an den Menschen an sich richte. Diese Idee der Veränderung der menschlichen Natur sei die Voraussetzung aller revolutionären Theorien ( „neuer Mensch“, „totaler Mensch“) und leider die derzeit vorherrschende Sicht. Denn diese Sicht auf den Menschen führe zu Utopismus, der sich zu utopischem Perfektionismus gesteigert habe. Eben jene gerade in Europas Eliten vorherrschende Idee eines perfekten Menschen, einer perfekten Gesellschaft, einer perfekten Welt. Das sei die Ursache für die Traditionsverachtung, den Egalitarismus und den Relativismus der europäischen Kultur. Dies äußere sich auch in einem falschen Pazifismus, der nur den Frieden um jeden Preis kenne. Diese utopische Weltsicht opfert aber die Überlebenschancen Europas und seiner Zivilisation, obwohl die Europäer sich lieber fragen sollten, wer die Feinde der europäischen Zivilisation und ihrer Werte seien, anstatt diese zu relativieren und kampflos aufzugeben.

Hoffnung im Niedergang

Julien Freund ist jedoch kein Prophet des Untergangs. Im Gegenteil beendet er seine Studie mit dem Unterkapitel „Hoffnung im Niedergang“. Da er Niedergang als ein Phänomen betrachtet, welches jederzeit auftreten könne, sofern eine Zivilisation ihre eigenen Werte verleugnet, kann dieser Prozess auch jederzeit aufgehalten werden. Dies erfordere die positive Rückbesinnung auf die eigene Geschichte und ihre Traditionen. Selbstbewusst und offensiv die eigene Zivilisation annehmen, verteidigen und deren Stärke nach außen tragen, so gewinne man ein Selbstbewusstsein und eine kulturelle Dynamik zurück, welche die europäische Zivilisation wieder erstarken lassen könne. Julien Freund fordert in seinem Buch kein Heldentum, sondern eine Ablehnung der gemeinen Banalität der Alltagspolitik. Eine offensive Haltung Europas, das seine aus Freiheit und Wahrheit bestehende Substanz wieder als Prinzipien seiner Politik verstehe (wie dies noch Churchill oder de Gaulle getan hätten), habe der Welt noch viel zu geben. Die Einzigartigkeit der europäischen Zivilisation dürfe nicht gegenüber anderen Ideen relativiert werden. Nur mit dieser Rückbesinnung auf seine universale Originalität könne Europa seinen Niedergang aufhalten.

Julien Freund: „Europa im Niedergang?“, Berlin 2020 Edition Europolis

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Kommentare ( 43 )

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giesemann
4 Jahre her

Als der 100-jährige Krieg zwischen England und Frankreich zu Ende gegangen war, um 1450, nahmen die Türken Byzanz/Konstantinopel 1453, als der 30-jährige 1.0 von 1614 – 48 zu Ende war, nahmen sie sich um ein Haar Wien 1683. Die Welt ist voller Tücken. Was ist zur Zeit los bei uns? Wann und wodurch sorgen wir dafür, dass sie uns nun kriegen, womöglich? Sich von so einer dummen Ideologie wie Islam kriegen zu lassen, das ist schon nicht mehr dumm, das ist saublöd, grunzdumm eben. Mit den Anstrengungen allein der subdominanten Gehirnhälfte, das ist die rechte(!) könnten wir das leicht hinkriegen.… Mehr

Kassandra
4 Jahre her

Fürs Wochenende rüsten sich heute bereits Polizisten, um die „Partygänger“ im Zaum zu halten. Wie oft wird das Kristall in unseren Innenstädten noch bersten müssen, bis der Michel endlich erwacht? Die Muftis reiben sich die Hände, denn so einfach haben sie sich die Sache nicht vorstellen können!

ak95630
4 Jahre her

Man denke an Peter Scholl-Latour: „Ich fürchte nicht die Stärke des Islam, sondern die Schwäche des Abendlandes. “
Stimmt!

Gerro Medicus
4 Jahre her

Die wesentlichen, unsere heutige technologische Zivilisation begründeten Erfindungen wurden nicht in China, Indien, Arabien oder Persien gemacht. Von dort gab es zwar in sehr früher Zeit Impulse, die die Mathematik beeinflussten, wie z.B. die Erfindung der Null, aber das ist keine Technologie. Die Computertechnik benutzt zwar Nullen und Einsen, aber sie geht nicht automatisch auf die Erfindung der Null zurück und folgt auch nicht einfach logisch aus ihr. Dazu waren ganz andere Erfindungen notwendig, z.B. die des Mikroprozessors oder der Festplatte. Die Raketentechnik wurde zwar erstmalig in China als Feuerwerkskörper eingesetzt, aber war das die Geburtsstunde einer Mondrakete? Doch wohl… Mehr

