Großstädte, so heißt es, sind die Gärstuben künftiger Entwicklungen. Wenn es so ist, dann ist Deutschlands zweitgrößte Stadt gerade dabei, das erprobte parlamentarische Modell der Bürgerrepräsentation wegzugären.
Unabhängig davon, ob man das nun persönlich begrüßt oder nicht – aber eigentlich läuft das politische Geschäft in unserer Republik nach klar definierten Regeln. Diese Regeln sind recht einfach und in sich logisch aufgebaut und lauten:
- Die Bürger wählen in freien und geheimen Wahlen ihre Vertreter in die Parlamente.
- Die Parlamente finden Mehrheiten, mit denen sie einerseits eine von ihnen unterstützte und kontrollierte Regierung als Exekutive einsetzen, andererseits in ihrer Funktion als Legislative über die Gesetzgebung bestimmen.
- Das politische Geschäft läuft auf dieser Ebene zwischen der demokratisch legitimierten Legislative und der von dieser eingesetzten Exekutive ab.
Dieses in groben Zügen skizzierte Modell soll sicherstellen, dass die Regierung keine wichtigen Entscheidungen trifft, ohne die gewählten Bürgervertreter daran zu beteiligen. Und es soll sicherstellen, dass der Mehrheitswille des Volkes das Maß aller Regierungspolitik ist (was zwar demokratietheoretisch dann angezweifelt werden kann, wenn mangels entsprechender Wahlbeteiligung die Regierungen noch Parlamentsmehrheiten vertreten, nicht aber Bürgermehrheiten – das aber steht auf einem anderen Blatt und bedürfte einer gesonderten Diskussion).
So will es das Demokratieprinzip als Herrschaft des Volkes und der republikanische Ansatz der öffentlichen Angelegenheit, an der die Bevölkerung – in diesem Falle über Repräsentation – zu beteiligen ist.
Wenn eine Minderheit die Mehrheit abräumt
Dieses in unseren Verfassungen festgeschriebene Verfahren kann überaus lästig werden, beispielsweise dann, wenn unerwartet parlamentarische Mehrheiten dem Regierungswunsch nicht mehr zu folgen bereit sind. Denn dann kann eine Vertrauensfrage nebst Neuwahl die Folge sein und die amtierende Regierung abgelöst werden. Das allerdings ist ein fest im parlamentarischen Prozedere verankertes Vorgehen und repräsentiert in jedem Falle den Mehrheitswillen der gewählten Abgeordneten und deren Wähler.
Überaus unangenehm für die Regierenden werden kann es, wenn in der Bevölkerung Gruppenbildungen entstehen, die öffentlichkeitswirksam sogenannte „Single Issues“ (Einzelziele) propagieren und dafür scheinbar oder tatsächlich eine breite Zustimmung in der Bevölkerung erhalten. Nicht nur Hamburgs Politiker können ein Lied davon singen. So war beispielsweise der Rücktritt des zweiten und bislang einzigen wiedergewählten CDU-Bürgermeisters Ole von Beust nebst anschließender Selbstversenkung der Union unmittelbare Folge der Niederlage einer Bürgerabstimmung gegen seine Schulpolitik.
Ursache dieses Uniondesasters war die unüberwindbare Diskrepanz zwischen dem schulpolitischen Wollen der Parlamentsmehrheit und dem Wollen einer Bürgerinitiative. Letztere sammelte genug Unterstützer, um ihr gegen das Regierungsziel gerichtetes Ansinnen zur Volksabstimmung zu stellen. An diesem Volksentscheid beteiligten sich 39,3 Prozent der stimmberechtigten Bürger – und von denen wiederum stimmten 54,5 Prozent gegen die Senatspläne, womit die absurde Situation eintrat, dass 21,42 Prozent aller Wahlberechtigten das politische Wollen der von 34,98 Prozent der Wahlberechtigten gewählten Regierungsabgeordneten überstimmten und deren Bürgermeister auf diesem Wege in die Frührente schickten.
Ursächlich für diesen fundamentalen Angriff auf die Grundzüge des institutionalisierten Parlamentarismus war ein mit heißer Nadel gestricktes Gesetz zur Bürgerbeteiligung, dessen Quorenregelung eben jene Situation zuließ, dass eine Minderheit der Bürger die Entscheidungen eines mehrheitlich gewählten Parlaments aushebeln konnte. Womit – sachlich betrachtet – das klassische Prinzip der repräsentativen Demokratie zumindest erheblich beschädigt wurde.
