Im Zoo von Cincinnati fiel jüngst ein Kind in das Gorilla-Gehege. Um den Jungen zu retten, erschossen Rettungskräfte den Affen. Die öffentliche Debatte wendete sich danach gegen die Mutter des Kindes – und offenbarte so, dass unter dem Mantel des Tierschutzes oft der ungezügelte Hass auf die Menschen brodelt - von Matthias Heitmann.
Misanthropie ist ein großes Wort; seine Bedeutung und Relevanz in der heutigen Gesellschaft zu erklären, ist nicht immer ganz leicht. Als Misanthrop gilt jemand, der die Menschen oder die Menschheit hasst – und das, wofür sie steht. Diese Geisteshaltung hüllt sich in unterschiedliche Gewänder, um nicht sofort auf grundsätzliche Ablehnung bei anderen Menschen zu stoßen. Die Tarnung verändert sich, je nachdem, welche weniger kontroversen Geisteshaltungen als solche dienen können.
Da Misanthropie als solche Menschen nicht zu Jubelstürmen hinreißt, begegnet man ihr nur sehr selten in Reinform. Zumeist erscheint sie als ihr glattes Gegenteil, nämlich als Zugewandtheit zu den Schwachen, als lebensbejahende und mitfühlende Zivilisationskritik, als menschlichen Regungen folgende und umsichtige Besorgtheit oder aber als rigorose Ablehnung unmenschlichen Denkens und Handelns.
Die Tarnung ist zuweilen so gut, dass sie nicht auffällt und sogar in Vergessenheit gerät – selbst bei denen, die sie tragen. So werden viele Menschen, ohne sich viele Gedanken darüber zu machen, selbst zu unbewussten Trägern und unfreiwilligen Verbreitern misanthropischen Denkens.
Umwelt- und Tierschutz sind besonders anfällig
Gleichwohl gibt es Themenbereiche, in denen die Misanthropie schlechter getarnt ist als in anderen. Zumeist ist die Tarnung überall dort weniger ausgefeilt, wo kaum Kritik existiert oder diese kaum zu befürchten ist. Es gibt in diesen Themenfeldern in der Regel niemanden, der danach trachtet, Misanthropie zu enttarnen. Doch manchmal geschieht es dennoch, dass die Tarnung auffliegt, etwa durch besondere Umstände oder besondere Ereignisse. Ein solches Ereignis fand kürzlich im US-Bundesstaat Ohio statt, und der Themenzusammenhang ist der Tierschutz.
Am 28. Mai 2016 zwängte sich im Zoo von Cincinnati ein vierjähriges Kind, das sich kurzzeitig der Aufmerksamkeit seiner Mutter entzogen hatte, durch die Schutzbarriere des Gorilla-Geheges und fiel mehrere Meter tief in die Affengrube. Dort schnappte sich das ausgewachsene, 17 Jahre alte und knapp 200 Kilogramm schwere Gorilla-Männchen „Harambe“ das verletzte Kind und zerrte es ziemlich aufgebracht und irritiert zehn Minuten durch das Gehege. Schließlich entschlossen sich die herbeigerufenen Rettungskräfte dazu, den Gorilla zu erschießen, um das Kind zu retten, was dann auch geschah und glückte.
Thayne Maynard, der Direktor des Zoos in Cincinnati, berichtete anschließend, dass es zum Töten des Menschenaffen leider keine Alternative gegeben habe, da eine Betäubung nicht schnell genug gewirkt hätte und dadurch das Kind in noch größere Gefahr geraten wäre. „Das ist ein rundum schrecklicher Tag“, sagte er sichtlich mitgenommen vor laufenden Kameras. Dennoch, ergänzte er, würde er diese Entscheidung wieder genau so treffen.
Petition übt Kritik an den Eltern
Solche Vorfälle in Zoos sind in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer wieder geschehen. Sie sind auch immer Gegenstand hitziger Diskussionen, zumeist über Sicherheitsfragen. Auch in Cincinnati wird man grundlegend über das Thema Sicherheit der Zoo-Besucher zu reden haben. Und sicherlich ist es auch bedauerlich, dass ein so stattliches Tier wie Harambe wegen unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen getötet werden musste.