Gerro Medicus
4 Jahre her

Misstraue jeder Ideologie, die einen neuen Menschen benötigt statt denen, die real existieren, mit all ihren Talenten und Fehlern, mit all ihren Wünschen, Hoffnungen und Zu- und Abneigungen. Dies betrifft alle linken Ideologien – keine davon kommt mit dem normalen Durchschnittsmenschen zurecht, alle brauchen den Supermenschen, der uneigennützig bis zur Selbstaufgabe und zur Selbstvernichtung andere fördert und bevorteilt, bis er selbst nichts mehr hat, was er verteilen könnte. Erst wenn alle gleich arm sind, ist Gleichheit hergestellt. Nur dass die einen trotzdem arbeiten, die anderen aber nicht. Denn das andere Extrem, dass alle gleich reich sind, ist nicht herstellbar, weil… Mehr

Kassandra
4 Jahre her
Antworten an  Gerro Medicus

Gerro Medicus – wobei sie momentan nicht fordern, sondern bereits tun.
Sie nehmen unsere Steuern, um ihre Utopie ins Leben zu bringen. Wenn unser Wohlstand verbraten ist, verpufft auch das, was solchen momentan noch so schön scheint – und es bleibt Jammern und Wehklagen – wahrscheinlich sogar unter fremder „Herrschaft“.

Auf mena-watch tönt jedenfalls schon einer von Arabern als „Herren der Welt“: https://www.mena-watch.com/jordanischer-abgeordneter-allah-erschuf-araber-als-herren-der-welt/

Gruenauerin
4 Jahre her

Man kann das so sehen, sicherlich, aber ich sehe keinen schleichenden Niedergang. Ich bin auch nicht der Ansicht, dass der kulturelle Niedergang nicht immer in eine Katastrophe mündet. Auch als das Westrom unterging, waren deren Folgen katastrophal. Es folgte darauf wirklich das dunkle Mittelalter. Es brauchte Jahrhunderte, bis das Mittelalter wieder annähernd (hat es aber nie erreicht) auf den Stand Roms kam. Der Untergang Ostroms war Katastrophe pur und die Menschen, die in diesem Gebiet lebten und leben, haben bis jetzt an den Folgen zu leiden. Was nun das jetzige Europa angeht, so darf man nur von der EU sprechen… Mehr

elly
4 Jahre her

Europa hat noch Länder, die ihre Kultur, Religionen und Traditionen pflegen. Der Staatenbund EU aber ist in der jetzigen Form wohl dem Niedergang geweiht. Die Selbstaufgabe und freiwillige Unterjochung ist auch primär bei den nördlichen EU Ländern ersichtlich.

Gerro Medicus
4 Jahre her
Antworten an  elly

Eine EU hat keine Kultur, sie hat auch keine Tradition, denn sie ist ein Kunstgebilde. nur die konstituierenden Staaten besitzen Kultur und Traditionen, die EU tut aber alles, genau das zu vernichten, weil es der Grande Unification entgegensteht. Wenn man aus vielen originären Bestandteilen einen Brei mischt, dann hat dieser keine der Eigenschaften der Zutaten mehr, er hat jegliche individuelle Eigenschaft verloren.

RMPetersen
4 Jahre her

Was nutzt das Papier ohne die Drucktechnik? China hat sich damals aus dem weltweiten Wettbewerb das 16./17. Jh. bewusst abgeklinkt; das war der Anfang vom Untergang. Im 19. Jh. war China hilflos zurückgeblieben gegenüber den europäischen Mächten.

Ebenso wie Japan konnte China erst wieder dadurch auf Weltniveau kommen, in dem sie Strukturen und Techniken kopierten.

Kassandra
4 Jahre her

Dass keinem kommt, dass eine solche „Einwanderungspolitik“ nicht mit der „Klimapolitik“ übereinstimmt und niemals übereinstimmen kann? https://twitter.com/pik_klima?lang=de

No-Go
4 Jahre her

Von einem „schleichenden Niedergang“ kann längst keine Rede sein. Niedergangsprozesse verlaufen ohnehin nicht linear, sondern sie beschleunigen sich, in der Endphase (die wir noch nicht erreicht haben) auch dramatisch. Der demographische Point of no Return wurde irgendwann in den 80er oder 90er Jahren überschritten (Stuttgart und Frankfurt sind aktuell nur Mosaiksteinchen dieser Entwicklung). In entwickelten Konsumgesellschaften gibt es auch keine „Revolutionen“ mehr, schon gar keine, die sich dagegen stellen, sondern nur Neuanfänge nach Zusammenbrüchen. Sparen wir unsere Kräfte dafür, dass aus dem Ende der westlichen Kultur etwas Neues, Lebensfähiges hervorgeht. Bis dahin mache ich als Steuerzahler keinen Finger krumm. Je… Mehr

Gernoht
4 Jahre her
Antworten an  No-Go

Ich sehe das genau so. Es macht als Produktiver keinen Sinn, dieses System am Leben zu erhalte. Also, wenn jung, dann Weggang, wenn alt, nur noch das Notwendigste arbeiten. Gekniffen sind die in der Mitte.

Kassandra
4 Jahre her
Antworten an  No-Go

Die auf der Nadelspitze tanzen, scheinen nicht zu wissen, was „Soll und Haben“ eigentlich ist.
Aber sie werden es lernen!