Das Damoklesschwert direkter Demokratie
Das Damoklesschwert einer solchen Demontage der Exekutive nebst Parlamentsmehrheit durch eine Bürgerminderheit schwebt seitdem ständig nicht nur über dem Hamburger Senat. Es wurde über entsprechende Bürgerbeteiligungsgesetze auch in anderen Bundesländern etabliert – die Bundesregierung nebst Bundestag allerdings wehrt sich bislang erfolgreich dagegen, denn zumindest dort hat man erkannt, dass eine solche Gesetzgebung nicht nur in der Lage ist, parlamentarische Mehrheitsentscheide zu begraben, sondern in seiner Konsequenz die politische Idee des repräsentativen Parlamentarismus unterminiert.
Ein Weg am Bürgerentscheid vorbei
Nun sind Bürger, denen das eine oder andere an der Regierungspolitik nicht gefällt, nicht unbedingt dumm. Sie haben erkannt, dass allein die Drohung mit einer Bürgerabstimmung so viel Druck erzeugen kann, dass die als Gegner erkannte Regierung zum Einlenken im eigenen Sinne zu bewegen ist. Letztere wiederum hat erkannt, dass eine erfolgreiche, gegen ihr Handeln gerichtete Abstimmung selbst dann ihr Ende bedeuten kann, wenn dort nur eine qualifizierte Minderheit ihren Unmut kundtut. Das von-Beust-Schicksal mag zwar den in seiner Nachfolge gewählten Grünen und Sozialdemokraten zur Regierung verholfen haben – vergessen aber ist es nicht. So sannen nun die Regierungsfraktionschefs Andreas Dressel (SPD) und Anjes Tjarks (Grüne) heftig darüber nach, wie diesen Fährnissen fehlkonstruierter unmittelbarer Bürgerdemokratie zu begegnen sei. Und kamen dabei auf eine Idee, die das Parlament nun abschließend überflüssig macht.
Ein Sarg namens Bürgervertrag
Voller Stolz präsentierten die parlamentarischen Mehrheitsführer dieser Tage ihr Parlaments-Beerdigungsmodell Erster Klasse der Öffentlichkeit – bejubelt von Mainstream-Medienvertretern, denen offenbar die Tragweite dieses Tuns ebenso wenig bewusst ist wie den politischen Initiatoren selbst. Der Sarg des Parlamentarismus, den die beiden Landespolitiker ersannen, trägt einen wohlklingenden Namen: „Bürgervertrag“.
In diesen sogenannten Bürgerverträgen, Mitte Juni geschlossen mit Initiativen, welche auf so programmatische Bezeichnungen wie „Guter Ganztag“ und „Nein! zur Politik – Ja zur Hilfe!“ hören, einigten sich die jeweiligen Initiativenvertreter mit dem Bürgermeister durch die ausdrücklich hervorgehobene „Vermittlung“ der mitunterzeichnenden Mehrheitsführer auf vielen, engbeschriebenen Seiten auf vorgebliche Kompromisse. Und selbstverständlich darauf, von dem Initiativ-Bestreben eines Volksentscheids abzusehen.
Keine demokratische Legitimation
Nun mag man es durchaus begrüßen, wenn „die Politik“ auf die Wünsche der Bürger zugeht und deren offenbar berechtigte Forderungen vertraglich absichert. Das Problem dabei aber ist: Weder sind die Initiativenvertreter demokratisch legitimiert, solange sie sich nicht in einer Wählerbefragung der Mehrheit der Bürger versichert haben, noch können sich Bürgermeister und Mehrheitsführer auf die Legitimation ihres Handelns berufen, solange solche Verträge an den gewählten Abgeordneten vorbei verhandelt und abgeschlossen werden.
Es geht hier also – das sei unterstrichen – nicht um die Frage, ob die Ansinnen der Initiativen (die eine wollte die landesweite Ganztagsschule optimieren, die andere zu viele Zuwandererunterkünfte an ihrem Wohnort verhindern) in der Sache gerechtfertigt sein mögen oder nicht. Es geht schlicht um die Frage, wem in einer repräsentativen Demokratie das Recht zusteht, solche Verträge abzuschließen. Denn auch die Bürgerinitiativen können sich – wenn überhaupt und als nicht rechtsfähiger Verein ohnehin nicht – auf keinerlei demokratische Legitimation berufen. Diejenigen, die dort nun „Bürgerverträge“ abschließen, sind politisch nichts anderes als eben jene „Single-Issue“-Vertreter. Sie haben sich als kleine, überschaubare Gruppen zusammengeschlossen, ohne sich jemals dem Bürger als oberstem Souverän auch nur ansatzweise gestellt und dessen Zustimmung eingeholt zu haben. Die parlamentarischen Mehrheitsführer verraten darüber hinaus faktisch das Parlament, in das sie von den Wahlberechtigten als deren Repräsentanten gewählt wurden, indem sie dessen Mitbestimmungsrecht schlicht ignorieren.
