Genug! Warum mir meine „Eltern“ auf den Zeiger gehen.

Der Zustand der wissentlich und willentlich zurück gefahrenen Gesundheitssysteme lässt sich an den unterschiedlichen Todesraten ablesen. Die Menschen sterben nicht unbedingt am Coronavirus, sondern mit dem Coronavirus.

Zum Virus fällt mir heute wieder nichts ein. Allzu vielen Leuten, so gut wie allen Politikern und Journalisten, fällt dagegen nur noch zum Virus etwas ein. Darin liegt der eigentliche Kern der Katastrophe.

I.

Die Menschheit ist nicht dazu geschaffen, Epidemien zu bekämpfen. Jeder Mensch hat zwischen Geborenwerden und Abtreten noch ein paar andere Bedürfnisse zu befriedigen. Leben besteht nicht nur darin, Ansteckungsgefahren zu entgehen. Nichts anderes aber bewegt derzeit das kollektive Bewusstsein. Das ist etwas aus der Balance geraten.

II.

Weil das so ist, möchte ich nicht von ein paar amtlich bestellten Chefvirologen und ihrer extrem begrenzten Perspektive behindert werden. Virologen wissen einiges über das Virus. Aber über Politik, Wirtschaft, Kultur, über menschliche Bedürfnisse, über den Sinn des Lebens wissen sie nicht mehr als alle anderen.

III.

Wir befänden uns noch in der Ruhe vor dem Sturm, tönt Jens Spahn. Es sei noch zu früh, über eine Lockerung der Maßnahmen zu sprechen, befindet die Kanzlerin. Falsch. Ganz falsch. Nicht das Ende der Epidemie ist entscheidend, sondern das Ende der Belastbarkeit dieser Gesellschaft und das Ende der Belastbarkeit jedes Einzelnen. Es ist längst erreicht, wird nur noch nicht wahrgenommen, weil die meisten Belastungen erst noch auf uns zukommen.

IV.

Ein halbes Jahr müssten die Freiheitsbeschränkungen durchgehalten werden, um das Gesundheitssystem nicht zu belasten, rechnen Gesundheitsökonomen. Bis dahin ist die Wirtschaft ruiniert. Bis dahin sind Millionen Existenzen vernichtet. Zieht man lebende Leichen vor? Sind Depressionen angenehmer als Lungenentzündungen? Zählen die Konsequenzen für die Volksgesundheit durch Bewegungsmangel und schlechte Ernährung weniger?

V.

Über die Folgen des panisch oktroyierten, demokratiefeindlichen und ordnungspolitisch irrsinnigen Aufplustern des Staats als Retter in der Not hat hier Roland Tichy das Nötige geschrieben. Die übergroße Mehrheit einer systematisch verängstigten Bevölkerung lässt sich nicht nur den Schneid, sondern gern auch die Freiheit abkaufen. Die Kollateralschäden des sogenannten Rettungspakets sind vermutlich größer als seine Nutzen. Die Kollateralschäden der Virusbekämpfung sind schon jetzt größer als die medizinischen Schäden durch das Virus.

VI.

Darf also die Frage der Belastbarkeit des Gesundheitssystems zum Maß aller Dinge werden? Bei einer der letzten großen Epidemien Ende der Sechziger Jahre, bei der Hongkong-Grippe, starben 30.000 Deutsche und eine Million Menschen weltweit. Niemand kam damals auf die Idee, das soziale und wirtschaftliche Leben in künstliches Koma zu versetzen. Es ist ethisch keineswegs entschieden, dass die unbedingte Rettung einer begrenzten Zahl von Menschenleben der verhältnismäßigere und damit auch moralisch gebotene, also alternativlose Weg ist. Wir haben auch diese notwendige Debatte tabuisiert. Deshalb stellt sich nicht nur die Frage nach der Belastbarkeit des Gesundheitssystems. Eine andere Frage lautet: Ist das, was  gerade geschieht, noch vernünftig oder schon dekadent?

VII.

Der Zustand der wissentlich und willentlich zurück gefahrenen Gesundheitssysteme lässt sich an den unterschiedlichen Todesraten ablesen. Die Menschen sterben nicht unbedingt am Coronavirus, sondern mit dem Coronavirus. Die Welt ist trotz des vorhandenen Wissens und aller Planspiele auf die Pandemie nicht eingestellt. Sie wäre vermeidbar gewesen. Das sollte die Lehre sein. Es ist die einzige Lehre, die wir überhaupt ziehen können.

VIII.

Jetzt quatschen immer mehr Politiker über Isolation von Risikogruppen. Ich will nicht in Schutzhaft. Beugehaft statt häuslicher Quarantäne wird in Menden im Sauerland bereits ernsthaft vorgeschlagen. Das Virus als großer Diktator. Dies ist die wahre Seuche – eine Seuche des Geistes.

IX.

Besonders auf den Nerv gehen die fröhlichen Untergangspropheten, die behaupten, nichts mehr werde sein wie zuvor. Wir lernen jetzt, psalmodieren sie, was es bedeute, unser irdisches Dasein im demütigen Einklang mit der Natur zu leben. Kein sinnloses Reisen mehr, keine große, weite Welt, kein Leben auf der Überholspur. Statt dessen Stille, Distanz, Selbstentmündigung, Berührungsangst, Grenzen und Barrieren, wohin man schaut, der Einsiedler der Großstadt als neues Rollenideal, Genuss durch Verzicht, Askese statt Ekstase. Dem Virus sei Dank. Wie beknackt ist das? Auf diese Weise säße die Menschheit noch auf den Bäumen. Früher übernahmen solches Jammergeschrei die Pfaffen. Heute nennen sie sich Zukunftsforscher.

