Amerikas Schwarze: Vom Opfer- zum Erlöserlamm?

Ausgehend von einem emotionalen Aufruhr gründeten drei schwarze Frauen 2014 die Black-Lives-Matter-Organisation. Das Gefühl regiert noch immer, angereichert mit Klassenkampf und Opfertheorien. Der britische Ableger zeigt in seinen Forderungen die ganze Absurdität der Bewegung.

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Black Lives Matter Proteste, New York 08.12.2014

Es begann mit einem Social-Media-Post, der einen Hashtag gebar. »Black lives matter. […] Our lives matter«, das hatte Alicia Garza (geborene Schwartz) auf Facebook gepostet, als der Versicherungsprüfer George Zimmerman vom Mord an einem jungen Schwarzen freigesprochen wurde. Patrisse Cullors antwortete ihr: »#BlackLivesMatter«

Es war natürlich ein hoch emotionaler, wenn auch nicht gerade einfacher Fall, der eine Bewegung wie Black Lives Matter (BLM) entstehen ließ. Zimmerman war Mitglied der Nachbarschaftswache in einer geschlossenen Wohnanlage in Florida. Am Abend des 26. Februars 2013 erspähte er den siebzehnjährigen Trayvon Martin, den er für das Mitglied einer Einbrecherbande hielt. Es kam zur körperlichen Auseinandersetzung und zum Schuss. Zimmerman behauptet, in Notwehr gehandelt zu haben, und wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Natürlich wurde das Thema auch bald anhand ethnischer Kriterien diskutiert. Präsident Barack Obama forderte eine gründliche Untersuchung des Geschehens und sagte: »Wenn ich einen Sohn hätte, sähe er wie Trayvon aus.« BLM ist ein Kind der Obama-Zeit. Am Ende waren es drei Frauen, die ein knappes Jahr später die Organisation Black Lives Matter gründen sollten. Garza und Cullors definieren sich zudem als »marxistisch geschult« und »queer« (also homosexuell mit einer Spur Rebellion darin). Beide prägen bis heute die ideelle Ausrichtung von Black Lives Matter.

Patrisse Cullors hat unlängst in einem kurzen Video von den »ideologischen« Fixpunkten ihres Denkens gesprochen. Sie und Alicia Garza seien »gelernte Organisatoren« (was ist das? eine Ideologie?) und »Marxisten« und »super versiert in, sozusagen, ideologischen Theorien«. Nun studierte Cullors angeblich Religion und Philosophie, während Garza in Anthropologie und Soziologie abschloss. Vermutlich kann man aber den kulturellen Marxismus heute in vielen Fächern im US-Curriculum aufsaugen, wenn nur die Lehrenden danach sind. Cullors’ Interview lässt zwar wenig Tiefe erahnen, aber die marxistische Prägung der beiden Frauen muss man wohl ernst nehmen.

Die BLM-Gründer sind mithin schwarz, weiblich, queer und marxistisch – das sind zusammen vier Eigenschaften, deren Mischung zweifellos zum Ergebnis beigetragen hat. Tatsächlich wird darauf anscheinend viel Wert gelegt. Als einige Gesinnungsgenossen die Marke »Black Lives Matter« für eine Ausstellung zu »Our Lives Matter« abänderten, um sie etwas inklusiver zu machen, traf das auf die ernsthafte und rigorose Enttäuschung von Alicia Garza (nachzulesen in ihrem Beitrag hier). Man hatte sich also das so schöne, griffige Branding zu eigen gemacht und dabei – das ist Garzas wichtigste Enttäuschung – den Anteil schwarzer, queerer Frauen an der Bewegung wieder zum Verschwinden gebracht. How dare you …

Das ist es also, was man nicht tun darf, wenn man zu dieser Gerechtigkeitsbewegung gehören will: Die Schwarzheit durch eine universale Formulierung ersetzen. Unklar bleibt nur, warum es dann nicht »Black, Female and Queer Lives Matter« heißt, um ganz der spezifischen Genese der Bewegung gerecht zu werden. Offenbar kommt dem Schwarzsein ein irgendwie überragender Wert in der Opferhierarchie zu. So will man zum einen »intersektional« sein, quasi alle Unterdrückten der Geschichte hinter sich versammeln, zum anderen soll sich die bunte Intersektionalität der Bewegung dann wieder in der Befreiung der Schwarzen bündeln.

