Mit Norbert Blüm ist ein Politiker gestorben, der ein Politikmodell lebte, das es nicht mehr gibt. Streitlustig, aber auch versöhnungsbereit, sozial, aber am Erfolg interessiert, den Menschen zugewandt.
Heute ist Bonner Republik ein Schimpfwort. So eine kleine Hauptstadt, ganz ohne das steinerne Gesicht deutscher gegenwärtiger und vergangener Großmannssucht. Ein Kanzleramt, das ein Zuckermillionär als Zuckerbäckervilla der Geliebten gebaut haben soll; nach der Erneuerung wie ein Sparkassenbau, der längst zum Abriss vorgesehen ist.
Eine Hauptstadt, die weltoffen war, weil Selbstbezüglichkeit schon an der Enge gescheitert wäre. Eine Hauptstadt, die den Wohlstand ermöglicht und verteidigt, aber auch verteilt hat.
Für Letzteres stand Norbert Blüm in der Arbeitsteilung. Er begann als Werkzeugmacher, das ist ein ordentlicher Beruf, der weit mehr Verstand mit sich bringt, als ein abgebrochenes Irgendwas-mit-Politik-Studium, wie es heute gang und gäbe ist.
Norbert Blüm war Katholik, aber nicht von der nehmenden Sorte, sondern von der gebenden: „Fringsen“ lautet im Rheinischen ein Lehnverb, benannt nach dem legendären Kriegs-Kardinal Frings, der das Klauen von Kohlestücken nicht als tiefe Sünde verurteilt hat, sondern als notwendiges Überlebensübel; als lässliche Sünde, wenn überhaupt.
So einer war Blüm, er hat für seine kleinen Leute, von denen er einer war, die Politik und die Unternehmen gefringst mit sehr großen Kohlestücken. Die Pflegeversicherung ist ein Werk von ihm. Tragisch für ihn war, dass er als Sozialminister unter Helmut Kohl den Sozialstaat abfeilen musste, nachdem der in der Ära Brandt/Schmidt buchstäblich überdehnt worden war. Blüm war mit Einsammeln beschäftigt, nicht mit Austeilen, was ihm mehr gelegen hätte.
Norbert Blüm war immer für ein Versöhnungspils zu haben, gratulierte damit seinem Gegenspieler Rudolf Dressler von der SPD bei Ossi in der einzigen Kneipe, die im Regierungsviertel gangbar war, sieht man mal von der späteren Provinz ab, in der sich eher das rote und später rotgrüne Abgeordnetenvolk, seine Büchsenspanner und Applaudeure trafen. Blüm teilte aus und steckte ein. Er machte die Moden nicht mit, die sozialistischen und auch die neoliberalen nicht, die später en vogue waren.
Blüm konnte seltsam sein; wie Heiner Geißler erlaubte er sich im Alter die Abweichung von der Parteilinie, übernachtete demonstrativ im Flüchtlingszelt. Ganz konnte er es nicht verknusen, dass die Kameras nicht mehr klickten nach seiner großen Zeit als Sozialminister; er gehörte dem Deutschen Bundestag von 1972 bis 1981 sowie von 1983 bis 2002 an. Von 1982 bis 1998 war Blüm Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Eine lange Strecke hat er geprägt, behutsam reformiert, nie weggeworfen. Er hat große Fehler gemacht; „Die Rente ist sicher“, hat er plakatiert und dabei das Kleingedruckte nicht gezeigt: Dass sie eben die Erwartungen nicht mehr würde erfüllten können, sondern zur Grundversorgung verkommen musste. Die Finanzierung der Renten der früheren DDR aus Beiträgen statt Steuermitteln war ein Kompromiss, den er geschluckt hat. Aber in der Sozialpolitik ist Größe die Schwester der Fehlerhaftigkeit.
Mit Norbert Blüm zu streiten war immer ein intellektueller Genuss. Die Spaltung der Welt in Gut und Böse hat er abgelehnt; schon, weil er als Katholik Bescheid wusste über die Grautöne und Schwächen der Menschen, die nicht änderbar sind; wir haben halt keine anderen (Adenauer). Die Spaltung des Landes wie wir sie erleben, hat er abgelehnt, auch wenn er inhaltlich in manchen Punkten eher auf der Seite der Spalter stand. Das war eben die Bonner Republik. Mit dem Kölsch oder Pils im Halbdunkel hat man es wieder eingerenkt; die Verlierer waren nicht die Sieger und umgekehrt.
