Marcel Reich-Ranicki überlebte die Schrecken des Warschauer Ghettos, wurde Deutschlands wichtigster Literaturkritiker und im Alter eine Art Pop-Star. Heute wäre er 100 Jahre alt geworden. Pünktlich ist die Biografie von Uwe Wittstock neu aufgelegt worden. Von Ansgar Lange.
Am 2. Juni wäre der Literaturkritiker Marcel-Reich Ranicki einhundert Jahre alt geworden. Im Nachrichtenmagazin Focus hat Uwe Wittstock die einzelnen Lebensabschnitte Reich-Ranickis, der am 18. September 2013 verstorben ist, mit sieben plakativen Überschriften versehen. 1. Zeitzeuge, Agent, Konsul, 2. Heimatsucher, Außenseiter, 3. Jude, Atheist, Ruhestörer, 4. Kritiker und Kritisierter, 5. Literaturchef, Literaturvermittler, 6. Freund, Widersacher, 7. Medienstar. Wer es etwas ausführlicher mag, der sollte zu Wittstocks Biographie mit dem Titel „Marcel Reich-Ranicki“ greifen, die erstmals 2015 erschienen ist, und nun als erweiterte und überarbeitete Taschenbuchausgabe vorliegt (Piper Verlag).
Der britische Schriftsteller Alan Bennett notierte am 3. Juni 1985 über seine Lektüren: „Ich lese Biographien immer von hinten. Wenn es mir gefällt, dann lese ich auch den Rest. Die Kindheit interessiert mich meistens überhaupt nicht“. Dem Rezensenten geht es ähnlich. Aber noch aus einem anderen Grund bietet es sich an, bei der Besprechung dieser Lebensbeschreibung einen Schwerpunkt zu setzen. Über seine frühen Jahre hat Reich-Ranicki selbst in seinem 1999 erschienen Buch „Mein Leben“, das ein Bestseller und sogar verfilmt wurde, Auskunft gegeben. Diese Rezension wird den Schwerpunkt auf seine Zeit als deutscher Literaturkritiker legen, der zwar in Deutschland nach den schrecklichen Verbrechen des Nationalsozialismus keine Heimat mehr sehen konnte, dafür aber umso mehr in der deutschen Literatur heimisch war und später auch in Frankfurt. Dass die Vergangenheit nie vergehen sollte, zeigt sich darin, dass Reich-Ranicki auch in seinen späteren Jahren immer wieder mit den Schrecknissen des „3. Reiches“ konfrontiert wurde.
Über Nacht Literaturkritiker
Dass Reich-Ranicki einmal der deutsche „Literaturpapst“ werden sollte, der dem Namen nach laut Umfragen fast 100 Prozent der Deutschen ein Begriff war, war beileibe nicht abzusehen. Im Warschauer Ghetto hatte er kaum gelesen, und in den ersten Nachkriegsjahren konzentrierte er sich ganz auf seine politische Arbeit: „Die Literatur schien mir ein Erlebnis meiner frühen Jahre – und nicht mehr.“ Als er in Polen aus allen Ämtern und der kommunistischen Partei vertrieben wurde, entschied sich MRR, so sein Kürzel, quasi über Nacht, Literaturkritiker zu werden. Schon sein Lehrer in Berlin hatte ihm das prophezeit. Nach eigenen Angaben wandte er sich Anfang der 1950er Jahre auch immer mehr vom Marxismus ab. Mit seiner polnischen und kommunistischen Vergangenheit schloss er schließlich ab und wollte nur eins sein: ein deutscher Literaturkritiker. Im schon recht fortgeschrittenen Alter von 38 Jahren brach er somit zu völlig neuen Ufern auf.
„Wohl Jude, wie?“
Recht bald sollte ihn der damalige Literaturchef der FAZ, Friedrich Sieburg, der als eine Art früher Literaturpapst der Bundesrepublik galt, als lästige Konkurrenz wahrnehmen. Sieburg war überdies nicht völlig unbelastet, was seine Vergangenheit anging. „In der Person Friedrich Sieburgs wird das Dilemma der ästhetischen Existenz, des Wort- und Ideenspielers, in einer Epoche der moralischen Entscheidungszwänge offenbar“, schreibt Joachim Fest in einem Porträt über Sieburg. Fest sollte in späteren Jahren – bis zum Bruch aufgrund des sogenannten „Historikerstreits“ – zu einem wichtigen Weggefährten Reich-Ranickis bei der FAZ werden. „Wohl Jude, wie?“, soll Sieburg den damaligen Polen-Korrespondenten der FAZ, Hansjakob Stehle, gefragt haben, als dieser ihm Reich-Ranicki vorgestellt hatte.