»Wenn die Schwarzen frei werden, werden alle frei«, schreibt Alicia Garza dazu. Und hier findet sich eben doch ein Krypto-Nationalismus oder Krypto-Ethnizismus im Herzen von Black Lives Matter. Die Erzählung vom Leiden der Schwarzen während und infolge der Sklaverei ist zu einer erlösenden Geschichte für alle Menschen geworden. Jetzt versteht man besser, warum manche Aktivisten sich sogar an der hellen Haut von Jesus stören. Und dabei ist die Befreiung der amerikanischen Schwarzen nun schon 150 Jahren her.

Im selben Aufsatz fährt Garza mit einigen »Fakten« über die Benachteiligung Schwarzer in den USA fort. Wir lernen also, dass

a) die Armut und die erhöhte Mortalität der Schwarzen das Werk staatlicher Gewalt sind und
b) eine Million Schwarze durch dieselbe staatliche Willkür »in Käfige« eingesperrt seien, was die Hälfte aller Häftlinge ausmacht;
c) der Staat ist bei Garza auch für die Ausgrenzung von »Black queer and trans folks«, also homo- und transsexuellen Schwarzen, verantwortlich;
d) auch solidarisiert sie sich mit den 500.000 Immigranten ohne Papiere, die – raten Sie! – ebenfalls die Opfer staatlicher Gewaltausübung sind, und wenn
e) junge schwarze Frauen in Kriegszeiten zur Handelsware werden, ist das natürlich ebenso das Ergebnis staatlicher Gewalt.

Man muss die Reihung nicht fortsetzen, um zu verstehen, wie diese Rhetorik funktioniert. Es ist ein Denken voller Verschwörungsfloskeln: »Black genocide«, »Black people locked in cages«, Mädchenhandel als »state violence«.

Viktimologie voller Verschwörungsfloskeln

Gemeint ist mit all diesem Gerede von staatlicher Gewalt und Willkür natürlich ein struktureller, systemischer, endemischer Rassismus, der, da er vom »Staat« kommt, auch mit dessen Mitteln ausgemerzt werden muss. Man denke an Affirmative Action und Sozialhilfe, natürlich bei Auflösung von Polizei und Strafjustiz. Und so kommen wir auch ganz zwanglos wieder zum begründenden Neo-Marxismus der Gründerinnen zurück.

— United We Stand Divided We Fall, Blue lives Matter (@Justice4Matty) June 28, 2020

Entscheidend erscheint Garzas Fazit, dass man sich – trotz der verschiedenen Opfergruppen – auf Schwarze zu konzentrieren hat. Wenn man etwas wie »All Lives Matter« formuliert, löscht man demnach die Tatsache aus, dass die BLM-Bewegung irgendwo begann. Es gibt da offenbar so eine Art Urheberrecht in der modernen Opfertheorie, englisch »victimology«. Die Schwarzen werden zu Bannerträgern einer allgemeinen Viktimisierung, die vom »Staat« und der Gesellschaft – am Ende vielleicht auch noch vom »Demos«, in dem der Rassismus »endemisch« ist? – Wiedergutmachung verlangt.

Doch über diese Viktimologie hinaus ist sehr wohl zu erkennen, dass es den BLM-Organisatorinnen letztlich um Macht und Einfluss geht. Und nichts könnte legitimer sein für eine politische Gruppierung. Nur sollte man diese Macht dann vielleicht auf einem ordentlichen, vielleicht sogar auf demokratischem Wege gewinnen.

Der britische Ableger von Black Lives Matter (BLM UK) hat sich in seinem Twitter-Account noch einige Forderungen mehr einfallen lassen, die die Bewegung sozusagen an die europäischen Bedingungen anpassen. Man fordert und behauptet unter anderem dies:

1. »Dismantle capitalism«, also die Demontage oder Zerlegung des Kapitalismus. Das englische Wort bleibt vage. Es könnte auch Abriss, Auflösung oder Dekonstruktion bedeuten und schwankt so zwischen den Bedeutungen eines Großreinemachens und dem Rückbau, der Zerstörung der bestehenden Wirtschaftsordnung.

