Schwere Vorwürfe der IG Medizin gegen Jens Spahn und seine Vorgänger

Kritische Mediziner außerhalb der traditionellen Standesvertretung kritisieren Jens Spahn und seine Vorgänger im Amt des Gesundheitsministers. An die Stelle Spahns drängelt sich Karl Lauterbach von der SPD.

imago Images/photothek

Wer ist eigentlich für die Gesundheitspolitik verantwortlich? Die Pressekonferenzen werden von Merkel, Söder, Tschentscher sowie Wieler vom Robert-Koch-Institut bestritten. In den Talkshows sieht man Armin Laschet, Markus Söder, Christian Lindner und Co. Jens Spahn als der zuständige Ressortminister kommt selten vor. Dafür Karl Lauterbach satt. Er tritt als oberster Gesundheitspolitiker auf, verbellt jeden Kritiker. Er darf sich auslassen über alles, obwohl seine Behauptungen häufig mehr als fragwürdig sind. Es ist eine komfortable Position: Ohne Verantwortung kann Lauterbach wendig seine Positionen variieren, ohne dafür kritisiert zu werden. So wird er zum Beispiel nie gefragt, wie das gemeint war, als er im Juli 2019 zusammen mit der Bertelsmann Stiftung die Schließung von mehr als der Hälfte aller Krankenhäuser gefordert hatte. Dafür kann er jetzt punkten, indem er die finanzielle Besserstellung der in der Krankenpflege Beschäftigten fordert, deren Jobs er zuvor streichen wollte.

Spahn indes findet kaum noch statt. Da er nicht Liebling der auf SPD und Grüne fixierten Talkshow-Redaktionen ist, die ihm bei der Bewerbung um eine Rolle an der CDU-Spitze keine Unterstützung gewähren wollen, bleibt ihm nur die Bühne des Bundestages; und die erscheint heute zweitrangig. Wenn es für Kritik Gründe gibt, dann hat sie jetzt die „Interessengemeinschaft Medizin“ (gewöhnungsbedürftig abgekürzt mit „IG Med“) in einer siebenseitigen Anfrage an den Chef des Kanzleramtes, Helge Braun, sachlich und chirurgisch messerscharf geliefert. IG Med versteht sich als „Gewerkschaft“ niedergelassener Mediziner – Gewerkschaft insoweit, als sie sich am Zusammenschluss freier „Gewerke“ im mittelalterlichen Bergbau orientiert. IG Medizin versteht sich als Kritiker der Gesundheitspolitik und ihrer Zwangsverbände wie den Kassenärztlichen Vereinigungen; liegt notorisch mit Jens Spahn über Kreuz.

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Nicht alles, was in diesem Schreiben an Versäumnissen und Fehlern des Gesundheitsministeriums und des Gesundheitsministers festgehalten wird, ist neu oder kann an seiner Person festgemacht werden; viele Versäumnisse resultieren von seinen Vorgängern. Hier bei TE haben wir immer wieder auf Defizite hingewiesen: zum Beispiel zur Verfügbarkeit von Desinfektionsmitteln (siehe hier und hier), zur Lage in Krankenhäusern und Arztpraxen und zu dem in Vergessenheit geratenen Plan des Bundestages aus dem Jahr 2012 für den Umgang mit einer Pandemie.

Aber in der geballten Ladung ist die siebenseitige Analyse der „IG Med“ ein vernichtendes Urteil über den Gesundheitsminister und sein Ministerium, zudem über die hier offenbar nicht wahrgenommene Richtlinienkompetenz der Kanzlerin.

Wir zitieren wichtige Passagen des Briefes in direkter oder indirekter Rede:

„Nach unserem Eindruck war die Handhabung der „Corona-Krise“ 2019/2020 durch das Bundesgesundheitsministerium nicht nur bereits in der Vorvergangenheit, sondern in ihrer konkreten Entstehungsphase, in der Alarm- und in der Risikophase vorwerfbar unzulänglich. In der Zeit seiner Amtsverantwortung treffen diese Vorwürfe augenscheinlich … insbesondere auch Herrn Minister Jens Spahn persönlich.“
Nach dem weltweiten Ausbruch des Virus H5N1 im Jahre 1996 und einem Leitfaden der Weltgesundheitsorganisation (WHO; „Influenza Pandemic Plan“) sei auch in Deutschland im Jahre 2005 ein nationaler Pandemieplan erstellt worden. 2002/2003 sei es zu „kleineren“ Ausbrüchen wie die SARS-1-Pandemie mit weltweit insgesamt 1.000 Todesfällen, 2012 bis 2014 zur MERS-Pandemie mit ca. 500 Infizierten und 145 Todesfällen, sowie Ausbrüchen von Influenza A, wie der Vogelgrippe (H5N1), seit 2005 mit wiederkehrenden lokalen Ausbrüchen, der sog. Schweinegrippe (H1N1) 2009/2010, und einer Grippesaison 2017/2018 mit den höchsten Todesraten der letzten 30 Jahre gekommen. Von daher, so die IG Med, könne die Gefährdungslage durch erwartbare pandemische Entwicklungen einer Influenza- und/oder Corona-Virus-Infektion seit dem Sommer 2018 nicht unbekannt oder unbewusst gewesen sein.