Blüm kämpfte bis zuletzt um Bonn als Sitz der Bundesregierung, blieb in der Stadt wohnen, die so ist wie er war: Klein, listig, und in der Hitze des Sommers kompromissbereit, weil der ganz große Krach mehr zerstört als rettet. So regiert man keine Großmacht, auch keine moralische.
Mit Norbert Blüm ist ein großer Repräsentant einer glücklichen Zeit gegangen.
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„Heute ist Bonner Republik ein Schimpfwort“
Ist das so, Herr Tichy? Eine leichtfertige Feststellung, die aus der Angst nicht zeitgemäß genug zu denken zu resultieren scheint. Auch wenn es hier nur zur Ein- und Überleitung dient, ist es zum einen falsch und zum anderen unpassend. Heute mehr denn je.
Herr Tichy, herzlichen Dank für den würdigen Nachruf.
De mortuis nil nisi bene.
Ja… und das Ende is sischä!
Ich kann mich heute dem Kommentar Herrn Tichys nur teilweise, phasenweise anschliessen. Herrn Tichy, dem ich an dieser Stelle danke, daß er weiter journalistisch gut arbeitet. Immerhin, Blüm hat immer fast mit Gewalt seine Gorderungen durchgesetzt. Dadurch kam wieder Geld in die Kassen. Das habe im Wesentlichen die nicht internationalen Betriebe beigesteuert. Das hat Blüm nicht verstanden, also konnten deutschlandfremde deutsche Firmen immer stärker werden. Er war einer derer, der daran in der Initialphase daran beteiligt war, die CDU zu demontieren. Ich glaube allerdings, daß ihm das nicht bewußt war, wie viele seiner späteren fatalen Entscheidungen und Forderungen. Fast grotesk.… Mehr
Herr Blüm hat das Wesen der Politik zutiefst verstanden …. Deshalb wurde er ja zum Komiker , zum lustigen Darsteller des Nichts …. Was hat er denn zustande gebracht , was irgendeinen dauerhaften Wert hat ? Ich sehe nur ein grauenhaftes Rumgemurkse , oder wie die “ Fachleute “ sagen , er tummelte sich im Bereich des “ Möglichen “ . Auch so eine Metapher für Sinnlosigkeit ! Dass er sich trotzdem irgendwie positiv vom Gros der momentanen herumstolpernden Politikern abhebt , zeigt nur , wie verrottet diejenigen inzwischen sind …. Habe ich jetzt gegen “ nihil nisi bene “… Mehr
Ich will nicht schlecht über Tode reden, kann aber auch nicht ins Horn der Lobhudelei einstoßen. Blüm erweckte immer den Eindruck, er wäre Politiker der kleinen Leute. Das machte Müntefering auch. Beide trugen ihre Arbeitereltern und Ausbildung wie ein Schild vor sich her, das sie per se zu Rettern der kleinen Leute stilisierte. Münte erhöhte das Renteneintrittsalter und führte das Absenken des Rentenniveaus ein. Blüm führte die Pflegeversicherung ein und auch dass die Beiträge zur gPV von Rentnern ohne sogenannten AG Anteil zu zahlen sind. Als dann die Kosten explodierten, große öffentliche Empörung über eine Tatsache, die durchaus bekannt und… Mehr
Blüm war m.E. ein Kumpel-Typ. Werkzeugmacher und Philosoph. Vielleicht sogar zu ehrlich für die Politik. Seine Gutherzigkeit führte auch dazu, dass Kohl in die Rentenkasse greifen konnte um Volksdeutsche aus Rußland und Rumänien auszulösen und deren Anfang hier zu finanzieren. Wenn ich mir anschaue, für wen und für was dagegen heute viele Milliarden verprasst werden, wird mir übel. . „Heute ist Bonner Republik ein Schimpfwort.“ Wie kommen Sie darauf, werter Herr Tichy? Bonn war uns nie ein Schimpfwort. Bonn insinuierte stets Sicherheit. Und wo ist die hin seit Berlin? Ein ungutes Gefühl kam eher auf, wenn verkürzt von „Pankow“ die… Mehr
Bei jedem Politiker gibt es Licht und Schatten. Blüm war sicherlich das soziale Gewissen der CDU und ohne ihn würde es heute an manchen Stellen anders aussehen. Sein größter Fehler und damit der Fehler der Wiedervereinigung war die Deckung der Ost-Renten über die Rentenversicherung. Der Richtige wäre gewesen, das über Steuermittel abzudecken und damit die Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung zu erhalten. So steigt heute von Jahr zu Jahr der Steuerzuschuss zuR Rentenversicherung bei allgemein sinkendem Niveau. Die Renten sind sicher, relativiert sich so ins Nichts und wird in einer Vollversorgung sozialistischen Musters enden. Das Bild der 80er Jahre der ausgehenden Bonner… Mehr
es steigen Jahr für Jahr die versicherungsfremden, gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, die einzig aus der gesetzlichen Rentenkasse finanziert werden.
