»Schlimmer geht’s immer« – eine fürwahr wichtige Lebensweisheit heute. Doch, sehen wir es positiv: Wenn es morgen schlimmer wird, dann sind das hier die »guten alten Tage«!
Am Dienstag den 24. Juni 2020 stellte ich bei Twitter eine simple Frage. Ihre/Eure Antworten sind zahlreich und großartig – und sie sind es immer noch!
Die gestellte Frage:
Was sind die wichtigsten Lebensregeln, die ihr gelernt habt und weitergeben wollt? (@dushanwegner, 23.6.2020, und ähnlich auf Facebook)
Meine Motivation zu dieser Frage ist schnell erklärt. Unser Fundament bröckelt weg. Die »Schulden an die Wahrheit«, welche die selbsterklärt »Guten« in unserem Namen anhäuften, werden nun eingefordert. Es bricht auseinander, das Land bricht auseinander – die Gesellschaft ist schon längst stellenweise auseinandergebrochen.
Ich lade Sie herzlich ein, alle Ihre Antworten zu lesen, auf Twitter wie auch auf Facebook. Ich will heute eine der Lebensregeln herausgreifen und auf aktuelle Tagesereignisse anwenden – und wenn Sie diesen Text mögen, werde ich es mit weiteren Ihrer Lebensweisheiten ebenso angehen!
Was Melvin sagt
Sicher, ich weiß, »Melvin Udall« ist wahrscheinlich nicht der richtige Name des Twitterers @MelvinUdallNY (Melvin Udall ist Jack Nicholsons Figur im großartigen Film As Good as It Gets), doch wenn jener anonyme Nutzer diesen Namen als Pseudonym wählte, dann zeugt das von seiner Liebe zum geschriebenen Wort von zynischen alten Männern, was nicht vollständig fremd klingt – dieser anonyme Bruder-im-Geiste (oder Bruderin, wer weiß das schon?) schreibt als Lebensregel:
Schlimmer geht’s immer! (@MelvinUdallNY)
»Was für eine pessimistische Lebensregel!«, höre ich Sie ausrufen, und es wäre verständlich. Wir werden es prüfen, doch zunächst die Variante eines weiteren Weisen aus den Tiefen des WWW:
Rechne mit dem Schlimmsten und freu Dich, wenn es besser kommt. […] (@ergroovt)
Diese Variante jener Lebensregel ist immerhin um die Möglichkeit erweitert, dass es entgegen unserer nervösen Erwartung doch noch gut werden könnte – oder zumindest nicht-ganz-so-schlimm.
Prüfen wir den Wahrheitsgehalt jener Aussage – was hört man denn dieser Tage so in den Nachrichten?
Diesmal drei Gruppen
Wir hatten ja gehofft, dieses rätselhafte COVID-19 wäre erfolgreich niedergerungen, und dann hörten wir vom Corona-Ausbruch im Gütersloher Fleischbetrieb des Herrn Tönnies – man berichtet sogar im Ausland darüber (bbc.com, 23.6.2020) – wohlgemerkt während die Zahl der Corona-Toten etwa in Lateinamerika die Hunderttausend-Grenze knackt (@bbc.com, 23.6.2020). Weltweit betrachtet ist Cobid-19 nicht überwunden.
Unter der Tönnies-Belegschaft, so berichtet der deutsche Staatsfunk (tagesschau.de, 23.6.2020), wurden inzwischen 1.500 Angestellte positiv auf das China-Virus getestet. Österreich hat reagiert und schon mal eine Reisewarnung für den Kreis Gütersloh verhängt (bild.de, 23.6.2020).
»Schlimmer geht’s immer!«, so lehrt uns jene Lebensweisheit. Stimmt sie denn? Noch aktueller lesen wir: »Nach Tönnies-Skandal: Corona-Ausbruch jetzt auch beim Geflügelzüchter Wiesenhof« (focus.de, 24.6.2020).
Die Debatte wird sich wieder in Gruppen aufteilen. Wie gehabt wird es jene geben, die lieber vorsichtig sind. Es wird jene geben, die praktisch jede Vorsichtsmaßnahme ablehnen – und, jetzt neu, nun auch jene, die zwar prinzipiell lieber vorsichtig wären, doch sich schwer tun, einen Staat ernst zu nehmen, der spazierenden Familien mal eben 1.000 Euro Buße dafür aufdrückt, aber unerklärlicherweise wegschaut, wenn sich tausende Linke zur politisch korrekten Demonstration versammeln.
Relativ gut, relativ schlecht
Diese halbsarkastische Lebensweisheit, wonach alles schlimmer wird, beschreibt nicht etwas Abgeschlossenes, wie wenn wir »alles wurde schlimmer« gesagt hätten – hier wird ein jetzt andauernder Vorgang beschrieben.
In der Welt jener Spruchweisheit wird eine Situation potentiell von einem (relativ) guten Zustand in einen (relativ) schlechten überführt.