„Verfehlt wurden die Anforderungen, die sich aus der weiteren ausführlichen Risiko-Analyse Bevölkerungsschutz Bund … „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ (Bundestagsdrucksache 17/12051 – E. von 2012) ergeben hatten …“

„Eine Ermittlung des Bedarfs an persönlicher Schutzausrüstung für Behördenmitarbeiter, für die ambulante Versorgung und für die Rettungsdienste oder gar eine entsprechend bedarfsgerechte Bevorratung dieser Schutzausrüstungen fanden seit Abschaffung der vorangegangenen Bevorratung mit Sanitätsmaterial für medizinische Notlagen in den 1990er Jahren … überhaupt nicht mehr statt. Sogar vorhandenes Material wurde bei Ablauf seines Verfallsdatums nicht ersetzt.“

„Im Jahr 2007 wurde eine weitere länderübergreifende Krisenmanagementübung „Lükex 2007“ durchgeführt. Ihr amtlicher Auswertebericht zeigte bereits erhebliche Defizite bei der Bedarfs- und Ressourcenermittlung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA) … Auch eine Arzneimittelreserve hätte eingerichtet werden können und müssen.“

„Auf Basis der Pandemie-Einschätzung der WHO und auf Grundlage auch der Äußerungen des Bundesgesundheitsministers ergeben sich nach allem weitere Hinweise auf eine deutlich fehlerhafte Risikoeinschätzung … mit daraus kausal resultierenden Verschleppungen der notwendigen Maßnahmen.“

„Am 23.02.2020 wurde der Karneval von Venedig vorzeitig beendet, während in Deutschland noch immer nur unzureichende Maßnahmen zur Eindämmung der seit nun mehr als drei Wochen bestehenden PHEIC stattfanden. (TE: PHEIC = Internationaler Gesundheitsnotstand, englisch: Public Health Emergency of International Concern). Es wurde weder über ein Verbot von Karnevalsgroßveranstaltungen, noch über eine Reisebeschränkung während der Fastnachtsferien nachgedacht.“

Schadensersatz wg. Corona-Einschränkungen
„Das wird eine juristische Schlacht“
„Aus alledem lässt sich vernünftigerweise einzig der Schluss ziehen, dass sowohl das die Bundesregierung beratende Robert-Koch-Institut als auch insbesondere das Bundesgesundheitsministerium selbst die Gefahrenpotentiale der Covid-19-Pandemie noch weit über den Zeitpunkt der PHEIC-Deklaration in nicht zu verantwortender Weise unterschätzt haben.“ Damit sei eine substantielle und massiv schadenauslösende Verzögerung notwendiger Maßnahmen verursacht worden.
„Das Robert-Koch-Institut hatte erst mit großer zeitlicher Verzögerung die Anpassung des Risiko-Niveaus vorgenommen. Bis zum 25.02.2020 schätzte man das Risiko der Pandemie als mäßig ein. Diese Einschätzung wurde erst zum 30. März 2020 auf „hoch“ korrigiert (d.h. drei Wochen nach Ausrufung der Pandemie durch die WHO).“

„Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Bundesgesundheitsministerium … sowie der Bundesgesundheitsminister selbst es versäumt haben, sich auf die drohende und derzeit stattfindende Pandemie adäquat vorzubereiten … Daraus resultierten vermeidbare und vorwerfbare Versäumnisse, die zu einer Gefährdung des medizinischen Personals, der Aufrechterhaltung der Organisationsstrukturen im Gesundheitswesen und damit auch der betroffenen Patienten und indirekt auch der gesamten Bevölkerung beigetragen haben.“

LÜKEX 2007 – Was war das, warum hatte diese Übung keine Folgen?