Schließlich kündigte der Ältere dem Jüngeren, in dem er wohl den künftigen „Großkritiker-Konkurrenten“ (Wittstock) sah, die Mitarbeiterschaft bei der FAZ, weil dieser seiner Auffassung nach zu viele Aufsätze für die Welt verfasst hätte. MRR wechselt zur Zeit als Hauptarbeitgeber. Erst 1973 wechselte er wieder zur FAZ, als er das Angebot erhielt, unter dem für das Feuilleton verantwortlichen Mitherausgeber Joachim Fest zum Literaturchef zu werden.
In seinen Hamburger Jahren fühlte sich Reich-Ranicki trotz seines steigenden Einflusses als Außenseiter und häufig einsam. Er arbeitete in dieser Zeit nur vom eigenen Schreibtisch aus und wurde zu den Redaktionskonferenzen der Zeit nicht eingeladen. Und auch die Intellektuellen, die sich sonst gern immer so weltoffen und tolerant geben, empfanden das vorlaute Naturell des Kritikers, der sich nicht den Mund verbieten ließ, als unbequem. Es gab zahlreiche Versuche, ihn von den Treffen der „Gruppe 47“ auszuschließend. Schon damals machte man ihm Vorwürfe, die später wiederkehren sollten, als er das „Literarische Quartett“ beim ZDF moderieren sollte. MRR, so der Vorwurf, betrachte Literaturkritik nicht ausschließlich als intellektuelle Auseinandersetzung mit einem Buch, sondern als Versuch, Einfluss auf den Buchmarkt auszuüben. Auch sein impulsives Temperament und seine Meinungsfreude sollten im Laufe der Jahre bei Großschriftstellern wie Böll, Grass oder Walser nicht immer gut ankommen. „Jede Kritik, die es verdient, eine Kritik genannt zu werden, ist auch eine Polemik“, so sein Leitspruch. Unter linken Schriftstellern genoss er den zweifelhaften Ruf eines konservativen Kritikers. Im Spiegel wurde er sogar als „Klassenbester in Verfassungstreue“ geschmäht. Es verwundert nicht, dass der äußerlich so erfolgreiche und mächtige Kritiker das Gefühl des Fremdseins und des Außenseitertums in dieser Zeit nie ganz ablegen konnte. Als der Hitler-Biograph Joachim Fest ihn schließlich fragte, ob er die Literaturredaktion der FAZ übernehmen wollte, musste Reich-Ranicki nicht lange überlegen. Eingebunden in einen ganz normalen Redaktionsalltag, den er bei der Zeit so nicht gekannt hatte, wurden die FAZ-Jahre von 1973 bis 1988 zumindest beruflich zu seinen glücklichsten Jahren. Mit 53 Jahren stand ein neuer Lebensabschnitt an.
Literaturkritik für die Leser
Fest ließ seinem Starkritiker in den 1970er und 1980er Jahren weitestgehend freie Hand. Beider literarisches Vorbild war Thomas Mann. Für moderne Literatur interessierte sich der im Auftreten betont distanzierte und kühle Fest im Gegensatz zu seinem impulsiven Untergebenen überhaupt nicht. Nach der Ära von Karl Heinz Bohrer ging es ihnen aber jetzt vor allem darum, in der FAZ eine Literaturkritik zu etablieren, die sich dem Publikum zuwandte und deutlich journalistischer wurde. MRR erwies sich Wittstock zufolge „als ein nahezu unerschöpfliches redaktionelles Kraftwerk“, er organisierte lautstarke Debatten und war nun nicht mehr als Solist wie bei der Zeit tätig, sondern als „Dirigent“, dem ein ganzer FAZ-Literaturapparat zur Verfügung stand. Mit der politischen Linie des Frankfurter Weltblattes und den Leitartikeln stimmte er jedoch häufig nicht überein. Bei all dieser angestrengten Aktivität gelang es ihm offenkundig, die Schrecken seiner Biographie zunächst nach außen hin hinter sich zu lassen. „Von seinen Erlebnissen während des Holoaust hat Reich-Ranicki in jenen Redaktionsjahren kaum je geredet“, schreibt sein Biograph. Dies sollte den Schriftsteller Robert Menasse laut Wittstock nicht von der Infamie abhalten zu behaupten, nach dem Holocaust hätten die Deutschen zur Beruhigung ihres Gewissens „einen polnischen Juden zum Literaturpapst gewählt“. Das zeigt, dass auch andere dem oft hart und verletzend urteilenden MRR nichts schenkten.