X.

Mir fällt der grandiose Satz des Lyrikers Günter Eich über seine „Eltern“ ein. Er kann sie nicht ausstehen, denn immer wenn die Tür aufgeht, schaut einer von beiden herein: Vater Staat oder Mutter Natur. Jetzt stehen sie beide gleichzeitig in der Tür. Und man wird sie nicht los. Lasst wenigstens die Tür zu!

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Kommentare ( 196 )

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Schraubenberny
4 Jahre her

Mors certa, hora incerta-sicher ist der Tod,allein die Stunde ist ungewiß. Angeblich starben 2019 ca 20000-25000 Menschen allein in Duetschland an der Grippe. Damals war das noch nicht einmal eine richtige Meldung in den Nachrichten.Heute wird alles durch den Virus hochgepuscht, Die Wirtschaft kracht zusammen, die Währung ebenso. Nebenbei werden zig tausende Neubürger hier eingeschleußt. All das Politikversagen, der Wirtschaftsbankrott, Banken- und Vermögenspleiten,all das hat jetzt einen einzigen Schuldigen: das Virus.Etwas besseres konnte der gesamten westlichen Welt nicht passieren. Kein Politiker ,Konzernlenker, Banker ist mehr angreifbar: Ein dreifach Hoch auf das Virus,unser aller geliebter SÜNDENBOCK .

RMPetersen
4 Jahre her

„Lasst wenigstens die Tür zu!“

Na, das trifft doch die staatliche Forderung nach Quarantaine für Jedermann.

Ansonsten: Ich lese Herrn Herles, wie immer, mit Vergnügen. Manche Meinungen teile ich nicht. Das andauernde Vergleichen oder gar Gleichsetzen mit einer Grippe halte ich für falsch. Kling aber immer wieder knackig.

Buranus
4 Jahre her

Stört Sie lediglich das Wort Zwiespalt? Ersetzen Sie es doch gerne durch ein passenderes. Ich empfehle Ihnen als Lektüre den Vortrag von Max Weber aus dem Jahre 1919 zum Thema „Politik als Beruf“. Da geht es u. a. auch um Gesinnungsethik versus Verantwortungsethik.

Lizzard04
4 Jahre her

Die Herren, Herles, Tichy, Weger, Paetow… scheinen mir die letzten „Hinterbliebenen“ einer ehemals vernunftbegabten Spezies, genannt Journalisten, während der große Rest zum selbständigen Denken nicht mehr Willens oder in der Lage scheint! Weiter so!

Helmut Bachmann
4 Jahre her

Ich habe einen Tipp für alle, denen exponentielles Wachstum einfach nicht einleuchtet: schnell mal eine Patientenverfügung ausstellen, damit klar ist, dass ihr nicht intensivmedizinisch betreut werden wollt. Wäre das nicht was?

non sequitur
4 Jahre her

Ich muss gestehen, dass ich nicht mit jedem Artikel von Herrn Herles für TE uneigeschränkt d’accord gehen kann; bei diesem hier kann ich es aber.
Etwas irregeleitet hat mich nur bis zum Schlussatz der Titel.
Ja, an diese beiden, unser aller Eltern denkt man zunächst gar nicht.

Abendroete
4 Jahre her

Corona ist der Motor für die Umgestaltung in eine Diktatur.

oneofcommunity
4 Jahre her

Sehe ich genauso. Ebenso das jüngste weinerliche Klagelied eines Bäckereikettenbesitzers. Kaum gepostet ging der weinende Großbäcker viral und alle hatten Mitleid. Mein erster Gedanke: Warum heult der so peinlich rum? Bäckereien gehören zu den absoluten Ausnahmen und dürfen den Laden öffnen. Was ist mit der kleinen Modeboutique der alleinerziehenden Mutter? Der deutsche Unternehmer, ebenso der deutsche Arbeitnehmer und auch der deutsche Beamte greifen ab was geht und wo es geht. Die kleinste Unbill wird der Allgemeinheit aufgebürdet und angelastet nach dem Motto wer am lautesten schreit und klagt wird am ehesten gepampert. Wir sind eine Gesellschaft von unselbständigen, verweichlichten und… Mehr

oneofcommunity
4 Jahre her

Ein Genuss und Labsal für die verzweifelte Minderheit der noch nicht vom Wahn des „guten“ Zeitgeistes befallenen.
Herles`Kommentar lichtet kurz den Nebel, fegt den Mehltau einen Moment beiseite.
Hurra es gibt sie noch die gesunde, reale, nüchterne Weltsicht. Danke!

docroesner
4 Jahre her

Herr Herles, Sie haben jetzt zum ersten Mal den Begriff verwendet, der mir seit Tagen nicht nur auf der Zunge liegt, sondern bereits mehrfach von selbiger gerutscht ist: dekadent. Das ist es, was den Sachverhalt völlig trifft. Dekadenz und Verweichlichung. Ich kann es nur noch als dekadent beschreiben, wenn eine Population nicht mehr in der Lage ist, einige tausend Tote auszuhalten, ohne ALLE denkbaren und vor wenigen Jahren noch undenkbaren Hebel in Gang zu setzen, um dies einzudämmen – eingeschlossen Vernichtung ökonomischer Grundlagen, Zerstörung sozialer Bindungen, Abschaffung von Freiheitsrechten, für die tausende ihr Leben ließen, Neuverschuldung bis zum Anschlag (also… Mehr