LÜKEX heißt „länderübergreifende Krisenmanagementübung“. Aktuell findet man den dazu ursprünglich als Verschlusssache deklarierten und vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) erstellten 53-seitigen Auswertungsbericht aus dem Jahr 2009 – jetzt versehen mit dem Datum 31.03.2020 (wurde da etwas geschönt?) – als Kurzfassung hier.

Wachsender Protest
Die neue Wut der Bürger auf der Straße
Bei LÜKEX 2007 ging es – so amtlich – um eine „Länder- und Ressortübergreifende Stabsrahmenübung auf strategischer Ebene (keine operativ-taktische Übung) unter Einbeziehung der politischen Entscheidungsträger … Übungsannahme war eine Influenza-Pandemie, in der ein mittelschweres Pandemieszenario gewählt wurde.“ Konkret hatten Bund und Länder im November 2007 den Ausbruch einer Supergrippe mit 27 Millionen Erkrankten und mehr als 100.000 Toten simuliert.

Interessant, aber rasch in Vergessenheit geraten, sind die Defizitanalysen des Berichts: Dort ist von „Schwachstellen“, „Defiziten“ und „Missverständnissen“ die Rede. Demnach waren die Krisenstäbe zum Teil nicht in der Lage, „vorausschauende strategische Entscheidungen“ zu fällen. Bedrohliche Szenarien wurden „zum Teil unterschätzt“. Der Bericht moniere, es habe an „Instrumenten und Daten“ gefehlt, um den Bedarf an Antibiotika oder antiviraler Arznei realistisch einzuschätzen. Bund und Länder sprachen sich zudem nur unzureichend ab, etwa in der Frage, ob Schulen geschlossen werden müssen. Quelle: hier.

Nun gut, man kann all die Versäumnisse nicht Jens Spahn (CDU, Minister ab März 2018) in die Schuhe schieben. Seine Vorgänger seien deshalb in der in Frage kommenden Zeit wenigstens genannt: Horst Seehofer (CSU, 1992 – 1998), Andrea Fischer (SPD, 1998 – 2001), Ulla Schmidt (SPD, 2001 – 2009), Philipp Rösler (FDP, 2009 – 2011), Daniel Bahr (2011 – 2013), Hermann Gröhe (CDU, 2013 – 2018).

Aber irgendjemand inkl. Regierungschefin muss jetzt endlich mal die politische Verantwortung übernehmen.

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Kommentare ( 34 )

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Dr. Kari Koester-Loesche
4 Jahre her

Das Lesen lohnt nicht. Schönfelder, eine Heilpraktikerin, die sich als Aktivistin betätigt, alles besser weiß als gestandene Fachleute wie Virologen, Epidemiologen etc, und darüberhinaus alle Andersdenkenden überheblich und verächtlich abkanzelt. Im Grunde eine Person, die man bei fortwährenden Unverschämtheiten aus Gründen der Etikette aus jeglicher Diskussion ausschließen sollte.

Odysseus JMB
4 Jahre her

Die Akteure im Gesundheitswesen wollen es nicht hinnehmen, als Kollateralschäden des Gesundheitsministeriums verwaltet zu werden. Wen wundert es bei den bisherigen Winkelzügen des Ministers, dass sich die Gemeinde sich entsprechend organisiert?
https://www.change.org/p/angela-merkel-cdu-r%C3%BCcktritt-von-jens-spahn

Gabriele Kremmel
4 Jahre her

Spahn hat ja schon mal vorgebaut und uns mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass „wir viel verzeihen werden müssen“.

So schaut politische Verantwortung heute aus. Früher musste man zurücktreten. Heute kündigt man an, dass verziehen werden muss.

Peter Gramm
4 Jahre her

Was soll’s, der Posten vom Spahn ist doch nur eine Warteposition für eine weitere Karriere in der Versicherungswirtschaft wie bei einem seiner Vorgänger (Daniel Bahr) jetzt bei der APKV.