„Zudem wurde der Bundeszuschuss in den Jahren 2013 bis 2016 um zusammen 4 Milliarden EUR gekürzt. Diese Kürzung wurde allerdings bereits 2017 wieder beendet (…) Wie jüngste Berechnungen unseres Hauses zeigen, kommt der Bund allerdings nach wie vor seiner Finanzierungsverantwortung für die nicht beitragsgedeckten Leistungen nicht in vollem Umfang nach. Aktuell sprechen wir von einer Unterdeckung in einer Größenordnung von gut 30 Milliarden EUR. “
https://deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/Downloads/DE/Presse/reden/rede_buntenbach.pdf;jsessionid=5662486B1AC1C4D0D4279C6A1DD584C7.delivery1-8-replication?__blob=publicationFile&v=2
Also bitte, die Deutschen Rentenversicherung „quatscht“ über eine angebliche Unterdeckung von 30 Milliarden. Sie wissen aber schon, dass in 2019 der Bundeszuschuss (selbstverständlich aus Steuermittel, woher auch sonst) zur Rentenversicherung nahezu 100 Milliarden war, was ca. 1/3 der „Einnahmen“ der Deutschen Rentenversicherung ausmacht. 2020 und in den Folgejahren (mit der jetzigen Krise dann wohl noch steigend) wird die 100 Milliarden Marke überschritten werden. Da es sich eh um ein Umlagesystem ohne größere Rücklagen handelt, ist das Ganze sowieso schon massiv steuersubventioniert. Die Deutsche Rentenversicherung ist im Grund eine staatliche Institution und somit ist dieses Thema in meinen Augen eine klassische… Mehr
Bei großen Zahlen setzt der Verstand aus.
Was sind 30 Mrd Euro im Verhältnis zu 83 Mio Menschen? 360 Euro.
Vermutlich pro Jahr. Also geht es um einen Euro pro Tag und Kopf.
„linke Tasche rechte Tasche“-Diskussion, sagen Sie. Passt!
Hätte man auf ihn gehört, wäre die Rente tatsächlich sicherer. Auf einem CDU Parteitag hatte er eine Rede über den Unsinn der Riesterrente und die Folgen für die Rentenversicherung gehalten. Keiner der Delegierten hat sich getraut, ihm zu applaudieren. Obwohl er wusste, was ihn erwartet, hatte er sich getraut, seine Meinung zu sagen. Und er hatte Recht. Verantwortlich für die Schwächung der Rentenversicherung war nicht in erstern Linie Norbert Blüm. Blüm war sicher kein Held, aber ein guter und mutiger Minister und eine ehrliche Haut.
Ich war mal bei einem politischen Abend mit Norbert Blüm in Biedenkopf, da wo der verstorbene hessische Finanzminister her war. Ein politischer Abend mit Blüm war zur Hälfte eine Karnevalsveranstaltung.
Im Laufe des Abends kam ein Gast aus dem Thekenbereich in den Saal – der hatte auch schon einiges mit ein paar Pils geklärt – und rief: “ Könne mer ned een Europa der Vaterländer mache ? “
Der Angetrunkene hat Recht behalten.
Werter @ Gerhart, nun erklären Sie zumindest mir, inwieweit der Angetrunkene recht behalten hatte? Schön wäre es gewesen, wenn er recht behalten hätte. Oder wie würden Sie die jetzt getroffenen Entscheidungen bewerten?