Ein Rückfall in Gutsherrenrecht
Mit Demokratie und repräsentativem Parlamentarismus hat ein solches Vorgehen nicht mehr das Geringste zu tun. Es ist nichts anderes als ein Rückfall in die dunkelsten Zeiten der Gutherrengerichtsbarkeit, deren Überbleibsel 1848 weitgehend abgeräumt worden war.
Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass die um ihre Macht bangenden Politiker offenbar die Getriebenen sind und mit kleinen Zugeständnissen und derart verklausulierten Verträgen, dass die Absicht den politisch und juristisch unerfahrenen Vertragspartner letztlich auszuspielen, kaum zu übersehen ist, die von ihrer unausgegorenen Politik geschaffenen Probleme vom Tisch räumen möchten . Wer als gewählter Parlamentarier nicht nur jeglicher demokratischen Legitimation entbehrenden Bürgervertretern einen faktischen Staatsvertragsabschluss aufdrängt, sondern auch die eigenen Parlamentarier ebenso wie die der Opposition ausschaltet, der muss sich fragen lassen, ob er eigentlich noch auf dem Boden unserer Verfassung steht. Denn dort sind legislative und exekutive Rechte und Aufgaben aus gutem Grunde fein säuberlich definiert und getrennt.
Die Bezwinger des Staats können sich auf die Schulter klopfen
Denjenigen, die mit lautstarkem Auftreten wie beispielsweise jene acht (!) unterzeichnenden Bürger der „Nein! zur Politik“-Gruppe den Bürgermeister zur Unterschrift gebracht haben, ist allerdings vorbehaltlos zu gratulieren. Sie können sich als Bezwinger „des Staats“ nicht nur auf die Schultern klopfen – sie haben auch das realpolitische Muster dafür geliefert, wie die ungeliebte parlamentarische Demokratie abschließend aus den Angeln zu hebeln ist. Ihr Beispiel wird Schule machen. Denn wozu braucht es noch Parteien, wozu Parlamente, wozu allgemeine Wahlen, wenn die Exekutive unter Ausschaltung aller dafür vorgesehen Gremien und institutionalisierten Abläufe durch kleine, durch nichts legitimierte Grüppchen in die Knie gezwungen werden kann?
Dressel und Tjarks, die, wie zu hören ist, den immer noch von Bedenken gegen dieses Vorgehen erfüllten Bürgermeister zum Jagen tragen mussten, hingegen müssen sich sagen lassen, dass sie mit ihrem unlegitimierten Vorgehen einen kräftigen Nagel in den Sarg unseres derzeit noch bestehenden parlamentarischen Systems geschlagen haben. Wobei – das soll hier nicht unterschlagen werden – das Muster zu dieser Beerdigung vom Bürgermeister selbst erdacht wurde. Denn der hatte bereits recht früh nach seiner Wahl mit dem Propagandaprojekt „Vertrag für Hamburg“ publikumswirksam zwischen seinem Senat und den ihm in der Einheitsgemeinde Hamburg unterstehenden Bezirksämtern eben jene „Verträge für Hamburg“ geschlossen, in denen sich die Unterbehörden zur Erfüllung im Vertrag festgeschriebener Wohnungsbaugenehmigungen verpflichteten. Die schlichte Senatsanweisung an die Bezirke hätte es auch getan. Aber das wäre natürlich lange nicht so wunderbar öffentlichkeitswirksam zu verkaufen gewesen.
Und so darf sich nun auch Olaf Scholz den Schuh seiner Mehrheitsführer anziehen und muss sich sagen lassen, dass sein Populismus der Demokratie einen Bärendienst erwiesen hat. Wären er, Dressel und Tjarks konsequent, dann sollten sie so ehrlich sein und die Abschaffung des Parlaments zur Volksabstimmung stellen. Denn das Regieren mit „Bürgerverträgen“ und „Verträgen“ für oder gegen Hamburg ist tatsächlich wesentlich leichter und effektiver als der Weg durch die parlamentarischen Institutionen. Wozu also noch angesichts knapper Haushaltsmittel die Abgeordneten mit Diäten und Arbeitsmitteln füttern, wenn sie ohnehin ausgeschaltet werden. Und sich nach Stand der Erkenntnis widerstandslos in dieses Schicksal ergeben und ohne jedes Murren ausschalten lassen.
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