Marco Mahlmann
4 Jahre her

Wie sich die Dinge in den Zahlen darstellen, war die ursprüngliche Einschätzung der Bundesregierung zutreffend; von Corona geht nur ein mäßiges Risiko aus. Falsch waren hingegen das einseitige Vertrauen auf Drosten und Wieler, anstatt eine breitgefächerte Expertenschar anzuhören, und das lemminghafte Mitmachen. Dieses verantwortungsscheue Verhalten hat erst die Probleme gebracht. Merkel wollte wieder einmal nichts riskieren und ist deshalb dem Schwarm gefolgt; alle anderen machen den Lockdown, also muß Deutschland als Musterknabe erst recht alles schließen. Spahn wollte als Gesundheitsminister eine ruhige Kugel schieben, bis Merkel eines Tages abtritt, um sich dann als regierungsamtlich erfahrener Nachfolger in’s Spiel zu bringen.… Mehr

schwarzseher
4 Jahre her

“ Aber irgendjemand incl. Regierungschefin muß jetzt endlich einmal die politische Verantwortung übernehmen. “ Sehr geehrter Herr Kraus. Ich schätze Sie und Ihre Artikel. Aber als ich das las, mußte ich laut lachen, auch wenn diese Forderung natürlich richtig und eigentlich todernst ist. Aber die Zeiten, in denen Politiker Charakter und eine wirkliche Überzeugung besaßen und bei Fehlverhalten sich öffentlich entschuldigten und zurücktraten sind lange vorbei. In verantwortlichen Positionen sehe fast nur noch opportunistische, gewissen- und manchmal auh skrupellose Postenjäger. Wenn Frau Merkel zum Beispiel beginnt: “ Ich bin zu tieftst davon überzeugt, daß … “ hat sie schon gelogen,… Mehr

Lizzard04
4 Jahre her

Politische Verantwortung für Fehler und Versäumnisse in der eigenen Arbeit wurden in der Merkelära komplett abgeschafft. Ist ja auch nicht nötig, solange sich das dumme Wahlvolk alles bieten lässt, nichts hinterfragt und die gleichen Versager wieder wählt!

Maria Jolantos
4 Jahre her

Merkel hat seit 2005 die Richtlinienkompetenz und war vorher für 3 Jahre Oppositionsführerin. Das heißt sämtliches Versagen, das Ignorieren der Pandemiepläne von 2005, das Ignorieren der Bundesdrucksache im Jahr 2012 und die verpennte Reaktion gefolgt von der Überreaktion 2019/2012 fallen ganz konkret und direkt in ihre Verantwortung und zwar nicht nur die politische, genauso wie die unnötigen Toten in den Pflegeheimen und die jetzige Rezession.

AngelinaClooney
4 Jahre her

Niemand wird die politische Verantwortung übernehmen! Sie werden damit durchkommen und es wird sich schon ein adäquater Schuldiger finden. Wetten?

Kassandra
4 Jahre her
Antworten an  AngelinaClooney

Das Allerschlimmste wird sein, dass sie diese Anregungen der gescheiten Vorlage auch nicht nutzen werden, um auf die nächsten Krisensituationen besser vorbereitet zu sein…

Das scheint aber, wenn man sich die Gesamtsituation betrachtet, auch nicht gewollt.

Jack Black
4 Jahre her

Natürlich kann man Jens Spahn das „in die Schuhe schieben“, denn er hat die Versäumnisse seiner Vorgänger nicht aufgearbeitet – nicht mal ansatzweise. Jeder Nachfolger ist für die Versäumnisse seiner Vorgänger mit verantwortlich, wenn er sie nicht abstellt. Leider waren in den letzten Jahrzehnten tatsächlich nur Non-Performer im Gesundheitsministerium am Werk – quer durch die Parteienlandschaft. mit Philip Rösler war sogar ein Fachmann Gesundheitsminister – Rösler ist ausgebildeter Arzt. Trotzdem hat er nichts besser gemacht als seine Vorgänger. Allesamt waren sie offenbar der Meinung, man könne sich in dieser Position ausruhen und zurück lehnen.

HWM
4 Jahre her
Antworten an  Jack Black

Kleine Ergänzung , verehrter JACK BLACK :
Rösler sei “ ausgebildeter Arzt .. „?? Rösler ist
approbierter Arzt,hat jedoch darüber hinaus KEINE
spezielle Ausbildung!! Die Facharztausbildung der
Augenheilkunde hat er abgebrochen.
Er hat sich allerdings schon sehr früh auf FDP –
Tickett die warme Versorgung an den Fleischtöpfen
gesichert.Man muß ernüchtert feststellen , das viele Mediziner
in politischen Positionen dem Berufsstand und dem Allgemein-und
Gesundheitswesen schwer geschadet haben : Rösler , Lauterbach,
von der Leyen , Braun , Montgomery (SPD)

reiner
4 Jahre her
Antworten an  HWM

von einem abbruch ist mir nichts bekannt. er hat nach dem 3 staatsexamen als truppenarzt gearbeitet..