Der Popstar
Nach seiner aktiven Zeit bei der FAZ und dem Bruch mit Fest aufgrund des „Historikerstreits“ wurde aus dem Literaturpapst der „Popstar“ Reich-Ranicki, der vor einem Millionenpublikum im Fernsehen Literatur besprach und nach Herzenslust polemisierte. Die Einnahmen aus seinen Erinnerungen „Mein Leben“ machten MRR zu einem finanziell sehr unabhängigen Mann. Bevor er mit 93 Jahren in seiner neuen Heimat Frankfurt am Main verstarb, hatte er in seinen letzten Jahren mehr und mehr die Lebensenergie und sogar die Lust an der Literatur verloren. Die letzten Zeilen von Wittstocks Biographie lassen den Leser betroffen zurück. Da zitiert dieser nämlich Reich-Ranickis Sohn Andrew: „Mein Vater (…) hat mir gesagt, vor etwa zwei Jahren, nachdem meine Mutter verstorben ist, es wäre ein Novum in der neueren Geschichte unserer Familie, dass wir überhaupt ein Grab haben. Weder seine Eltern noch sein Bruder noch die Eltern meiner Mutter haben ein Grab.“
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„Ich nehme diesen Preis nicht an“… was der wohl erst heute zu den aktuellen Medien sagen würde 🙂
Was mir an ihm immer so gefallen hat war sein gesamter Körpereinsatz in Mimik und Gestik, gepaart mit großem Wissen, nie langweilig und auch angriffslustig, dabei nicht ehrverletzend und doch aussagekräftig und solche Typen im wörtlichen Sinne gibt es heute nicht mehr, schade was uns derzeit noch geboten wird und trotzdem hat er alles selbst erschaffen und wurde nie müde seine Thesen zur Literatur zu verkünden, manchmal schrill oder leise, aber er war nun mal einzig und ist für mich unersetzlich.
Er fehlt. Heute wird ein Werk fast nur noch verissen, wenn die „Haltung“ nicht die gewünschte ist. Ansonsten, alles so toll hier.
Da kann man sich nur verneigen. Das war noch einer. Ein Original. Ich kann mich noch erinnern, als ich mir das Buch „Zwölf Geschichen aus der Fremde“ von Gabriel García Márquez kaufte, weil MRR es im Literarischen Quartett über den grünen Klee lobte. Ich weiß nicht mehr genau welche Meinung Frau Löffler dazu hatte und ob Karasek hat ausgleichend beschwichtigen können, aber die Diskussion war sicherlich wie immer sehr vergnüglich. Ich schaute gerade mal nach – meine Güte, die Sendung lief am 18. März 1993 und ich war gerade 18 Lenze. Eine Zeit in der es noch Qualitätsfernsehen im ZDF… Mehr
Der Lyriker Peter Rühmkorf saß mal im März 1989 mit Marcel Reich-Ranicki im Auto und schilderte in seinem Buch „TABU I – Tagebücher 1989-1991“ eine wohl typische Szene mit dem Literaturpapst: „Auffällig auch diesmal wieder [Reich-Ranickis] Nervosität, wenn ein Gesprächsfaden sich eigentlich abgespult hat und er für Sekunden die eigene Stimme nicht mehr hört. Als im Taxi kurzfristig Ruhe eingekehrt war und er offenbar meinte, die Welt habe aufgehört zu existieren: „Hhhhmmmmmm – jääääää – ja –ja – ja – ja – mein Lieber – sagen Sie –“ (dazu automotorisierendes Schenkelgeklopfe und Fingergetrommel auf dem heftig resonierenden Handschuhfach) – aber… Mehr
Mit den Lobhudeleien eher mal den Ball flach halten. Er war auch ein exzentrischer Egomane und hat so manchen Unsinn verzapft.
Sehr seltsamer Kommentar. Ich würde mir nicht anmaßen über jemanden mit seiner Biographie so ein Urteil zu fällen!
Exzentrische Egomanen sind das Salz in der Suppe jeder Zivilisation – man darf sie nur nicht in die Politik lassen.
Wer sich selbst nicht zu schätzen weiß, hat auch für seine Mitmenschen zumiest nicht viel übrig.