2. Der Klimawandel ist rassistisch: Da schwarze Menschen per definitionem ärmer sind als weiße, ist offenbar auch das Fliegen – die klimaschädliche Tätigkeit schlechthin – ein Akt des Rassismus. BLM UK reimte daher in seinem Twitter-Feed: »Black people are the first to die, not the first to fly, in this racist climate crisis.«

3. Insofern ist natürlich auch Arbeitslosigkeit »Gewalt« und muss vermutlich abgeschafft werden, weil auch sie Schwarze stärker trifft als Weiße.

4. Die Abschaffung des britischen Grenzschutzes und von Gefängnissen, wie schon in den USA gesehen.

5. Die Abschaffung der britischen Polizei (Abolitionismus). »Reformisten« werden als Abweichler ausgeschlossen.

6. Keine »Stop-and-search«-Kontrollen der britischen Polizei mehr. Bei den Kontrollen werden Personen auch ohne starkes Verdachtsmoment auf Messer, Drogen und ähnliches hin untersucht. Dabei lohnt es sich zu bedenken, dass nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer dieser Gewalt überdurchschnittlich häufig ethnischen Minderheiten angehören, wie BBC News letztes Jahr berichtete: »In 2018, figures from the mayor’s office showed that young black and minority ethnic teenage boys and men were disproportionately affected, as both victims and perpetrators.«

7. BLM UK hält außerdem die Berufung von Munira Mirza, die pakistanischer Herkunft ist, als Beraterin des Premierministers für einen Akt des Rassismus. Man glaubt, dass die Suffragetten, die vor hundert Jahren das Wahlrecht für Frauen erkämpften, die Verfestigung von »White power« begünstigt hätten; und dass Wohltätigkeitsorganisationen »Kolonialisten« im neuen Gewand seien. Über das Letztgenannte lässt sich vielleicht diskutieren. Der Rest dieser Glaubensbekenntnisse läuft auf eine sehr eng umgrenzte Vorliebe für eine bestimmte Ethnie und ein bestimmtes moralisches Interesse hinaus.

Daneben übernimmt der Account von BLM UK zahlreiche Tweets der Gruppe »Green & Black Cross« (GBC), die eine Art Infrastruktur für den Straßenprotest bereitzustellen scheint. Der Farbcode lässt ahnen, wofür die Leute vom »grün-schwarzen Kreuz« hüpfen, wenn sie nicht gerade gegen die Polizei mobilisieren.

Auf der Website der Gruppe finden sich zahlreiche Ratschläge, wie man eine Protestaktion organisiert und sich dabei der Polizei erwehren kann. So wird davon abgeraten, die Polizei vorab über eine »Aktion« zu informieren. Denn das könnte durchaus zu größerer Polizeipräsenz führen. Sogar bei Protestmärschen, für die eine Anmeldung eigentlich notwendig ist, wird darauf hingewiesen, dass viele Organisatoren »sich dafür entscheiden«, die Polizei nicht vorab zu informieren. Man schwankt offenbar zwischen Deeskalation (zu den eigenen Gunsten) und Eskalation (für die Gegenseite, die zufälligerweise von der Polizei und dem Rechtsstaat gebildet wird).

Extremere Formen des Protests kündigen sich indes auf kleinen Zetteln an.

Bei BLM UK haben sich zwei Dinge vereinigt: Der Opfermythos der Schwarzen und die Wokeness vieler junger Briten. Es ist eine originelle Mischung, doch ohne den ethnischen Hochdrucktopf der USA wird sie wohl kaum ernsthafte Folgen für die britische Politik zeitigen.


Im ersten Teil ging es um eine sechsjährige Chronik des Protests, der Unruhen und Gewaltausbrüche mit fast immer ähnlichem Anlass. Der dritte Teil behandelt die Verbindungen zwischen Black Lives Matter USA und der Demokratischen Partei.

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