Wir nennen einen Zustand oder eine Handlung gut, wenn Strukturen, die wir als relevant empfinden (Familie, Land, etc.), gestärkt werden – und entsprechend böse oder schlecht, wenn relevante Strukturen geschwächt werden (Näheres zu relevanten Strukturen natürlich im gleichnamigen Buch).
»Schlimmer geht’s immer!« ist im Kern eine flapsigere Formulierung des Stingschen Refrains »How fragile we are« – »Wie zerbrechlich wir sind« (siehe dazu den Essay vom 24.5.2020). Unser Glück, die Ordnung, die wir als gut und richtig empfinden, all dies ist zerbrechlich, so zerbrechlich – schlimmer geht’s immer.
Wer spürt, fühlt und ahnt denn nicht, dass Corona bald mehr ein Symbol ist für andere Dinge, die in der Gesellschaft nicht stimmen. Mehr Angst vor dem Corona-Virus habe ich vor dem Virus der Dummheit, den der verfluchte Staatsfunk jede Nacht in die Häuser und Herzen der Menschheit pumpt – und bei jenem Virus fürchte ich mehr als nur noch ein oder zwei »Wellen«. Was die von oben propagierte Dummheit angeht, ist Deutschland längst Teil der Welle.
Nicht nur »ein klein wenig«
Dass die Formulierung »schlimmer geht’s immer« nicht auf einen abgeschlossenen Vorgang verweist, sondern dass sie auf die Zukunft verweist, das enthält natürlich ein klein wenig Drohendes – nein, nicht nur »ein klein wenig«.
Ich bin mir sehr wohl der Tatsache bewusst, dass es zugleich zynisch und etwas naiv klingt, wenn ich sage: Wenn es schlimmer werden kann – und mit einiger Wahrscheinlichkeit werden wird – dann bedeutet dies logisch, dass dies und heute gewissermaßen »die guten alten Zeiten« von morgen sind.
Reichlich (unruhigen) Schlaf
In Texten wie »Die letzten Tage des Westens« (19.2.2017) oder »Der Zahltag ist angebrochen« (22.6.2020) habe ich selbst einst gemahnt und schließlich konstatiert, dass das neue Bett, das wir uns bereiten, uns unruhigen Schlaf bescheren könnte.
Die Gewitterwolken am Horizont sind dunkel und drohend – doch wenn es wirklich schlimmer wird, dann bedeutet dies eben auch, dass heute noch die guten alten Tagen sind. Man könnte den genannten Melvin Udall zitieren, jene Frage, die er dem versammelten Wartezimmer stellt, nachdem er beim Psychotherapeuten herausgeworfen wird (die Szene bei YouTube) – und den Titel jenes Filmes: »What if this is as good as it gets?« – In etwa: »Was, wenn dies so gut ist, wie es eben gut werden kann?«
Entweder wird alles nicht schlimmer, dann wäre das ein Grund zur Freude – oder es wird schlimmer, dann sind das hier die »guten alten Tage«, und umso wichtiger ist es, sich über jeden Moment zu freuen, jeden dieser Tage wertzuschätzen – und vielleicht auf Wunder zu hoffen.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.
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Ob die Zahl der Corona-Toten etwa in Lateinamerika die Hunderttausend-Grenze knackt, sei dahingestellt. Es könnte auch sein, daß dort gerade auf den ersten Fall „an“ Corona/Covid-19 gewartet wird.
Falsch , Herr Wegner !
Völlig falsch , ihre Auffassung auf Wunder zu hoffen …..
Es wird über kurz oder lang zu einem Art Krieg kommen ( müssen ) ,
damit sich die Dinge ändern ( können ) .
Zuerst wird es zu einer Katharsis der Seelen und Hirne , dann zu einer
Reinigung auf den Straßen kommen …..
Warten wir es ab , dann sehn wir es schon !
Der Krieg hat bereits begonnen.
Auf der einen Seite: Schluchzende Hipster, die Schwierigkeiten haben, den Tofu zu tranchieren, Menschen aus einem Land der rosa Wölkchen und glücklichen Kaninchen und ein Millionenheer von mehrheitlich weiblichen Ephialtessen.
Auf der anderen: Ein unerschöpfliches Reservoir von muskelbepackten Schlagetots, deren grimmige Entschlossenheit bis zum rituellen Kannibalismus geht (Gugel: Pamela Mastropietro in Macerata).
Das kann ja wohl nur mit einem Sieg der Heulsusen- und Bettnässerfraktion enden, oder?
Die Wut, Herr Wegner, Sie vergessen immer die Wut, die die „Schulden an die Wahrheit“ erzeugen. Bei denen erzeugt, an deren Tür der Schuldeneintreiber trommelt, obwohl Andere die Schulden machen.
Das ist eine anthropologische Unausweichlichkeit, diese Wut, egal ob gegen sich selbst oder gegen die, die einem die „Mitschuld“ eingebrockt haben.