Neu in der aktuellen Debatte war aber die Vehemenz, mit der in der Öffentlichkeit die Entscheidung kritisiert wurde, das Menschenleben über das eines Gorillas zu stellen und letzteren zu töten, um das Kind zu retten. In den sozialen Netzwerken sammelte sich die Wut gegenüber den Zoo-Mitarbeitern – und gegenüber der Mutter des Kindes. Da sie nicht auf ihr Kind aufgepasst habe, trage sie die Schuld für den „sinnlosen Tod“ von Harambe, heißt es vonseiten selbst erklärter Tierschützer.
Mittlerweile haben mehrere hunderttausend Menschen eine Online-Petition mit dem Titel „Gerechtigkeit für Harambe“ unterzeichnet, in der gefordert wird, „die Eltern wegen Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht, die wiederum zum Tod von Harambe geführt hat, zur Rechenschaft“ zu ziehen. Darüber hinaus erheben die Unterzeichner die Forderung, „die familiären Verhältnisse des Kindes zu prüfen, um es und seine Geschwister vor künftigen Vorfällen zu schützen, welche durch die Nachlässigkeit der Eltern hervorgerufen werden und zu schweren Körperverletzungen oder sogar zum Tod führen könnten“.
Kein Mitleid für die Mutter
Wie gesagt, tritt Misanthropie selten in Reinform auf. Kratzt man indes ein wenig an der wohlfeilen Oberfläche manch liebgewonnener Denkstrukturen, wie etwa an der des Umweltschutzdenkens, so stößt man schnell auf Aussagen, in denen der Verdruss gegenüber der Menschheit unverblümt zum Ausdruck kommt: Häufig ist hier vom Menschen als „Krebsgeschwür der Erde“, zumindest aber als „Zerstörer des irdischen Lebens“ die Rede, dessen Anzahl und dessen Einfluss auf unseren Planeten es daher nachhaltig zu reduzieren gelte.
Noch schneller als beim Thema Umweltschutz aber bröckelt die so bunt und liebevoll bemalte „menschliche“ Fassade beim radikalen Tierschutz. Die Reaktionen auf das Unglück von Cincinnati zeigen, wie erschreckend weit mittlerweile misanthropische Vorstellungen verbreitet sind.
Denn während Tierschützer und aufgebrachte Facebook-Clicktivisten der Mutter des Jungen direkt die Fähigkeit absprachen, auf ihr Kind aufpassen zu können, verschwendeten sie keinen Gedanken daran, welche unvorstellbaren Ängste die Mutter wohl ertragen hatte. Mit „R.I.P. Harambe“-Schildern ausgestattet, betrauerten sie öffentlich den Tod eines Affen, um im nächsten Moment die Eltern des geretteten Jungen wegen Unmenschlichkeit an den Online-Pranger zu stellen.
Auswuchs einer grassierenden Alltagsmisanthropie
Eine solche Geschichte kann man gar nicht erfinden. Und es fällt schwer, für diese Geisteshaltung Verständnis aufzubringen. Sie ist nur durch eine grundlegende Enthumanisierung des Denkens und Fühlens zu erklären, wie man sie ansonsten nur bei Terroristen antrifft – wobei selbst diese in ihrer eigenen Gedankenwelt behaupten, das Wohl der Menschheit anzustreben.
Wohlgemerkt: Es handelt sich bei den Reaktionen auf Cincinnati um extreme Auswüchse. Es wäre aber falsch, diese als das Werk „durchgeknallter“ und „weltfremder“ Sonderlinge einzustufen. Tatsächlich sind Geringschätzung und Verachtung des Menschen und der Menschheit gang und gäbe, sie prägen unsere Welt in nahezu allen Bereichen – auch wenn wir sie nicht überall so deutlich sehen können wie hier.
Die Menschen, die zu Hunderttausenden die Petition „Gerechtigkeit for Harambe“ unterzeichnet haben, denken die Alltagsmisanthropie lediglich systematisch zu Ende. Sie führen uns somit sehr drastisch vor Augen, was passiert, wenn wir weiterhin den Menschen und das Menschliche nicht mehr als Dreh- und Angelpunkt unserer Welt, sondern als Ursache ihres Niedergangs betrachten.#
Matthias Heitmann ist freier Publizist und Autor des Buches „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ (TvR Medienverlag, Jena 2015, 19,90 EUR). Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de. Dieser Artikel ist zuerst am 6. Juni 2016 bei Cicero Online erschienen.
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